Die gegenwärtige Rezession der türkischen Wirtschaft und die hohe Inflation scheint die letzte Episode des schulden-getriebenen Wachstumsmodells der AKP zu sein.
Die Hauptdynamiken des Aufstiegs und des Scheiterns der türkischen Wirtschaftspolitik unter der Regierung der AKP lassen sich in drei zeitliche Phasen unterscheiden: Erstens die so genannten "goldenen Jahre" zwischen 2002 und 2007, zweitens die Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die türkische Wirtschaft und drittens die gegenwärtige wirtschaftliche Rezession als vorläufig finale Episode der Strukturkrise in der Zeit nach 2013.
Die "goldenen Jahre" der AKP
Nach Ansicht vieler Wissenschaftler war die AKP in ihrer ersten Regierungsperiode zwischen 2002 und 2007 vor allem aufgrund ihrer Reformagenda wirtschaftlich erfolgreich. Basis dieser Reformagenda war auf wirtschaftlicher Seite ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) und auf politische Seite der beginnende Beitrittsprozess zur Europäischen Union.
Das Abkommen mit dem IWF lieferte den Rahmen für das wirtschaftliche Reformprogramm "Transition to Strong Economy" (TSE) . Damit sollte ein Ausweg aus der Krise gefunden werden, in der sich die Türkei 2001 befand. Maßgeblich verantwortlich für das TSE-Programm und seine Reformen war der frühere Vizepräsident der Weltbank, Kemal Derviş, der 2001 vom damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit zurück in die Türkei und zum Wirtschaftsminister berufen wurde.
Nach ihrem Wahlsieg und der Übernahme der Regierung im Jahr 2002 setzte die AKP die Umsetzung des gerade begonnenen TSE-Programms fort – dazu gehörte unter anderem die gesetzliche Festschreibung der Unabhängigkeit der Türkische Notenbank (CBRT) von der Regierung.
Die Beitrittsprozess zur Europäischen Union bildete die politische Grundlage der AKP-Reformagenda. Im Rahmen dieses Prozesses schränkte die Regierung nach und nach den politischen Einfluss des Militärs ein – eine der Forderungen der Europäischen Union. Dabei wurde die AKP-Regierung auch von liberalen und linksliberalen Kräften in der türkischen Politik unterstützt, die in der AKP eine neue Demokratisierungskraft sahen.
Die wirtschaftliche Reformagenda der AKP bestand schließlich aus drei Elementen:
Bekämpfung der Inflation und Einhaltung einer strikten Finanzdisziplin
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
Privatisierung staatlicher Unternehmen
Die Bekämpfung der Inflation gelang durch eine restriktive Geldpolitik. Zusammen mit fiskalpolitischen Sparmaßnahmen führte sie zu einem Rückgang der Inflation und der Staatsverschuldung. Gleichzeitig wurde eine neue Arbeitsmarktpolitik umgesetzt: Einer der Kernpunkte des neuen Arbeitsgesetzes von 2003 war die Einführung von flexiblen Arbeitsbedingungen und Teilzeitarbeit sowie der Möglichkeit zur Vergabe von Aufträgen an Subunternehmen. Laut Angaben der OECD sank der Anteil von in Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Türkei von 29,1 Prozent in 2001 auf 6,3 Prozent in 2015 . Man kann daher von einer Entmachtung der Gewerkschaften durch die AKP in dieser Zeit sprechen.
Unsichere Arbeitsbedingungen und stagnierende Reallöhne waren daher zwei entscheidende Folgen der Arbeitsmarktreformen. Schließlich erreichte die AKP einen beispiellosen Erfolg in der Privatisierung. Die Privatisierungen zielten nicht nur darauf ab, die Staatsschulden durch den Verkauf staatlicher Unternehmen zu reduzieren, sondern auch darauf, die Macht von organisierten Arbeitnehmerstrukturen zu verringern, da staatlichen Unternehmen eine Hochburg gewerkschaftlicher Organisation waren. Zusammen führten diese Reformen zu einer starken Liberalisierung des Arbeitsmarktes in der Türkei.
Als Ergebnis dieser Reformpolitik und einer ausgesprochen günstigen Lage am internationalen Finanzmarkt stiegen die Kapitalzuflüsse in die Türkei – durch Direktinvestitionen in Unternehmen und durch den Ankauf von türkischen Staatsanleihen – zwischen 2002 und 2007 stark an und erreichten 2007 eine Höhe von 50 Mrd. US-Dollar (Abbildung 1). Die Kapitalzuflüsse führten nicht nur zu einer hohen Wachstumsrate und sinkenden Inflation, sondern halfen der AKP auch innenpolitisch ein stärkeres Bündnis gegen das alte kemalistische Establishment zu bilden. Zwischen 2002 und 2007 wurde insgesamt ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 7,4 Prozent erreicht (Abbildung 2).
Die Wachstumsrate des türkischen Bruttoinlandsprodukts 2002 – 2018
Die globale Finanzkrise im Jahr 2008 hatte unterschiedliche Auswirkungen auf die Türkei. Eine sofortige Auswirkung der Krise auf die Türkei äußerte sich im Zusammenbruch des internationalen Handels und des Kapitalverkehrs. Dies führte zu einem durchschnittlichen Wachstumsrückgang des BIP um 1,9 Prozent in den Jahren 2008 und 2009. In einer koordinierten Reaktion senkten die wichtigsten internationalen Notenbanken (US-Zentralbank Fed, die Europäische Zentralbank, die Bank von England und die Bank von Japan) die Zinssätze massiv, was zu einen enormen internationalen Kapitalfluss in die so genannten aufstrebenden Märkte ("emerging markets" sind u.a. China, Indien und die Türkei) führte. Im Gegensatz zu den Krisenjahren betrug das türkische Wirtschaftswachstum dadurch zwischen 2010 und 2013 durchschnittlich 8,2 Prozent (Abbildung 2). Mit der Ankündigung der US-Notenbank eine Normalisierung der Währungspolitik einzuleiten ebbten diese Kapitalströme in die aufstrebenden Märkte allerdings wieder ab. Das ebnete den Weg in die Krise des schuldengetriebenen Wachstumsmodells der AKP-Regierung.
Ab 2008 liberalisierte die türkische Politik die Aufnahme von Krediten in Fremdwährungen für Unternehmen, insbesondere für produzierende Unternehmen . Durch die Deregulierung sollte die türkische Wirtschaft von den internationalen günstigen Finanzkonditionen profitieren können. Die fatale Folge: Ein starker Anstieg des Schuldenniveaus in Fremdwährungen. Seitdem hat sich die Schuldenstruktur der Türkei dramatisch verändert (Abbildung 3). Das Schuldenniveau der türkischen Unternehmen hat sich nach der Krise 2009 verdoppelt, während die Staatsschulden auf einem niedrigen Niveau blieben. Während die Haushaltsverschuldung im Verhältnis zum BIP bis zur Krise 2001 bei fast Null lag, stieg sie ab 2002 von 1,8 Prozent des BIP auf 19,6 Prozent in 2013 um das Zehnfache an. (Abbildung 3)
Die Krise des schuldengetriebenen Wachstumsmodells
Auch das Programm des IWF von 2001 verhalf dem schuldengetriebenen Wachstumsmodell der AKP zum Aufstieg. Hauptziel des Stabilisierungsprogramms war es, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Denn normalerweise ist eine restriktive Geldpolitik politische Grundhaltung konservativer Notenbanken, da sie die Kontrolle der Inflation als Ziel haben. Jedoch setzten internationale wirtschaftliche Sonderkonditionen diese Notwendigkeit vorübergehend außer Kraft. Zwischen 2010 und 2013 profitierte die Türkei in großem Umfang von solchen günstigen internationalen Kreditkonditionen, da sie in diesem Zeitraum noch größere Kapitalzuflüsse erhielt als im Zeitraum zwischen 2002 und 2007 (Abbildung 1).
Kapitalzufluss und Wirtschaftswachstum in der Türkei 2002 – 2018
2013 kam dann der Wendepunkt, da die expansive Geldpolitik der Industrieländer, die zu enormen Kapitalzuflüssen in die aufstrebenden Märkte führte, endete. Seitdem sieht sich die AKP-Regierung einem ernsthaften Dilemma gegenüber: Eine Zinssenkung zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums wurde unmöglich, da man gleichzeitig die Abwertung der Türkischen Lira (TL) verhindern wollte. Der Rückwärtstrend der Kapitalzuflüsse ist dabei einer der Schlüsselfaktoren für die Krise des schuldengetriebenen Wachstumsmodells der Türkei (Abbildung 4). Während es der AKP-Regierung zwischen 2014 und 2016 gelang mit Hilfe der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank und einer staatlich gelenkten Kreditwachstumspolitik zwei wirtschaftliche Engpässe hinauszuschieben (Abbildung 5), endete der dritte Engpass im August 2018 in einer Rezession und einer vollständigen Währungskrise.
Der Übergang des parlamentarischen Systems in ein Präsidialsystem nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 führte zu einer großen politischen Unsicherheit, da er eine komplette Neustrukturierung der staatlichen Institutionen notwendig machte und eine Vielzahl an Entscheidungskompetenzen beim Präsidenten bündelte. Diese politische Unsicherheit ging einher mit den Spannungen zwischen der Türkei und den USA über den im August 2018 in der Türkei inhaftierten amerikanischen Staatsbürger, Pastor Andrew Brunson. In der Folge verlor die Türkische Lira zwischen Januar und August 2018 rund 40 Prozent ihres Wertes. In den Folgemonaten verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation zunehmend. Zwischen Januar und Oktober 2018 schoss die Inflation von 10,3 hoch auf 25,2 Prozent, während die Zinssätze für Verbraucherkredite von 18,5 auf 38,2 Prozent hochschnellten. Nach Angaben des Statistikinstituts der Türkei stieg die Arbeitslosenquote bis Februar 2019 rapide auf 14,7 Prozent.
Die AKP reagierte auf diese dramatischen Entwicklungen mit einer erneuten Kreditausweitung unter Führung der staatlichen Banken (die Ziraat Bankası, die Halkbank und die Vakıfbank), um eine wirtschaftliche Rezession zu verhindern, besonders im Hinblick auf die anstehenden Kommunalwahlen am 31. März 2019 (Abbildung 6). Jedoch verschlimmert die erneute Krediterweiterung die gegenwärtige Krise , weil ein erneuter Kreditzyklus nicht nur "das Leistungsbilanzdefizit und die Abhängigkeit der Türkei vom ausländischen Kapitalzufluss immens erhöht" , sondern auch die Schulden der Unternehmen ansteigen lässt.
Das schuldengetriebene Wachstumsmodell der AKP sorgte in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends für eine positive wirtschaftliche Entwicklung, da es von den günstigen Kreditkonditionen der internationalen Märkte profitierte. Das Modell funktionierte aufgrund der riesigen Kapitalzuflüsse zwischen 2010 und 2013 nach einer zweijährigen Rezession von 2008 und 2009 auch weiterhin. 2013 kam dann der Wendepunkt, nicht nur für das Wirtschaftsmodell der AKP, sondern auch für die türkische Demokratie, da sie seitdem in jeder Hinsicht des demokratischen Lebens einen Rückschlag erlitt. Eine wichtige Wegmarke des derzeitigen demokratischen Rückgangs in der Türkei ist zudem die Unterminierung der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerverbände durch Reformen für einen flexiblen Arbeitsmarkt in den so genannten "goldenen Jahren” der AKP. Die Zerschlagung der wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Macht der Gewerkschaften hat die Struktur des politischen Konflikts in der Türkei verändert. Da die organisierte Arbeitnehmerschaft nahezu verschwand, wurde der politische Kampf unter den herrschenden Eliten stärker, so auch der Kampf um Macht und Einfluss in den staatlichen Institutionen der Türkei.
Dieser Text wurde auf Englisch verfasst und ins Deutsche übersetzt.
Dr. Ümit Akcay promovierte zu Entwicklungsökonomie an der Istanbuler Marmara Universität. Seit 2018 lehrt er als Gastdozent an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Wirtschaft der Türkei. Aktuell arbeitet er an einem Forschungsprojekt zum Vergleich der politische Ökonomie der Finanzialisierung in Polen, Brasilien und in der Türkei. Informationen zu seinen Publikationen finden Sie unter: Externer Link: https://hwr-berlin.academia.edu/UmitAkcay
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