Präsident Recep Tayyip Erdoğan duldet keinen Widerspruch. Weder innerhalb seiner eigenen politischen Bewegung noch von der entmachteten Opposition. Dementsprechend bleiben der Türkei im Jahr 2017 nicht mehr viele Medien, die Kritik an der Regierung offen aussprechen.
Die zeichnerische Satire zeigt die Entwicklung der Türkei hin zum einem autokratischen System offener als jedes andere Medium in der Türkei. Den Zeichnern gelingt stilistisch meist eine Gratwanderung: eine verschlüsselte metaphorische Kritik, die aber dennoch von vielen verstanden wird. Für die Zensur sind ihre Nachrichten jedoch entweder zu subtil, oder die Machthaber hüten sich den frechen Bildern durch Strafverfolgung zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. In einer von der Regierung fast vollständig kontrollierten Medienlandschaft bilden die beiden auflagenstärksten Satirezeitschriften LeMan und Uykusuz daher eine Enklave der Unbeugsamen.
Das Amt von Ministerpräsident Binali Yıldırım wird bei der Einführung des Präsidialsystems 2019 wegrationalisiert werden. Bereits heute wirkt der Politiker als bestehe seine einzige Mission darin, Staatspräsident Erdoğan treu ergeben zu sein. Der Zeichner Sefer Selvi zeigt ihn daher mit einem seligen Lächeln: In Anzug und Krawatte schwimmt er auf hoher See. Erdoğan winkt Yıldırım von der Brücke des Dampfers doppeldeutig grinsend zu. Das Machtgefüge innerhalb der islamisch-konservativen Bewegung ist das Hauptthema dieses Titelbildes von LeMan. Es erschien vor dem Referendum im Frühjahr 2017.
Kein Tabu: Der Vergleich mit Diktatoren
Erdoğan mit Hitlerbärtchen darzustellen ist kein Tabu in der Türkei. Bereits Anfang Januar 2015, als die Debatten um das Präsidialsystem und entsprechende Verfassungsänderungen in der türkischen Nationalversammlung begannen, alarmierte der Zeichner Sefer Selvi gegen die drohende Allmacht des 2014 direkt vom Volk gewählten Präsidenten. Ganz im Rausche seiner Macht würdigte dieser Hitler-Deutschland ein paar Monate später ganz offen als Form eines effektiven "Präsidialsystems".
Der türkische Präsident scheut den Vergleich mit Diktatoren nicht, denn nach dem Wertegefüge in seiner politischen Bewegung soll er der alleinige Führer sein. Seine Anhänger nennen ihn seit der Niederschlagung des Putsches im Juli 2017 "Reis" (Führer). Tabuisiert sind hingegen vielmehr Tierdarstellungen des mächtigsten Mannes in der Türkei: Der Zeichner Musa Kart wurde schon 2005 für die Darstellung Erdoğans als Katze zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt, gewann aber später den Prozess vor dem Berufungsgericht.
Als dem Volksglauben zugeneigter Frommer empfindet der mächtigste Mann in der Türkei Tierdarstellungen als Herabwürdigung seiner Menschenwürde. Die Zeichner der Zeitschrift Penguen solidarisierten sich 2006 mit Musa Kart. Das Titelbild "Tayyipler Alemi" bezeichnet sowohl den "Tayyip-Zoo" als auch das "Universum des Tayyip". Die Zeichnung macht sich über das Niveau der Religiosität des Politikers lustig. Der Begriff "Alem" ist im philosophischen Diskurs der Kosmos, die Welt. Alem ist aber auch ganz simpel das Wort für Zoo.
Karikaturen spielen im politischen Kontext meist auf Schwächen an, vor allem auf die der Mächtigen. Nichts ist so komisch wie ein Kaiser ohne Kleider – zeigt es ihn doch mit all seinen menschlichen Makeln. Aber erst die Reaktion des Präsidenten auf Musa Karts Katzenzeichnung bereitete den Kontext für weiteren Hohn. Damit folgte Erdoğan einer Schwäche vieler Mächtigen die sowohl in der Türkei als auch in Europa einst der zeichnerischen Satire den Weg bereitete.
Von Nasen und Birnen
Die Entstehungsgeschichte des Genres Karikatur zeigt in Europa und der Türkei auffällige Parallelen. Der Franzose Charles Philipon zeichnete 1831 das edle Haupt von Louis-Philippe I., Herzog von Orléans, dem ersten "Bürgerkönig" von Frankreich, als Birne. Schlimmer noch, der Monarchenschädel reift in vier Zeichnungen zu Fallobst heran. Eine respektlose Anspielung auf die schwindende politische Bedeutung der Monarchie. Louis-Philippe hatte seinen Spitznamen weg: die Birne. Die Zeitschrift, die die Birne publizierte, hieß "La Caricature". Sie machte den Begriff populär, der seitdem für die Waffe der Lächerlichkeit gegen die Macht steht.
"Schluss mit Lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei"
Die zeichnerische Satire in der Türkei durchlebt dunkle Zeiten. Dabei hat sie in der Türkei eine lange und große Tradition (Satire in der Türkei: die Enklave der Unbeugsamen). Sabine Küper-Büsch hat in "Schluss mit Lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei" zeitgenössische Beispiele der künstlerischen Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft zusammengefasst.
"Schluss mit lustig. Aktuelle Satire aus der Türkei" ist 2017 im Avant Verlag erschienen.
"Schluss mit Lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei"
Anspielungen auf das wuchtige Riechorgan Abdülhamid II. galten als Majestätsbeleidigung. In dem Moment als die Nase neben den Begriffen Freiheit,
Unabhängigkeit und Brüderlichkeit auf dem Index der Zensur landete, verwandelte sie sich angesichts dieser Düfte des Neuen zum Symbol für den Mief
der Vergangenheit. Anonym. Die Nase. ZS Davul,1909.
Penguen von 2015: "Herzlich Willkommen im Palast", "So schlicht? Können wir nicht noch ein paar Journalisten schlachten?". Stein des Anstoßes bei
dieser Zeichnung war jedoch nicht die überdeutliche Anspielung auf die dramatische Situation des Pressefreiheit, sondern die Geste der Figur, die als
ein Zeichen für Homosexualität verstanden wurde.
Der Arm des Zeichners versinkt in seinem Pult wie in einem unheilvollen See gefährlicher Phantasien, die sein Verderben sein können. Bahadır
Baruter produzierte nach seiner Verurteilung eine ganze Reihe düsterer zeichnerischer Kommentare über die Unfreiheit von Cartoonisten und anderer
Intellektuellen im Land. Bahadır Baruter, 2016.
Zentrale Figuren genießen in der Türkei eine so große Popularität, dass die Zeichner sich einer großen Wirkung sicher sein können: Bekir wird
von Anti-Terror-Spezialeinheiten zuhause festgenommen. Die Darstellung reflektiert die Tatsache, dass Oppositionelle oft am frühen Morgen ganz
unvermittelt aus ihren Wohnungen geholt und verhaftet werden. Tuncay Akgün, Bezgin Bekir, LeMan, 2017.
Der Karikaturist Musa Kart wurde zusammen mit anderen Kollegen von der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet im Oktober 2016 zur Fahndung
ausgeschrieben und stellte sich. Den Journalisten von Cumhuriyet wird pauschal vorgeworfen, Propaganda für Terrororganisationen wie die PKK und die
Gülen-Bewegung betrieben zu haben. Cem Dinlenmiş: Musa Kart, Penguen, 2017.
Der im Juli 2017 verstorbene legendäre türkische Graphik Novel-Künstler Galip Tekin stellt in einer seiner letzten Geschichten die Satire
feinsinnig in den Mittelpunkt: Der türkische Präsident wird selbst zum verkannten genialen Geschichtenerzähler stilisiert. Moschee auf dem Mond,
Uykusuz, 2017.
Ersin Karabulut beschäftigt sich in Uykusuz häufig mit dem Thema des gesellschaftlichen Konformismus: In der Geschichte "Das zweite Gesicht" mutiert
ein Missstand zu einer allgemein anerkannten Tugend und wird schließlich zu einer gesellschaftlichen Norm. Ersin Karabulut, Uykususz, 2016.
"Schluss mit Lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei" ist 2017 im Avant Verlag erschienen.
Das Wesen der Karikatur ist die Verzerrung und der Kontext. Das ist auch die Basis für ihren politischen Zündstoff. Erst der Kontext schafft den Witz, dementsprechend tut der politisch Mächtige gut daran ihn nicht herzustellen und die Satire zu ignorieren. Die Wenigsten vermögen das. Die Geschichte der Karikatur ist eine der Bekämpfung des durch sie ausgelösten anarchistischen Lachens. Charles Philipon kam 1832 für ein halbes Jahr ins Gefängnis.
In Deutschland tauchten die ersten politischen Karikaturen im Vormärz auf: 1844 erschienen der "Münchner Bilderbogen" und die "Fliegenden Blätter". Albert Langen, der Herausgeber des Münchner "Simplicissimus", migrierte 1898 nach Frankreich, um der bayrischen Justiz zu entgehen. Fünf Jahre wurde die deutschsprachige Satirezeitschrift von Paris aus geleitet.
In den Zeiten der Einführung von Verfassungen in Europa wurden auch die Intellektuellen des Osmanischen Reiches vom Geist der Freiheit angesteckt. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert vereinte die Intellektuellen Europas und der Türkei das Lachen über die schwindende Macht der Herrschenden. Der nach einer politischen Reformphase dreiunddreißig Jahre lang autoritär herrschende Sultan Abdülhamid II. (1842-1918) ist bis heute in der Türkei ein Synonym für politische Restriktion. Ganz abgesehen von Kritik an seiner absolutistischen Herrschaft, empfand Abdülhamid II. Anspielungen auf sein wuchtiges Riechorgan als Majestätsbeleidigung. Dessen Beschaffenheit wäre sicherlich heute längst in Vergessenheit geraten. Doch in dem Moment als die Nase neben den Begriffen Freiheit, Unabhängigkeit und Brüderlichkeit auf dem Index der Zensur landete, verwandelte sie sich angesichts dieser Düfte des Neuen zum Symbol für den Mief der Vergangenheit.
Die osmanischen Karikaturisten standen mit unübertroffenen Variationen des Spottes auf den Herrscher an der Spitze der publizistischen Emanzipationsbewegung. Die Nase des Sultans wurde zu einem Symbol für die Schwäche des autoritären osmanischen Systems und die Zeichenfeder die wirksamste Waffe der osmanischen Opposition. Ihre Rolle bei dem Übergang von der Despotie zur 1923 gegründeten Republik blieb prägend. Das Genre blüht vor allem in Zeiten der Repression in der Türkei. In den Vierziger und Fünfziger Jahren rebellierte eine junge Generation von Zeichnern gegen das Einparteiensystem unter Ismet Inönü, einem Weggefährten Atatürks, der ebenfalls "Paşa" (General) der osmanischen Armee gewesen war und dem Staatsgründer nach dessen Tod im Präsidentenamt folgte. Die Zeitschrift Markopaşa wurde zum Sprachrohr der Opposition. Mitherausgeber Sabahattin Ali wurde 1948 Opfer eines Mordanschlages.
Nach dem Staatsstreich von 1971 blieben Vereine, Gewerkschaften und Parteien bis auf weiteres verboten, die Bürgerrechte, sowie die Organisations- und Pressefreiheit waren eingeschränkt. Die im August 1972 erstmals erscheinende Cartoon-Zeitschrift "Gırgır" erreichte auf Anhieb eine Auflage in Rekordhöhe.
Gırgır erlangte in kurzer Zeit den Ruf einer unabhängigen Satirezeitschrift, die Leser unterschiedlichster politischer Auffassungen unter einen Dach vereinte. Chefredakteur Oğuz Aral trug dazu mit der Erschaffung eines neuen Typus des Anti-Helden bei: Anders als der auf eine gebildete Schicht zugeschnittene feinsinnige Salonwitz, der Charaktere wie Turhan Selçuks Abdülcanbaz prägte, wurde "der dusselige Avni” zu einem der erfolgreichsten Comicstrips der Zeitschrift. Die Figur des rebellischen kleinen Jungen aus den Vorstädten löste Rührung aus und sprach eine breite Masse der politisch Entmachteten an.
Oğuz Aral band junge Zeichentalente aus dem ganzen Land an die Zeitschrift. Viele der heutigen Kultzeichner haben bei Gırgır angefangen und wurden von Oğuz Aral ermuntert, eigene Comicfiguren als lokale Helden zu erschaffen. Tunçay Akgün, heute Chefredakteur von LeMan, entwickelte bereits bei Gırgır die Figur des "mürrischen Bekir”, ein Spät-Achtundsechziger, der desillusioniert von der politischen Wirklichkeit am liebsten mit seinen Haustieren in einem Sessel in seinem bescheidenen Zuhause hockt und denkt. Nur wenn es gilt einem Unrecht entgegenzutreten, zieht es Bekir auf die Straße und er demonstriert friedlich für Humanität und Freiheit.
Gırgırs lokale Helden schafften ein attraktives Biotop für die Leser, indem sie allegorisch gesellschaftliche Missstände und Tabus thematisierten. Die feministische Zeichnerin Ramize Erer erhielt ihren ersten Arbeitsplatz bei Gırgır dank der Zeichnung eines Mädchens, das von der Mutter ermahnt wird, es solle nicht heimlich im Badezimmer rauchen. Es sitzt jedoch - in dem Bewusstsein einen viel größeren Tabubruch zu begehen - verschworen grinsend hinter verschlossener Tür und masturbiert. "Das böse Mädchen" ist bis heute eine Kultfigur der Comiclandschaft, es steht für die Forderung nach der Befreiung der Sexualität der Frauen. Ein Motiv mit dem sich breite Gesellschaftsschichten in der Türkei identifizieren können, denn die Kontrolle der weiblichen Sexualität stellt die größte schichtenübergreifende Gemeinsamkeit dar. Ramize Erer wurde noch in den neunziger Jahren aus der Redaktion der Hauspostille der kemalistischen Elite, der Tageszeitung Cumhuriyet, gemobbt, weil Leser sich von ihren Zeichnungen provoziert fühlten. Das erzählte sie auf einem Podium anlässlich der Ausstellung "Schluss mit lustig" im Juli 2017 in Kassel: "Die Kulturbeilage, für die ich damals zeichnete, wurde von einer Frau geführt, die mich mit den Worten hinauswarf, ‚das böse Mädchen hätte beizeiten lernen sollen die Beine zu schließen’." Ein Charakteristikum der Figur ist, dass sie gegenläufig der gesellschaftlichen Konvention, Frauen und Mädchen sollten ihre Beine beim Sitzen immer geschlossen halten, stets breitbeinig sitzt.
Schluss mit lustig? Kein Ende der Satire in Sicht!
Die Zeiten sind für Karikaturisten in der Türkei alles andere als rosig. Bahadır Baruter und Özer Aydoğan wurden im März 2015 zu elf Monaten Haft verurteilt. Sie hatten ein Titelbild gestaltet, auf dem Erdoğan sich über die schlichte Begrüßung bei seinem Einzug in den neu gebauten Präsidentenpalast beklagt. Jemand fragt ihn, ob vielleicht noch ein paar Journalisten geschlachtet werden sollen und bildet gleichzeitig mit Daumen und Mittelfinger einen Kreis. Das Gericht wertete nicht die Kritik an der Verfolgung von Journalisten, sondern die Handbewegung als ein Zeichen für Homosexualität als Präsidentenbeleidigung.
Die Haftstrafe für die Zeichner wurde in eine Geldstrafe auf Bewährung umgewandelt. Beiden droht im Falle einer Wiederholung ihrer Tat das Gefängnis. Bahadır Baruter produzierte nach seiner Verurteilung eine ganze Reihe düsterer zeichnerischer Kommentare über die Unfreiheit von Karikaturisten und anderer Intellektuellen im Land. Der Arm des Zeichners versinkt etwa in seinem Pult wie in einem unheilvollen See gefährlicher Phantasien, die sein Verderben sein können.
Zentrale Figuren genießen in der Türkei eine so große Popularität, dass die Zeichner sich in diesen Comicstrips einer großen Wirkung sicher sein können. In dieser Zeichnung lässt Tuncay Akgün Bekir im April 2017 von Anti-Terror-Spezialeinheiten zuhause festnehmen. Die Darstellung reflektiert die Tatsache, dass Oppositionelle oft am frühen Morgen ganz unvermittelt aus ihren Wohnungen geholt und verhaftet werden.
Bekirs Sessel wird schließlich von der Polizei versiegelt. Eine Metapher für die momentane Praxis, Oppositionelle mit fortlaufenden Ermittlungen und Prozessen mundtot zu machen, ihnen also keine eigenen Ausdruckmöglichkeiten zu lassen. So wie Bekir seinen Lehnstuhl braucht, ist für die Karikaturisten ihre Zeichenwelt essentiell, bringt der Zeichner Tuncay Akgün allegorisch zum Ausdruck. Der Zeichner Cem Dinlenmiş thematisiert in seiner bis April bei Penguen erschienenen Zeichenkolumne "her şey olur" (hier ist alles möglich) phantasievoll die düsteren Seiten der neuen Türkei. Der Karikaturist Musa Kart wurde im Rahmen der Verhaftungswelle gegenüber Mitarbeitern oppositioneller Medien mit anderen Kollegen von der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet im Oktober 2016 zur Fahndung ausgeschrieben und stellte sich. Erst am 19. Juli 2017 wurde er wieder aus der Untersuchungshaft entlassen. Doch er wird nach wie vor angeklagt. Den Journalisten von Cumhuriyet wird pauschal vorgeworfen, Propaganda für Terrororganisationen wie die PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê, Kurdische Arbeiterpartei) und "FETÖ" (Fethullahçı Terör Örgütü, Fethullahistische Terrororganisation) betrieben zu haben.
Nach der Schließung von Penguen aufgrund finanzieller Probleme im Mai 2017 führt Dinlenmiş die Kolumne bei Uykusuz fort. Alle Satirezeitschriften klagen über sinkende Verkaufszahlen. Leser informieren sich mittlerweile vor allem im Internet, außerdem werden Zulieferer und Kioskbesitzer zunehmend unter Druck gesetzt, die Satirezeitschriften nicht anzubieten.
Die Unbeugsamen
Trotz großer Repression gelingt es den Satirikern immer noch, die politischen Realitäten anschaulich bloßzustellen. Ähnlich wie die Nase des Sultans zu einer Allegorie für Machtmissbrauch wurde, schaffen die Zeichner in der Türkei momentan starke, allegorische Bilder und Geschichten, die ungebrochen die Forderung der Zivilgesellschaft nach mehr Mitbestimmung und Freiheit transportieren. Der fortschreitenden Unterdrückung der Opposition wird nach der repressiven Niederschlagung der Gezi Proteste 2013 subtil begegnet. Analyse, Selbstkritik und der Versuch der Entwicklung neuer Utopien haben eine Vielzahl faszinierender Stile und Arbeiten hervorgebracht. Die Serie "Harem" von Tuncay Akgün und Kemal Aratan etwa kolportiert die Tendenz der türkischen Regierung, die osmanische Vergangenheit zu verklären: Die überlegenen Haremsdamen machen sich darin unaufhörlich über den kleinen, impotenten Sultan mit den Stinkefüßen lustig.
Die starken Frauen repräsentieren die dem repressiven politischen System moralisch und emanzipatorisch längst haushoch überlegene Zivilgesellschaft in der Türkei. Der im Juli 2017 verstorbene legendäre türkische Graphik-Roman-Künstler Galip Tekin stellt die Satire feinsinnig in den Mittelpunkt einer seiner letzten Phantasiegeschichten. Dort wird die Mondlandung der Apollo 11 von 1969 in ein neues Narrativ eingebettet. Neil Armstrong und Edwin Aldrin entdecken danach ein Raumschiff mit verunglückten muslimischen Astronauten und vertuschen dies auf Anweisung der NASA und der CIA.
Der türkische Präsident wird in der Geschichte selbst zum verkannten genialen Geschichtenerzähler stilisiert, der diese Version von der Überlegenheit der Astronomie aus dem islamischen Kulturkreis im Traum sieht. Der ebenfalls bei Gırgır sozialisierte Zeichner Galip Tekin ermuntert die ihm nachfolgende Generation von Graphic Novel-Autoren augenzwinkernd, unerschrocken weiter zu produzieren.
Angesichts der kompletten staatlichen Kontrolle der Medienlandschaft sind die Karikaturisten nach wie vor die Avantgarde gesellschaftlicher Kritik. Die zentralen Zeitschriften LeMan und Uykusuz produzieren wöchentlich künstlerisch und inhaltlich progressive Satire und bilden damit eine Enklave der Freiheit und Anarchie innerhalb düsterer Zeiten.
Quelle der Abbildungen:
Sabine Küper-Büsch, Schluss mit lustig. Aktuelle Satire aus der Türkei. Avant Verlag, Berlin 2017.
Sabine Küper-Büsch & Nigar Rona, Die Nase des Sultans. Karikaturen aus der Türkei. Bilgi Universitesi Yayınları, Dağyeli-Verlag, Istanbul, Berlin, 2008.
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Sabine Küper-Büsch ist Kuratorin, Autorin und Filmemacherin und beschäftigt sich seit Jahren mit der türkischen Satire. Sie lebt und arbeitet in Istanbul. Im Rahmen der Ausstellung Externer Link: caricatura hat Sabine Küper-Büsch den Band "Schluss mit Lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei" herausgegeben.
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