"Hüter der Verfassung"?
Harte und „weiche“ Militärputsche in der Geschichte der Türkei
Dr. Cengiz Günay
/ 14 Minuten zu lesen
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Seit Gründung der Republik Türkei hatte das Militär auch immer eine politische Rolle. Es galt als Garant für Stabilität und die laizistische Ordnung des Landes - bis zum gescheiterten Putsch 2016.
Die türkische Armee wurde lange als Garant für die Souveränität, Stabilität und Stärke des Landes sowie als Säule des kemalistischen Modernisierungsansatzes und der säkularen Ordnung des türkischen Staates betrachtet. Bis in die jüngste Zeit galt sie bei vielen türkischen Bürgerinnen und Bürgern zudem als die vertrauenswürdigste und effizienteste der staatlichen Institutionen.
Das offizielle Geschichtsnarrativ verherrlicht militärische Siege, Heldentaten und den Interner Link: Staatsgründer Atatürk, der selbst aus dem Militär hervorgegangen war. Er machte die Armee zur Hüterin der Verfassung und seines Vermächtnis: der Modernisierung der Türkei durch Annäherung an den Westen.
"Die Armee ist die Führerin in den Anstrengungen zur Erreichung unserer nationalen Ideale. Die türkische Nation sieht die Armee als Wächterin ihrer Ideale."
1960 - Der erste Eingriff in das demokratische System
Auf dieses Vermächtnis sollten sich die Militärs nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahr 1946 mehrfach berufen. Das Selbstverständnis der Armeevertreter als wahre Vertreter der Interessen des Staates und als Hüter des Kemalismus stand zusehends im Gegensatz zur Tagespolitik und den politischen Diskursen der gewählten Volksvertreter.
Aus der ersten Parlamentswahl 1950, nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem, war die Interner Link: Demokratische Partei (DP) als Siegerin hervorgegangen. Sie stellte zwischen 1950 und 1960 ununterbrochen die Regierung. Die DP konnte erfolgreich die bis dahin vernachlässigte, gesellschaftlich meist konservative und religiöse Landbevölkerung mobilisieren. Dies erfolgte zum Teil durch religiös-konservative Symbole und Rhetorik, die Abschaffung einiger unpopulärer kemalistischer Reformen – wie der Einführung des Gebetsrufes in türkischer anstatt in arabischer Sprache - und die Nähe zu islamistischen Kreisen.
Im Laufe der 1950er-Jahre verlor die Regierung von Menderes allerdings an Zustimmung in der Bevölkerung und trat zunehmend autoritärer auf. Die Presse wurde zensiert. In der Folge kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen der Polizei und protestierenden Studenten. Neben der religiösen Ausrichtung der Regierung gelten diese Entwicklungen als Auslöser für den Putsch vom 27. Mai 1960.
Vor allem unter den jüngeren Offizieren und in den Militärakademien hatten sich in den letzten Monaten Kräfte gegen die Regierung Menderes formiert. Sie diskutierten, ohne Einbindung der Generäle, die sie als regierungsloyal sahen, eine Intervention. In den frühen Morgenstunden des 27. Mai war es soweit. Der Putsch nahm seinen Ausgang von den Militärakademien, bald schlossen sich auch übrige Einheiten den Putschisten an. Der Generalstab wurde von den Ereignissen ebenso überrumpelt wie die Regierung. Damit war die für die Armee wichtige Befehlskette von höherem zu niedrigerem Dienstgrad aufgehoben worden. Diese Erfahrung sollte die Politik des Generalstabs in den folgenden Jahren wesentlich prägen.
Das von den Putschisten gegründete "Komitee der Nationalen Einheit" berief sich in der über das Staatsradio verlesenen Erklärung darauf, dass die Demokratie unter der Regierung der DP in eine Krise geschlittert und die Intervention notwendig geworden sei, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Kundgebungen zur Unterstützung der Intervention aus der Bevölkerung verliehen dem Vorgehen der Putschisten zudem den Anschein von Legitimität.
Staatspräsident Celâl Bayar, Premierminister Adnan Menderes, Minister sowie Generalstabschef Rüştü Erdelhun und andere hochrangige Militärs und Beamte wurden verhaftet, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Während einige Verurteilte später begnadigt wurden, henkten die Militärs Adnan Menderes, Außenminister Fatin Rüştü Zorlu und Finanzminister Hasan Polatkan im September 1961 auf der Insel Yassıada vor Istanbul.
Da Menderes für viele konservative und religiöse Menschen als Identifikationsfigur galt, hinterließ seine Hinrichtung und die seiner Weggefährten ein tiefes Trauma in der neueren türkischen Geschichte. In den 1980er-Jahren wurde Menderes auch von staatlicher Seite rehabilitiert. Heute sind u.a. der Flughafen von Izmir sowie landesweit zahlreiche Plätze nach ihm benannt. Insbesondere rechte Parteien berufen sich auf sein Erbe.
Nach dem Putsch 1960 beauftragte das Komitee die Interner Link: Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die bereits 1961 per Referendum angenommen wurde. Diese Verfassung verfolgte das Ziel, die Macht von gewählten Regierungen einzuschränken und die Gewaltenteilung zu stärken. Mit der Gründung eines Verfassungsgerichtshofs und der Einführung des Senats als zweiter Parlamentskammer sollten auf institutioneller Ebene Kontrollinstanzen etabliert werden. Zudem sollten mehr Möglichkeiten für Interessensvereinigungen wie Gewerkschaften sowie die Garantie demokratischer Grundrechte durch die Verfassung auf gesellschaftlicher Ebene Machtkontrolle gewährleisten Gleichzeitig sicherte sich die Armee mit der Einführung des "Nationalen Sicherheitsrates" (Milli Güvenlik Kurulu) langfristig Einfluss auf die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Nationale Sicherheitsrat entwickelte sich vor allem in Zeiten von schwachen Regierungen zu einem zentralen politischen Organ, das durch Vertreter des Militärs dominiert war.
Der Putsch von 1960 zeigte, in welcher Funktion sich das türkische Militär selbst betrachtete: als eine den demokratisch legitimierten Institutionen und der Verfassung übergeordnete Instanz, die - wenn sie es als notwendig erachtete - korrigierend eingreift. Dennoch setze sich auch im Militär die Ansicht durch, dass die Armee nicht selbst politische Verantwortung übernehmen dürfe und nach einer "Intervention" daher ein rascher Übergang zum parlamentarischen System zu gewährleisten sei.
12. März 1971 - Die Armee stellt ein Ultimatum
Die neue Verfassung von 1961 führte trotz allem nicht zu der gewünschten politischen Stabilität. Die türkische Politik der 1960er-Jahre war durch eine wachsende politische Polarisierung zwischen "Links" und "Rechts" gekennzeichnet. Insbesondere in den rasant wachsenden Großstädten kam es immer wieder zu Zusammenstößen und Straßenkämpfen zwischen rechten Jugendorganisationen, wie den nationalistischen Grauen Wölfen (Bozkurtlar) oder den islamistischen Akincilar und linken Gruppierungen. Der 16. Februar 1969 ging wegen besonders blutiger Zusammenstöße zwischen linken und rechten Gruppen in Istanbul als "Blutiger Sonntag" in die türkische Geschichte ein.
In der Folge trat das Militär zum zweiten Mal in der Geschichte der Türkei politisch in Erscheinung. Innerhalb der Armee gab es Kreise, die durch einen Putsch ein Militärregime installieren und der politischen Polarisierung entgegensetzen wollten. Diese Pläne flogen aber auf und die führenden Beteiligten wurden entlassen oder in den Ruhestand geschickt. Um der Unruhe innerhalb des Offizierstabs etwas entgegenzusetzen, stellte der Generalstab der Regierung von Süleyman Demirel (Interner Link: AP) ein Ultimatum. Dieses wurde am 12. März 1971 um 13.00 Uhr über den Staatsfunk verlesen. Darin stellten die Generäle fest, dass die Regierung und das Parlament der wachsenden Anarchie im Land nichts entgegensetzen würden und deshalb für die Umsetzung notwendiger Reformen eine neue überparteiliche Regierung im Parlament gebildet werden solle, ansonsten müsse die Armee selbst erneut die Macht im Land ergreifen. Premierminister Demirel trat daraufhin zurück und das Militär beauftragte den CHP-Abgeordneten Nihat Erim eine überparteiliche Regierung zu bilden, die bis zu den Wahlen im November 1973 an der Macht blieb.
In der Türkei war bis 2017 der Ministerpräsident der politisch einflussreichste Amtsträger. Welche Personen auf diesem Posten haben die Türkei seit ihrer Republikwerdung 1923 geprägt?
İsmet İnönü (* 1884 † 1973), Militär- und Weggefährte Mustafa Kemal Atatürks, war von 1923 bis 1924 erster Ministerpräsident der Türkei. In
den Jahren 1925 bis 1937 sowie von 1961 bis 1965 übte er dieses Amt erneut aus. Zwischenzeitich war der CHP-Politiker, nach Atatürks Tod im Jahr
1938, auch Staatspräsident der Türkei. Er begann eine Demokratisierung des Landes und versuchte einen Ausgleich zwischen Laizismus und Islam.
Adnan Menderes (* 1899 † 1961, im Bild mit Bundeskanzler Konrad Adenauer 1958 in Bonn) war der erste frei gewählte Ministerpräsident der Türkei.
Als Mitglied der damaligen Demokrat Parti (DP) regierte er von 1950 bis 1960. Seine Amtszeit wurde durch den Militärputsch im Jahr 1960 beendet.
Menderes wurde verurteilt und hingerichtet: Der zweite Ministerpräsident der Türkei war ein Gegner des vorherrschenden Laizismus und forderte die
Rückkehr zum islamisch geprägten Staat. Zudem ereignete sich während seiner Amtszeit das Istanbuler Pogrom an griechischen Christen. In der
heutigen Türkei ist Adnan Menderes Ansehen wieder hergestellt. Bei konservativen Gesellschaftsschichten hat er sogar einen prominenten Status - ein
Zustand, der stark von Regierungsseite aus befördert wurde. Nach ihm sind Straßen, eine Universität und der Flughafen von Izmir benannt.
Süleyman Demirel (* 1924 † 2015) regierte als Ministerpräsident zunächst von 1965 bis zum zweiten Militärputsch 1971. Von 1975 bis Juni 1977 und
von Juli bis Dezember 1977 sowie von 1979 bis zum dritten Militärputsch 1980 war er wiederholt Chef verschiedener, stets fragiler
Koalitionsregierungen. Als Politiker der 1981 aufgelösten, nationalkonservativen Adalet Partisi (AP), später als Doğru Yol Partisi (DYP)
neugegründet, betrieb er eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Von 1991 bis 1993 war er letztmalig Ministerpräsident, daraufhin bis zum Jahr 2000
Staatspräsident.
Der Journalist, Schriftsteller und Kemalist Bülent Ecevit (* 1925 † 2006) war insgesamt vier Mal Ministerpräsident der Türkei. Nachdem der
CHP-Politiker 1974 erstmalig regierte, wechselte er sich in den späten 1970er-Jahren mehrfach mit Süleyman Demirel ab. Wie sein politischer
Kontrahent hatte auch er unter den repressiven Konsequenzen des dritten Militärputschs durch General Kenan Evren im Jahr 1980 zu leiden. Später
gründete er die Demokratische Linkspartei (DSP), mit der er zwischen 1999 und 2002 letztmalig als Ministerpräsident regierte.
Mit dem Wahlsieger des Jahres 1983, Turgut Özal (* 1927 † 1993), endete eine dreijährige Militärherrschaft. Als Ministerpräsident versuchte sich
der Politiker der Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei") an einer Übereinkunft mit den Armeniern und einer Aufarbeitung des Völkermords. Özal
bemühte sich außerdem um eine Entschärfung des Kurdenkonflikts - eine Politik, die in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten war.
Aufgrund zahlreicher Widerstände blieben diese Bemühungen jedoch weitestgehend erfolglos. Später zum Staatspräsident ernannt, endete seine
Amtszeit 1993 mit seinem plötzlichen Tode. Der dringende Verdacht, dass Özal vergiftet wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Die erste und bisher einzige Frau im Amt des türkischen Ministerpräsidenten: Tansu Çiller (* 1946) regierte von 1993 bis 1996. Die türkische "Iron
Lady" und DYP-Politikerin brachte viele wirtschaftspolitische Reformen auf den Weg und sprach sich für einen EU-Beitritt der Türkei aus. Wiederholt
musste sie sich allerdings auch mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen. Später, nach dem Bruch ihrer Regierungskoalition im Jahr 1996, war sie
bis 1997 Außenministerin unter Necmettin Erbakan.
Necmettin Erbakan (* 1926 † 2011), von 1996 bis 1997 Ministerpräsident der Türkei, gilt als politischer Ziehvater Recep Tayyip Erdoğans. Dessen
AKP ging im Jahre 2001 aus dem Reformflügel von Erbakans islamistischer "Wohlfahrtspartei" (Refah Partisi) hervor. Bereits 1970 gründete er die
erste Parteiorganisation der extremistischen Millî-Görüş-Bewegung. Programmatisch tonangebend war für den überzeugten Konservativen ein
nationalistisch gefärbter Islamismus. Diesen führte er regelmäßig gegen liberale Wertvorstellungen ins Feld. In seiner Ablehnung des Laizismus
geriet er regelmäßig mit der kemalistischen Staatsdoktrin in Konflikt. Erbakan verlor sein Amt durch den "Sanften Putsch" im Jahr 1997, bzw. musste
auf Druck der Militärs zurücktreten. Seine Partei wurde verboten.
Auch Mesut Yılmaz (* 1947, Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei")) war mehrfach Ministerpräsident der Türkei. Erstmalig von Juni bis Oktober
1991, dann erneute für nur einige Monate 1996 und schließlich nach dem von den Militärs erzwungenen Rücktritt Necmettin Erbakans von 1997 bis
1999. Zur Parlamentswahl 2007 trat Yilmaz als unabhängiger Kandidat an und wurde in die türkische Nationalversammlung gewählt, aus der er 2011
wieder ausschied. Der Volkswirt Yılmaz ist Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, studierte in den 1970er-Jahren in Köln, war von 2003 bis 2004 an
der Ruhr-Universität Bochum als Gastdozent tätig und spricht fließend deutsch.
Der AKP-Politiker Abdullah Gül (* 1950) war von 2007 bis 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von November 2002 bis März 2003
Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Ziel dieser Regierung war es u.a., durch eine Gesetzesänderung die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum
Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Als dies gelang, wurde Gül unter Erdoğan Außenminister. In diesem Amt irritierte er nicht zuletzt mit einem
Unterstützungsaufruf für die islamistische Bewegung Millî Görüş. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ging er in Fragen der
Rechtsstaatlichkeit regelmäßig auf Distanz zu seinem Parteifreund Erdoğan. Das Verhältnis der beiden gilt heute als angespannt.
Recep Tayyip Erdoğan (* 1954) war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während Anhänger insbesondere den wirtschaftlichen Aufstieg des
Landes unter der Regierung seiner islamischen AKP loben, sorgen sein autoritärer Regierungsstil und seine Gesellschaftspolitik regelmäßig für
Kontroversen. In seine Amtszeit als Ministerpräsident und heute Staatspräsident fallen auch die drastische Einschränkung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Kritiker und Oppositionelle werden von ihm bis heute kriminalisiert. Gestützt wird Erdoğan zwar vornehmlich von konservativen
Wählern, er hat jedoch Anhänger in allen Bevölkerungsschichten: Sowohl die deutliche Verbesserung der Lebensqualität, der enorme Ausbau der
Infrastruktur und die politische Entmachtung des Militärs sind untrennbar mit seiner Person verbunden. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im
Jahr 2014 hat sich die Machtverteilung im politischen System der Türkei zusehends vom Amt des Ministerpräsidenten auf das Amt des Staatspräsidenten
verlagert. Durch die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zum Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 wird diese Machtverlagerung bis
zum Jahr 2019 auch de jure vollzogen. Danach wird es das Amt des Ministerpräsidenten nicht mehr geben. Der Staatspräsident wird dann auch
Regierungschef sein.
Von 2014 bis 2016 war Ahmet Davutoğlu (* 1959) Ministerpräsident der Türkei. Davutoğlu ist Politikwissenschaftler und arbeitete als Professor an
verschiedenen Universitäten. Nach dem Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 wurde er zuerst außenpolitischer Berater Erdoğans, später Botschafter. 2009
machte Erdoğan ihn zum Außenminister: Bereits 2001 hatte Davutoğlu das Buch Stratejik Derinlik (Strategische Tiefe) veröffentlicht. Darin
erklärte er eine neue außenpolitische Strategie für die Türkei. Das Ziel war, alle Konflikte mit den Nachbarländern beizulegen und regional wie
global eine führende internationale Rolle einzunehmen: Anfänglich konnte Davutoğlu mit dieser Politik Erfolge erzielen, heute sind die Beziehungen
zu beinahe allen Nachbarstaaten der Türkei sowie zu wichtigen politischen und Handelspartnern schwer beschädigt oder zumindest stark belastet.
Binali Yıldırım (* 1955) wird wohl als letzter Ministerpräsident der Türkei in die Geschichte eingehen. Seit 2016 ist der AKP-Politiker
Ministerpräsident und Regierungschef der Türkei. Mit dem Amt des Ministerpräsidenten übernahm er auch das des Parteivorsitzenden der AKP von
seinem Vorgänger Ahmet Davutoğlu. Den Parteivorsitz hat Staatspräsident Erdoğan bereits im Mai 2017 wieder übernommen. Die Kompetenzen des
Regierungschefs sollen bis 2019 auf das Amt des Staatspräsidenten übertragen werden. Yıldırım gilt als Anhänger Erdoğans und hat sich –
anders als andere prominente AKP-Politiker – nie kritisch gegenüber Staatspräsident Erdoğan geäußert. Dementsprechend warb Binali Yıldırım
auch uneingeschränkt für das Verfassungsreferendum im April 2017 – und damit für die Abschaffung seines eigenen Amtes. Yıldırım wird aktuell
als schwacher Ministerpräsident eingeschätzt. Die Richtlinien der Politik des Landes werden von Staatspräsident Erdoğan bestimmt.
Die "Intervention" von 1971 war eine Folge dessen, dass der Putsch von 1960 gesellschaftlich nicht aufgearbeitet, und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Das indirekte Eingreifen der Armee begünstigte in der Folge die politische Rechte und die Etablierung eines Polizeistaates: Als zu liberal eingestufte Teile der Verfassung von 1961, wie die Autonomie der Universitäten, wurden zurückgenommen, die Pressefreiheit eingeschränkt und die Kontrolle über den Rundfunk verstärkt. Allerdings konnten dadurch die gesellschaftlichen und politischen Spannungen nicht überwunden werden. Im Gegenteil, verstärkt durch die Auswirkungen der Ölkrise im Jahr 1973, kam es immer wieder zu Streiks, politischen Morden, Bombenanschlägen und Ausschreitungen. Ende der 1970er-Jahre herrschten in Teilen des Landes bürgerkriegsähnliche Zustände.
1980 – Die Armee ordnet neu
In den frühen Morgenstunden des 12. September 1980 sicherten Armeeeinheiten die Außengrenzen ab und bezogen Stellung an Schlüsselposten im gesamten Land. Zudem brachten sie die Presse unter ihre Kontrolle. Der erneut amtierende Premierminister Süleyman Demirel sowie führende Politiker von Regierungs- und Oppositionsparteien wurden verhaftet und interniert, u.a. Necmettin Erbakan von der Interner Link: "Wohlfahrtspartei" (türkisch: Refah Partisi, kurz: RP) und Alparslan Türkeş von der Interner Link: Milliyetçi Hareket Partisi (MHP). Eine Ausgangssperre wurde verhängt, Soldaten kontrollierten die Straßen. Noch in der Nacht wurde die Übernahme der Staatsgewalt durch die Armee im Radio verlesen. Generalstabschef (Genelkurmay Başkanı) Kenan Evren erklärte später am Mittag in einer Fernsehansprache, dass sich die Armee aufgrund der Handlungsunfähigkeit der Regierung, der Widersprüche in der Verfassungsordnung und der unversöhnlichen Haltung der Parteien untereinander, zum Eingreifen veranlasst gesehen habe.
Im Unterschied zu den beiden früheren Interventionen war der Putsch 1980 von langer Hand unter der Führung des Generalstabschefs vorbereitet worden. Primäres Ziel war es, der Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken, Sicherheit und Ordnung herzustellen und die Wirtschaft zu reformieren.
Die Armeeführung löste nicht nur das Parlament, sondern auch die politischen Parteien, Gewerkschaften und Jugendorganisationen auf. Zahlreiche politische Aktivisten aus dem rechten sowie linken Spektrum wurden verhaftet. Es kam zur systematischen Anwendung von Folter gegen Gefangene. Über 170 Personen starben an den Folgen von Folter, 50 Personen wurden in Folge des Putsches zum Tode verurteilt und hingerichtet. Offensichtlich waren vor dem Putsch Listen mit den Namen der zu verhaftenden Personen angelegt worden. Die Führer der Parlamentsparteien wurden aus der aktiven Politik verbannt. Verhaftungen
von politischen Aktivisten sowie Berufsverbote und massenhafte Entlassungen an Schulen und Universitäten sollten Personen, die als ideologisch bedenklich eingestuft wurden, politisch und gesellschaftlich isolieren.
Der Ausnahmezustand sowie die Auflösung der Gewerkschaften machten eine reibungslose Umsetzung einer neoliberalen Wende in der Wirtschaftspolitik möglich. Zudem wurde versucht, eine klar konservative Gesellschaftsordnung zu etablieren. Die Propagierung konservativer Werte durch den Staat sollte vor ideologischer (linker) Indoktrinierung schützen und der Jugend Halt bieten.
Diese sogenannte "türkisch-islamische Synthese" bedingte eine Stärkung der islamischen und konservativen Elemente der türkischen Identität. Dieses durch den Staat aufgenommene Gesellschaftskonzept schlug sich vor allem in der Gesellschafts-, Schul- und Bildungspolitik nieder. Durch Militarismus, Stärkung der religiösen Werte und des Nationalismus sollten Gehorsam, Respekt und Zusammenhalt als zentrale türkische Tugenden propagiert werden.
Der Putsch führte zu einem Rechtsruck in der Politik. Linke Bewegungen haben sich kaum von den Folgen erholt. Profitieren konnte davon ab dem Ende der 1980er-Jahre unter anderem die islamistische "Wohlfahrtspartei". Die Islamisten entwickelten sich zu den wichtigsten Verfechtern sozialer Gerechtigkeit und konnten vor allem Stimmen in den ärmeren Vorstädten gewinnen. Ihr Siegeszug begann auf lokaler Ebene: Die Kommunalwahlen im Jahr 1994 gewann die RP u.a. in den beiden größten Städten des Landes, in Ankara und Istanbul. Bürgermeister in der Stadt am Bosporus war nun Interner Link: Recep Tayyip Erdoğan. Nur ein Jahr später ging die RP bei der Parlamentswahl als stärkste Kraft hervor. Ihr Sieg erschütterte die alten republikanischen Eliten; allein die Interner Link: CHP verlor die Hälfte ihrer Stimmen.
28. Februar 1997 - Der "postmoderne Coup" gegen die Islamisten
Die Versuche des kemalistischen Establishments eine Regierungsbeteiligung der RP zu verhindern scheiterten, ihr Vorsitzender Necmettin Erbakan wurde Ministerpräsident. Militär, Vertreter der kemalistischen Beamtenschaft, der Großteil des Unternehmertums, die Istanbuler Presse und die säkulare Zivilgesellschaft mobilisierten gegen die RP, die sich in ihrer Politik zwar weitgehend innerhalb des vorgegebenen Rahmens bewegte, aber rhetorisch die Prinzipien des Kemalismus und Laizismus herausforderte.
Die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates vom 28. Februar 1997 dauerte neun Stunden. In der zum Ende der Sitzung verlautbarten Erklärung wurde der "Islamismus" zur größten Bedrohung des Staates erklärt. Zudem legten die Militärs der Regierung konkrete Handlungsempfehlungen vor. Damit sollte der Einfluss religiöser Orden und Gruppen aus den Bildungsinstitutionen, der Wirtschaft und der Gesellschaft zurückgedrängt werden. Premierminister Erbakan weigerte sich die Erklärung, die sich vor allem gegen seine Partei und seine Wählerschaft richtete, zu unterzeichnen. In der Folge leitete der Generalstaatsanwalt mit der Anschuldigung, die Partei Erbakans führe das Land in den Bürgerkrieg, ein Verfahren zum Verbot der Refah Partisi ein. Der Druck auf Erbakan und die RP stieg. Schließlich trat er im Juni zurück. Die neue auf Druck des Militärs entstandene säkulare Regierung goss die Forderungen des Militärs in Gesetze.
Aus der Armee selbst wurden zahlreiche Personen, oft nur aufgrund eines religiösen Lebensstils, ausgeschlossen. Der Verfassungsgerichtshof verbot die RP und belegte führende Persönlichkeiten mit einem aktiven Politikverbot, u.a. auch Erbakan und Erdoğan. Gerichte schlossen Vereine und verfolgten der RP zugewandte Geschäftsleute und Medien, während die säkulare Zivilgesellschaft auf gesellschaftlicher Ebene gegen islamistische Tendenzen mobilisierte.
In Folge des "sanften Putsches" vom 28. Februar 1997 kam es zu einer Spaltung in der islamistischen Bewegung. Die sogenannten Reformer um Recep Tayyip Erdoğan vertraten die These, dass eine langfristige Machtbeteiligung die Abkehr von islamistischen ideologischen Forderungen und eine weitgehende Anpassung an das System bedinge. Aus ihren Reihen entstand die spätere Interner Link: AKP.
2007 - Das E-Memorandum gegen das Kopftuch der Frau Gül
Die neu gegründete AKP unter Recep Tayyip Erdoğan erzielte bei der Parlamentswahl im Jahr 2002 einen Erdrutschsieg. Die AKP hatte mit der Garantie der Fortsetzung ihres proeuropäischen Kurses sowie einer inklusiven Rhetorik erfolgreich das zerrüttete politische Zentrum auffangen können. Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, ein ausgewiesener Kemalist, galt vielen säkularen Kräften in den ersten Jahren als wichtiger Ausgleich gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung. Das sich nähernde Ende seiner Amtszeit im Jahr 2007 und die Nominierung des damaligen Außenministers Abdullah Gül (AKP) für das Amt des Staatspräsidenten verunsicherte daher viele säkulare Kräfte. Insbesondere der Umstand, dass Güls Frau ein Kopftuch trug, wurde als Zeichen für einen islamistischen Revisionismus gewertet – war es doch bis zu diesem Zeitpunkt undenkbar gewesen, dass die Frau eines hochrangigen Politikers oder Staatsbeamten ein Kopftuch trägt.
E-Memorandums
Screenshot des "E-Memorandums" vom 27. April 2007 von der Homepage des Generalstabs der Türkischen Streitkräfte.
Screenshot des "E-Memorandums" vom 27. April 2007 von der Homepage des Generalstabs der Türkischen Streitkräfte.
Am 27. April erklärte die Armeeführung in einem Memorandum über ihre Website, dass zukünftige Staatspräsidenten die Grundprinzipien des Kemalismus, des Laizismus und der Republik verinnerlicht haben müssten. Ähnlich wie zehn Jahre zuvor, mobilisierte die Armee zudem die säkulare Zivilgesellschaft. Insbesondere in den Großstädten wurden von säkularen Kräften Proteste gegen Güls Nominierung organisiert. Allerdings machte die Regierung keinen Rückzieher. Die Abgeordneten der AKP wählten Gül im Parlament zum neuen Staatspräsidenten. Da das notwendige Quorum aber nicht erreicht wurde, erklärte das Verfassungsgericht die Wahl für ungültig und verkündete verfassungsgemäß vorgezogene Neuwahlen für Juli. Die anschließende Wahlkampagne der AKP richtete sich gegen jegliche Einmischung durch das Militär und versprach mehr Demokratie. Die AKP konnte mit 46,58 Prozent der Stimmen ihre Mehrheit im Parlament deutlich auszubauen. Die große Zustimmung für die AKP wurde von vielen als Ablehnung der politischen Interventionen durch die Armee gewertet. Das Wahlergebnis führte dazu, dass die AKP nun das erforderliche Quorum alleine schaffte. Gül wurde vom neuen Parlament zum Staatspräsidenten gewählt, die Armeeführung hatte eine empfindliche Niederlage erlitten.
Der türkische Staatspräsident ist seit 1923 Staatsoberhaupt des Landes. Bis 2017 sollte er als „Hüter der Verfassung“ die Staatsorgane beaufsichtigen - seit 2018 hat das Amt die größte Machtfülle.
Nach dem Sturz der Regierung durch das Militär im Jahr 1980 wurde Generalstabschef Kenan Evren (* 1917 † 2015) durch die Armee als Staatspräsident
eingesetzt. Evren verhängte das Kriegsrecht und setzte eine Militärregierung ein. Schwerwiegende Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen waren die
Folge. Die neue, vom Militär vorgelegte Verfassung wurde am 7. November 1982 per Volksabstimmung angenommen. Evren wurde damit gleichzeitig bis 1989
im Amt bestätigt. Bestrebungen, ihn für die begangenen Verbrechen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, waren bis zum Verfassungsreferendum im Jahr
2010 nicht möglich. Im Juni 2014 wurde Evren zu lebenslanger Haft verurteilt, die er wegen seines Alters jedoch nicht mehr antreten musste.
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Mustafa Kemal Atatürk (* 1881 † 1938) gilt als Begründer der modernen Türkei. Zunächst Führungsfigur im türkischen Befreiungskrieg, schaffte
er schließlich das Sultanat ab. Im Jahr 1923 wurde die Republik Türkei ausgerufen, und Atatürk wurde ihr erster Staatspräsident. Bis heute wird
der "Vater der Türken" im Land verehrt, jede Herabsetzung juristisch geahndet: ein Straftatbestand ähnlich dem der Beleidigung des Türkentums, der
auch schon genutzt wurde, um Bürgerrechtler und kritische Journalisten sowie Schriftsteller zu kriminalisieren. Eine unvoreingenommene
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wirken Atatürks ist in der Türkei bis heute nur begrenzt möglich.
İsmet İnönü (* 1884 † 1973), Militär- und Weggefährte Mustafa Kemal Atatürks, war von 1923 bis 1924 erster Ministerpräsident der Türkei. In
den Jahren 1925 bis 1937 sowie von 1961 bis 1965 übte er dieses Amt erneut aus. Zwischenzeitich war der CHP-Politiker, nach Atatürks Tod im Jahr
1938, auch Staatspräsident der Türkei. Er begann eine Demokratisierung des Landes und versuchte einen Ausgleich zwischen Laizismus und Islam.
Celâl Bayar (* 1883 † 1986) war von 1950 bis zum ersten Militärputsch 1960 dritter Staatspräsident der Republik Türkei. Nachdem sein Vorgänger
İsmet İnönü im Jahr 1945 das Ende des türkischen Einparteiensystems proklamierte, traten Bayar sowie der spätere Ministerpräsident Adnan
Menderes aus der kemalistischen CHP (Republikanischen Volkspartei) aus und gründeten 1946 die Demokrat Parti (DP). Bei der Wahl 1950 gewann diese
schließlich die Parlamentsmehrheit. Unter seine Präsidentschaft fiel auch das anti-griechische Pogrom von Istanbul. Nach dem Militärputsch wurde
Bayar zum Tode verurteilt, anders als sein Parteifreund Menderes jedoch nicht hingerichtet, und 1966 schließlich begnadigt.
Mit Cemal Gürsel (* 1895 † 1966) folgte 1960 auf den noch demokratisch gewählten Celâl Bayar schließlich einer der Putschisten ins höchste
Staatsamt. Im putschenden "Komitee der nationalen Einheit" bekleidete er zuvor eine Führungsposition. Zwischenzeitlich war Gürsel sowohl
Ministerpräsident als auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Indessen gab er eine neue Verfassung in Auftrag, unter der er als Staatspräsident
vereidigt wurde. General Gürsel galt als liberal und politisch links orientiert, 1966 trat er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Nach seinem Tod
veränderte sich die politische Ausrichtung des Militärs, das nun zunehmend autoritärer agierte.
Cevdet Sunay (* 1899 † 1982) wurde 1966 von der Nationalversammlung zum fünften Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Sein Vorgänger Cemal
Gürsel war wegen gesundheitlicher Probleme zurückgetreten. Seine Wahl galt als Konzession der regierenden konservativen Gerechtigkeitspartei (AP) an
das Militär, welches sechs Jahre zuvor geputscht hatte: Ministerpräsident Süleyman Demirel wollte so erneute Spannungen mit der Armee vermeiden.
Cevdet Sunay blieb bis zum regulären Ende seiner Amtszeit im Jahr 1973 - einer Periode, die von Studentenunruhen, steigender Terrorismusgefahr und
dem zweiten Militärputsch im Jahr 1971 geprägt war - Staatspräsident der Türkei.
Admiral Fahri Korutürk (* 1903 † 1987) fand 1973 als Kompromisskandidat den Weg in das Staatspräsidentenamt. Der Favorit der Militärführung und
Chef des Generalstabs General Faruk Gürler war zuvor am Widerstand der großen Parteien im Parlament gescheitert. Korutürk agierte streng
überparteilich und machte seinen Einfluss gerade auch in Zeiten der rivalisierenden und sich zeitweise abwechselnden Ministerpräsidenten Bülent
Ecevit und Süleyman Demirel geltend. Seine Amtszeit endete 1980. Als kein Nachfolger gefunden werden konnte, schloss sich der dritte Militärputsch
unter General Kenan Evren an.
Nach dem Sturz der Regierung durch das Militär im Jahr 1980 wurde Generalstabschef Kenan Evren (* 1917 † 2015) durch die Armee als Staatspräsident
eingesetzt. Evren verhängte das Kriegsrecht und setzte eine Militärregierung ein. Schwerwiegende Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen waren die
Folge. Die neue, vom Militär vorgelegte Verfassung wurde am 7. November 1982 per Volksabstimmung angenommen. Evren wurde damit gleichzeitig bis 1989
im Amt bestätigt. Bestrebungen, ihn für die begangenen Verbrechen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, waren bis zum Verfassungsreferendum im Jahr
2010 nicht möglich. Im Juni 2014 wurde Evren zu lebenslanger Haft verurteilt, die er wegen seines Alters jedoch nicht mehr antreten musste.
Mit dem Wahlsieger des Jahres 1983, Turgut Özal (* 1927 † 1993), endete eine dreijährige Militärherrschaft. Als Ministerpräsident versuchte sich
der Politiker der Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei") an einer Übereinkunft mit den Armeniern und einer Aufarbeitung des Völkermords. Özal
bemühte sich außerdem um eine Entschärfung des Kurdenkonflikts - eine Politik, die in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten war.
Aufgrund zahlreicher Widerstände blieben diese Bemühungen jedoch weitestgehend erfolglos. Später zum Staatspräsident ernannt, endete seine
Amtszeit 1993 mit seinem plötzlichen Tode. Der dringende Verdacht, dass Özal vergiftet wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Süleyman Demirel (* 1924 † 2015) regierte als Ministerpräsident zunächst von 1965 bis zum zweiten Militärputsch 1971. Von 1975 bis Juni 1977 und
von Juli bis Dezember 1977 sowie von 1979 bis zum dritten Militärputsch 1980 war er wiederholt Chef verschiedener, stets fragiler
Koalitionsregierungen. Als Politiker der 1981 aufgelösten, nationalkonservativen Adalet Partisi (AP), später als Doğru Yol Partisi (DYP)
neugegründet, betrieb er eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Von 1991 bis 1993 war er letztmalig Ministerpräsident, daraufhin bis zum Jahr 2000
Staatspräsident.
Mit Ahmet Necdet Sezer (* 1941) kam zum ersten Mal in der türkischen Geschichte kein Militär oder Parlamentarier in das Amt des Staatspräsidenten.
Im Jahr 2000 gewählt, war der promovierte Jurist zuvor unter anderem als Richter am Kassationsgericht sowie am Verfassungsgericht tätig. An
letzteres wurde er 1988 durch Kenan Evren berufen. Sezer war ein starker Befürworter des Laizismus in der Türkei, weshalb es wiederholt zu
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und der seit 2002 regierenden AKP kam bis Sezer 2007 aus dem Amt ausschied.
Der AKP-Politiker Abdullah Gül (* 1950) war von 2007 bis 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von November 2002 bis März 2003
Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Ziel dieser Regierung war es u.a., durch eine Gesetzesänderung die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum
Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Als dies gelang, wurde Gül unter Erdoğan Außenminister. In diesem Amt irritierte er nicht zuletzt mit einem
Unterstützungsaufruf für die islamistische Bewegung Millî Görüş. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ging er in Fragen der
Rechtsstaatlichkeit regelmäßig auf Distanz zu seinem Parteifreund Erdoğan. Das Verhältnis der beiden gilt heute als angespannt.
Recep Tayyip Erdoğan (* 1954) war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während Anhänger insbesondere den wirtschaftlichen Aufstieg des
Landes unter der Regierung seiner islamischen AKP loben, sorgen sein autoritärer Regierungsstil und seine Gesellschaftspolitik regelmäßig für
Kontroversen. In seine Amtszeit als Ministerpräsident und heute Staatspräsident fallen auch die drastische Einschränkung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Kritiker und Oppositionelle werden von ihm bis heute kriminalisiert. Gestützt wird Erdoğan zwar vornehmlich von konservativen
Wählern, er hat jedoch Anhänger in allen Bevölkerungsschichten: Sowohl die deutliche Verbesserung der Lebensqualität, der enorme Ausbau der
Infrastruktur und die politische Entmachtung des Militärs sind untrennbar mit seiner Person verbunden. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im
Jahr 2014 hat sich die Machtverteilung im politischen System der Türkei zusehends vom Amt des Ministerpräsidenten auf das Amt des Staatspräsidenten
verlagert. Durch die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zum Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 wird diese Machtverlagerung bis
zum Jahr 2019 auch de jure vollzogen. Danach wird es das Amt des Ministerpräsidenten nicht mehr geben. Der Staatspräsident wird dann auch
Regierungschef sein.
Zudem hatte die AKP-Regierung durch Reformen im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses den Einfluss des Militärs im Nationalen Sicherheitsrat und anderen zentralen Institutionen stark zurückgedrängt. Mehrere Prozesse gegen hohe Militärs aufgrund mutmaßlicher Verschwörungen gegen die Regierung schwächten das Ansehen der Armee in den folgenden Jahren weiter. Das Militär verlor seinen politischen Einfluss weitgehend. Militärinterventionen schienen der Vergangenheit anzugehören.
15. Juli 2016 – der gescheiterte Putschversuch
Umso überraschender waren die Ereignisse der Sommernacht des 15. Juli 2016. Einheiten der Armee besetzten am Abend zentrale Punkte der Infrastruktur, wie die Bosporusbrücke, den Istanbuler Flughafen und das Staatsfernsehen. Armeejets flogen mit Überschallgeschwindigkeit über die Großstädte Istanbul und Ankara. Aus der Luft wurden das Polizeidezernat für Sondereinsätze, das Parlament und der Präsidentenpalast in Ankara beschossen. Präsident Erdoğan, der sich in Marmaris im Urlaub befand, konnte sich einer Festnahme durch die Putschisten nur knapp entziehen. Über eine Facetime-Verbindung, einem Livevideo per Smartphone, mit dem Nachrichtensender CNN-Türk rief er die Bevölkerung dazu auf, sich den Putschisten entgegenzustellen. Auch über die steten Rufe
der Muezzine wurde die Zivilbevölkerung mobilisiert. Zum ersten Mal in der türkischen Geschichte wurde ein Putschversuch vor allem durch den Widerstand der Bevölkerung zurückgeschlagen. Dabei kam es auch zu Übergriffen und Lynchjustiz. Insgesamt verloren bis zum nächsten Tag landesweit mehr als 290 Menschen ihr Leben.
Die genauen Hintergründe des Putsches, die Ziele der Putschisten bzw. die Frage, wer genau den Putsch leitete, konnten bislang nicht geklärt werden. Allerdings erhärtete sich rasch der früh formulierte Verdacht, hinter dem Putschversuch stehe das religiös-nationalistische Netzwerk des in den USA im Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erstmalig würde es sich damit nicht um eine Intervention im Namen des Kemalismus und der Westorientierung der Türkei handeln – auch wenn sich die Putschisten in ihrem Kommuniqué darauf bezogen – sondern um das Finale im Machtkampf zwischen dem intransparenten Gülen-Netzwerk auf der einen Seite und der demokratisch legitimierten islamisch-konservativen Regierung bzw. Staatspräsident Erdoğan auf der anderen Seite.
Die Gülen-Bewegung war, durch die türkisch-islamische Synthese der Ordnung nach 1980 begünstigt, zu einem mächtigen, intransparenten Netzwerk gewachsen, das neben Zeitungen, Verlagen und privaten Schulen im In- und Ausland auch diverse Unternehmen umfasste und auf Schlüsselpositionen im Staatsdienst präsent war. Die AKP unter Tayyip Erdoğan war Anfang der 2000er-Jahre mit der Gülen-Bewegung im Kampf gegen das kemalistische Establishment ein strategisches Bündnis eingegangen. In der Folge leiteten der Gülen-Bewegung nahestehende oder ihr angehörende Staatsanwälte und Richter Säuberungen gegen kritische säkulare Vertreter im Staatsdienst und im Militär ein – ein Vorgehen, das sich am "post-modernen Coup" vom 28. Februar 1997 orientierte.
Während die starke Präsenz des Gülen-Netzwerkes in der Justiz, im Bildungsministerium und dem Innenministerium bekannt war, legte der Putschversuch 2016 die Infiltrierung der Armee offen. Präsident Erdoğan bezeichnete auch deshalb den Putsch als ein "Geschenk Gottes" weil er ihm nicht nur die Möglichkeit bot den Ausnahmezustand auszurufen und rigoros gegen diese Bewegung vorzugehen, sondern auch gleich oppositionelle Journalisten, Akademiker und andere unliebsame Personen aus staatlichen Institutionen zu verbannen.
Der Putschversuch selbst stellte einen Höhepunkt im Machtkampf zwischen Gülen und Erdoğan dar. Dieser war 2013 ausgebrochen, als die Gülen-Bewegung immer eigenmächtiger zu agieren begann und sich auch gegen Erdoğans Interessen stellte. Der Putschversuch endete mit einer bedeutenden Niederlage für die Gülen-Bewegung in der Türkei: Massenentlassungen, Verhaftungen, Unternehmens- und Schulschließungen, bzw. Beschlagnahmungen zerschlugen das Netzwerk in der Türkei. Der in Folge des Putschversuchs ausgerufene Ausnahmezustand diente Präsident Erdoğan zudem, seine Macht noch weiter auszubauen und diese durch dasInterner Link: Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 zu legitimieren.
Die Ereignisse des 15. Juli 2016, insbesondere der Widerstand der Bürger auf den Straßen gegen die Putschisten und die Stilisierung der Toten als Märtyrer dienten in der Folge als Symbole für die Konstruktion eines neuen nationalistischen Narratives, von dem die AKP und Staatspräsident Erdoğan bis heute zehren.
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Am 29. Oktober 2023 feiert die Republik Türkei ihr hundertjähriges Bestehen. Sie kann dabei auf eine beeindruckende Geschichte zurückblicken, die aber nicht frei von Herausforderungen war.
ist Politikwissenschaftler an der Universität Wien und stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Europäische Nachbarschaftspolitik, der Staat und die Veränderung von Staatlichkeit, die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren und Islamismus. Sein regionaler Fokus liegt auf der Türkei, Ägypten und Tunesien.
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