Die Verfassungsgeschichte der Türkei geht zurück bis in das Jahr 1807. Ihre Entwicklung ist eng verknüpft mit der politischen Geschichte des Osmanischen Reiches und später der Republik Türkei. Mehrfach wurde die Verfassung reformiert und neu geschrieben, oft in Zusammenhang mit durch das Militär erzwungenen Machtwechseln. Der heutige Verfassungstext geht zurück auf die Verfassung von 1982. Die jüngsten Änderungen vom April 2017 sind auch die bis dato weitreichendsten und folgenschwersten.
Bereits das Jahr 1807 – Schutz der Rechte des osmanischen Adels – danach dann aber vor allem das Jahr 1839 mit dem Tazminat Fermanı (Reformerlass) gelten als Meilensteine für eine Modernisierung der osmanischen Verfassung. Die erste moderne Verfassung bescherte dem Reich allerdings erst Sultan Abdülhamit II. im Jahre 1876, unter dem Drängen der Jungosmanen (Erste Verfassungsperiode – Birinci Meşrutiyet). Sie ähnelte der nur fünf Jahre älteren deutschen Reichsverfassung und schuf ein aus zwei Häusern bestehendes Parlament, indem auch die religiösen Minderheiten angemessen vertreten waren, und gewährleistete einen rudimentären Grundrechtsschutz.
Die erste Verfassung und das Ende des Osmanischen Reiches
Diese Verfassung hatte aber keine Überlebenschance, weil Abdülhamit II. es vorzog, bis 1908 ohne Parlament zu herrschen in der Hoffnung, das osmanische Herrscherhaus und das Reich zu stabilisieren. Die Nachfolger der Jungosmanen, die Jungtürken stürzten den Sultan und setzten die Verfassung mit wichtigen Änderungen wieder in Kraft (Zweite Verfassungsperiode – İkinci Meşrutiyet). Das Parlament wurde erheblich gestärkt, konnte aber die Interner Link: Jungtürken-Bewegung nicht daran hindern, unter Missachtung der von ihnen selbst proklamierten Freiheiten – darunter insbesondere die Pressefreiheit – eine Diktatur zu errichten,
die das Osmanische Reich an Interner Link: deutscher und österreichischer Seite in den Ersten Weltkrieg führte. Mit der Niederlage im Jahre 1918 und dem Interner Link: Frieden von Sèvres im Jahre 1920 schien das Schicksal des Osmanischen Reiches besiegelt. Es verlor die meisten Gebiete und wäre damit letztlich – wäre es nach dem Willen der Alliierten gegangen – auf Istanbul und ein anatolisches Kernland beschränkt worden. Gleichzeitig kam es jedoch zu einer anatolischen Gegenherrschaft unter der Führung von Mustafa Kemal Pascha (später: Interner Link: Atatürk) und hierauf zu einer eigenständigen Verfassungsentwicklung.
Befreiung - die Verfassung von 1924
Als Stichtage für den Weg zur Interner Link: Gründung der Republik Türkei gelten der am 19.7.1919 eröffnete Kongress von Erzurum, der darauf folgende Kongress von Sivas und die Eröffnung des Parlaments – die bis heute so bezeichnete Große Nationalversammlung der Türkei – am 23.4.1920 in Ankara.
Am 20.1.1921 verabschiedete das neue Parlament ein eigenes Verfassungsgesetz. Die Parallelität mit dem osmanischen System endete mit dem Erlass des Gesetzes über die Abschaffung des Sultanats 1922 und der Ausrufung der Republik am 29.10.1923. Kurz zuvor, am 24.7.1923, war es Mustafa Kemal Pascha gelungen, den Friedensvertrag von Sèvres durch den Interner Link: Vertrag von Lausanne zu ersetzen, der die heutige Türkei territorial absicherte und bestimmten religiösen Minderheiten bis heute gültige Schutzrechte gewährt.
Die erste republikanische Verfassung vom 20. April 1924 ging vom Grundsatz der absoluten Herrschaft des Parlaments aus, welches auch Exekutive und Justiz beherrschte. Es sollte Quelle und Rahmen für jegliche Staatstätigkeit sein und bestand aus einer durch das Volk gewählten Kammer – die Regierung trug den bezeichnenden Namen "Vollzugsausschuss" oder auch "Vollzugsbeauftragte" (İcra Vekilleri Heyeti). 1930 bzw. 1934 wurde auch den Frauen das aktive und passive Wahlrecht eingeräumt, was im europäischen Vergleich als progressiv bezeichnet werden kann.
Die Exekutive übte der durch das Parlament gewählte Präsident im Auftrag und Namen des Parlaments aus. Der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte sich damit – im Gegensatz zum heutigen System seit 2017 – bewusst unter die direkte Kontrolle des Parlaments gestellt. Anders als etwa der deutsche Reichspräsident hatte auch er keine Notstandsbefugnisse. Die Unabhängigkeit der Justiz war noch nicht vollständig ausgeprägt. So gehörten nicht zuletzt gesetzgeberische Eingriffe in die Justiz, die deren Unabhängigkeit bedrohten, zu den Auslösern des Interner Link: ersten Militärputsches am 27.5.1960. Ein Verfassungsgericht gab es noch nicht. Dafür gab es bereits einen Grundrechtekatalog, wie wir ihn auch aus der Weimarer Verfassung von 1919 kennen. Bis 1928 sah diese erste Verfassung der modernen Türkei noch den Islam als Staatsreligion vor. Ab 1937 bildeten jedoch die "sechs Pfeile" ("Altı Ok") des Kemalismus das ideologische Grundgerüst der jungen Republik. Sie bestimmten bis in die 1990er-Jahre Politik und Verfassung.
Eine wesentliche Leistung des neuen republikanischen Systems bestand darin, dass innerhalb von nicht einmal zwei Jahrzehnten die gesamte türkische Rechtsordnung grundlegend modernisiert wurde, wofür das kemalistische Regime auf zahlreiche Gesetzeswerke aus der Schweiz, Italien, Deutschland und Frankreich zurückgriff oder sich von diesen Staaten inspirieren ließ (Rezeption).
InfoboxKemalismus
Der Begriff des Nationalismus (milliyetçilik) deckt das Bedürfnis nach territorialer und nationaler Einheit ab. Dieses oberste Verfassungsprinzip dient als Rechtfertigung für einen straffen Zentralstaat, gegen Versuche der Autonomisierung einzelner Gebiete. In ihm ist geradezu das Verbot der Schaffung eines Föderalstaates impliziert. In Ermangelung einer einheitlichen ethnischen Identität des Türkentums knüpft das Nationalismusprinzip an die türkische Staatsangehörigkeit an, was wiederum lange Zeit als Begründung für eine Politik der Assimilierung nichttürkischer ethnischer Bevölkerungsteile diente.
Der Laizismus (laiklik) kann als schärfere Variante des Säkularismus bezeichnet werden. Er verlangt vom Staat aktive Neutralität und die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum. Symbolisch dafür waren Verbote, in Behörden und Schulen Kopftuch zu tragen. Seit 2002 setzt die AKP-Regierung unter dem Stichwort Religionsfreiheit zunehmend die Aufhebung solcher Verbote durch. Derzeit werden Kopftuchverbote an den Universitäten sogar als ungerechtfertigte Behinderung der Lern- und Forschungsfreiheit angesehen und bestraft.
Der Republikanismus (cumhuriyetçilik) stellt das Bekenntnis zu einer demokratischen und nicht monarchischen Regierungsform dar, die auf dem Grundsatz der Volkssouveränität beruht.
Das Prinzip wird daher durch den Populismus (halkçılık) ergänzt, der vom Staat volksnahes Regieren verlangt. Es geht hier darum, die Volkssouveränität mit Leben zu füllen. In der Verfassung ist der Begriff letztlich im Demokratieprinzip aufgegangen.
Der Etatismus (devletçilik) begründet die Verantwortung für eine funktionstüchtige Wirtschaft. Nach der ursprünglichen Auffassung der Kemalisten gehörten alle wichtigen Industrien in staatliche Hand, schon allein, um die Einflüsse ausländischer Mächte auszuschalten. Erst mit der Verfassung von 1982 wurde jedoch klargestellt, dass sich die Verantwortung des Staates auf die Aufsicht beschränken müsse. Dies erlaubte weitreichende Privatisierungen unter der EU-konformen Aufsicht von Regulierungsbehörden in den wichtigsten Infrastrukturbereichen wie Verkehr, Energie, Telekommunikation und Kapitalmarkt. Damit fand die Türkei Anschluss an die internationalen Märkte und erreichte den Beitritt zur EU-Zollunion. Wichtige Restbestände des Etatismus bestehen in der Verfassung im besonderen Schutz für Wälder, Küsten und Kulturgüter. Die Gesetzgebung zum Waldschutz und zum Küstenschutz sieht verfassungsrechtlich bedenkliche Eingriffe in das Eigentumsrecht vor. Vor allem das Forstrecht ist bereits vielfach Gegenstand von Verfahren vor dem EGMR in Straßburg geworden, die die Türkei fast alle verloren hat; es geht dabei darum, dass türkische Behörden regelmäßig Privateigentum auf den Staat umschreiben lassen, ohne die Betroffenen zu entschädigen, weil das Gelände erst gar nicht hätte Privateigentum werden dürfen. Den krassesten Fall stellt das Kloster Mor Gabriel in der Nähe von Mardin dar, dessen Böden teilweise auf diese Weise auf den Staat umgeschrieben wurden, obwohl das Kloster bereits seit mehr als 1.600 Jahren diese Böden bewirtschaftete.
Schließlich gilt noch der Grundsatz des revolutionären Reformismus (auch: Revolutionismus – devrimcilik oder inkilâpçılık). Dies ist der Kern des Kemalismus als Modernisierungsideologie.
Christian Rumpf
Fußnoten
Vgl. Rumpf, Die Zollunion EU-Türkei, Recht der internationalen Wirtschaft 1997/1, S. 46 ff.
Tragende Kraft des kemalistischen Systems war die Interner Link: Republikanische Volkspartei (CHP), die heute die größte Oppositionspartei ist und als "sozialdemokratisch" gilt. Unter Atatürk war sie bis 1946 die einzige politische Partei, Interner Link: Parteienvielfalt gab es nicht. Ein wichtiges Mittel demokratischer Willensbildung fehlte also: die kontroverse Diskussion zwischen mehreren programmatisch unterschiedlichen Parteien. Die Kontrolle politischer Prozesse blieb stattdessen der parteiinterner Diskussion innerhalb der CHP vorbehalten. 1946 kam es dann zur Zulassung mehrerer Parteien. Die aus der CHP abgespaltene Interner Link: Demokratische Partei (DP) unter Adnan Menderes regierte von 1950 bis zum Militärputsch am 27.5.1960. Das Militär rechtfertigte mit Unterstützung großer Teile der Professorenschaft der beiden großen Universitäten Istanbul und Ankara das Vorgehen damit, den Rechtsstaat wieder herstellen zu wollen, nachdem die von Menderes beherrschte Parlamentsmehrheit versucht hatte, die Opposition aus dem Parlament zu drängen und die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen.
Die Verfassung von 1961
Die zweite republikanische Verfassung von 1961 folgte der Idee des Militärs vom Rechtsstaat mit konsequenter Gewaltenteilung und führte den ersten Systemwechsel in der Geschichte der Republik herbei. Erhalten blieben die kemalistischen Grundprinzipien: Republikanismus, Nationalismus, Laizismus, revolutionärer Reformismus, Etatismus und Populismus.
InfoboxGrundrechte in der Türkischen Verfassung
Seit 1961 schon weist die türkische Verfassung einen ausführlichen Katalog von Grundrechten und Freiheiten auf. Ein spezieller Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten ist allerdings nicht vorgesehen, weil dies als mit dem Gleichheitssatz und dem Prinzip der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk nicht vereinbar angesehen wird. Strukturell orientiert sich der Grundrechteschutz an den Standards westeuropäischer Staaten und der EMRK. Gleiches gilt für das Gleichheitsgebot bzw. Diskriminierungsverbot. Als "Schrankenschranke" gemäß Art. 13 der Türkischen Verfassung gelten der Wesensgehalt, also der Kern eines Grundrechts, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Erfordernisse einer demokratischen Gesellschaft. Weitergehende Grundrechtsbeschränkungen sind in den Fällen des Krieges, des Notstandes und (bis 2017) des Ausnahmezustandes möglich (Art. 15 TV), wobei allerdings zentrale Garantien im Sinne von Art. 15 EMRK erhalten bleiben.
Gewährleistet wird der Grundrechtsschutz durch eine umfassende Rechtsweggarantie, und zwar einmal über das Grundrecht auf freien Zugang zu den Gerichten (Art. 38 TV) und zum anderen über das Rechtsschutzsystem des Verfassungsgerichts. Im Übrigen ist sie in Art. 125 TV niedergelegt, wonach sämtliches staatliches Handeln gerichtlich überprüfbar sein muss.
Am Gefüge des Grundrechteteils hat sich auch durch die Verfassungsänderung 2017 nichts geändert. Allerdings muss befürchtet werden, dass der starke Einfluss der Exekutive auf die Justiz zu Defiziten beim effektiven Grundrechtsschutz vor allem in den Bereichen des Strafrechts, aber auch des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung führen könnte.
Fußnoten
Vgl. Rumpf, Einführung in das türkische Recht, München 2016, S. 50 ff.
Vgl. Rumpf, The protection of human rights in Turkey and the significance of international human rights instruments, Human Rights Law Journal 1993, S. 394 ff.
Das Parlament wurde nach dem französischen Vorbild in zwei Kammern aufgeteilt, Nationalversammlung und Senat. Der Grundrechteteil kam an den Anfang der Verfassung, nach den Grundprinzipien des Staates. Der Ministerrat unterstand als Exekutive der Kontrolle des Parlaments, der durch die Kammern gemeinsam gewählte Präsident wurde weitgehend auf repräsentative Befugnisse reduziert. Die Justiz war jetzt vollständig unabhängig, auch ein Verfassungsgericht wurde etabliert. Diese Verfassung kann als eine der modernsten und freiheitlichsten Verfassungen ihrer Zeit bezeichnet werden. Sie schuf das System eines demokratischen, sozialen und freiheitlichen Rechtsstaates, mit einer breit angelegten Parteienlandschaft, autonomen Universitäten und einer institutionell und strukturell vollkommen unabhängigen Justiz, die Gesetzgebung kontrolliert durch das Verfassungsgericht, die Exekutive kontrolliert durch das Parlament.
Das Rechtssystem selbst wurde bereits seit Mitte der 1920er-Jahre durch die umfangreiche Übernahme (Rezeption) ausländischer Gesetzeswerke modernisiert, islamische Bezüge wurden entfernt. Infolge der auch in der Türkei hochkochenden 1968er-Bewegung kam es Interner Link: 1971 zu einem weiteren, gemäßigten Eingriff des Militärs, aufgrund dessen die Verfassung nochmals überarbeitet wurde. Wichtigstes Element war die Einführung einer Staatssicherheitsgerichtsbarkeit, die allerdings durch das Verfassungsgericht wegen eines Formfehlers gestoppt wurde.
Gegen Ende der 1970er-Jahre zeigten sich die Defizite des Zwei-Kammer-Systems, in dem das Parlament infolge allzu ausgeglichener Wahlergebnisse so gelähmt wurde, dass es faktisch die Gesetzgebungstätigkeit einstellte und nicht einmal in der Lage war einen Nachfolger für den Präsidenten Fahri Korutürk zu wählen. Das Land versank in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, denen das Militär unter Führung des Generalstabs Interner Link: mit einem weiteren Putsch am 12.9.1980 ein Ende setzte. Die Regierung wurde abgesetzt, die Führer der großen Parteien innerhalb der Türkei an einem Ferienort unter Hausarrest gestellt, die politischen Parteien und Gewerkschaften aufgelöst, das Parlament entlassen.
Der türkische Staatspräsident ist seit 1923 Staatsoberhaupt des Landes. Bis 2017 sollte er als „Hüter der Verfassung“ die Staatsorgane beaufsichtigen - seit 2018 hat das Amt die größte Machtfülle.
Nach dem Sturz der Regierung durch das Militär im Jahr 1980 wurde Generalstabschef Kenan Evren (* 1917 † 2015) durch die Armee als Staatspräsident
eingesetzt. Evren verhängte das Kriegsrecht und setzte eine Militärregierung ein. Schwerwiegende Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen waren die
Folge. Die neue, vom Militär vorgelegte Verfassung wurde am 7. November 1982 per Volksabstimmung angenommen. Evren wurde damit gleichzeitig bis 1989
im Amt bestätigt. Bestrebungen, ihn für die begangenen Verbrechen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, waren bis zum Verfassungsreferendum im Jahr
2010 nicht möglich. Im Juni 2014 wurde Evren zu lebenslanger Haft verurteilt, die er wegen seines Alters jedoch nicht mehr antreten musste.
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Mustafa Kemal Atatürk (* 1881 † 1938) gilt als Begründer der modernen Türkei. Zunächst Führungsfigur im türkischen Befreiungskrieg, schaffte
er schließlich das Sultanat ab. Im Jahr 1923 wurde die Republik Türkei ausgerufen, und Atatürk wurde ihr erster Staatspräsident. Bis heute wird
der "Vater der Türken" im Land verehrt, jede Herabsetzung juristisch geahndet: ein Straftatbestand ähnlich dem der Beleidigung des Türkentums, der
auch schon genutzt wurde, um Bürgerrechtler und kritische Journalisten sowie Schriftsteller zu kriminalisieren. Eine unvoreingenommene
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wirken Atatürks ist in der Türkei bis heute nur begrenzt möglich.
İsmet İnönü (* 1884 † 1973), Militär- und Weggefährte Mustafa Kemal Atatürks, war von 1923 bis 1924 erster Ministerpräsident der Türkei. In
den Jahren 1925 bis 1937 sowie von 1961 bis 1965 übte er dieses Amt erneut aus. Zwischenzeitich war der CHP-Politiker, nach Atatürks Tod im Jahr
1938, auch Staatspräsident der Türkei. Er begann eine Demokratisierung des Landes und versuchte einen Ausgleich zwischen Laizismus und Islam.
Celâl Bayar (* 1883 † 1986) war von 1950 bis zum ersten Militärputsch 1960 dritter Staatspräsident der Republik Türkei. Nachdem sein Vorgänger
İsmet İnönü im Jahr 1945 das Ende des türkischen Einparteiensystems proklamierte, traten Bayar sowie der spätere Ministerpräsident Adnan
Menderes aus der kemalistischen CHP (Republikanischen Volkspartei) aus und gründeten 1946 die Demokrat Parti (DP). Bei der Wahl 1950 gewann diese
schließlich die Parlamentsmehrheit. Unter seine Präsidentschaft fiel auch das anti-griechische Pogrom von Istanbul. Nach dem Militärputsch wurde
Bayar zum Tode verurteilt, anders als sein Parteifreund Menderes jedoch nicht hingerichtet, und 1966 schließlich begnadigt.
Mit Cemal Gürsel (* 1895 † 1966) folgte 1960 auf den noch demokratisch gewählten Celâl Bayar schließlich einer der Putschisten ins höchste
Staatsamt. Im putschenden "Komitee der nationalen Einheit" bekleidete er zuvor eine Führungsposition. Zwischenzeitlich war Gürsel sowohl
Ministerpräsident als auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Indessen gab er eine neue Verfassung in Auftrag, unter der er als Staatspräsident
vereidigt wurde. General Gürsel galt als liberal und politisch links orientiert, 1966 trat er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Nach seinem Tod
veränderte sich die politische Ausrichtung des Militärs, das nun zunehmend autoritärer agierte.
Cevdet Sunay (* 1899 † 1982) wurde 1966 von der Nationalversammlung zum fünften Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Sein Vorgänger Cemal
Gürsel war wegen gesundheitlicher Probleme zurückgetreten. Seine Wahl galt als Konzession der regierenden konservativen Gerechtigkeitspartei (AP) an
das Militär, welches sechs Jahre zuvor geputscht hatte: Ministerpräsident Süleyman Demirel wollte so erneute Spannungen mit der Armee vermeiden.
Cevdet Sunay blieb bis zum regulären Ende seiner Amtszeit im Jahr 1973 - einer Periode, die von Studentenunruhen, steigender Terrorismusgefahr und
dem zweiten Militärputsch im Jahr 1971 geprägt war - Staatspräsident der Türkei.
Admiral Fahri Korutürk (* 1903 † 1987) fand 1973 als Kompromisskandidat den Weg in das Staatspräsidentenamt. Der Favorit der Militärführung und
Chef des Generalstabs General Faruk Gürler war zuvor am Widerstand der großen Parteien im Parlament gescheitert. Korutürk agierte streng
überparteilich und machte seinen Einfluss gerade auch in Zeiten der rivalisierenden und sich zeitweise abwechselnden Ministerpräsidenten Bülent
Ecevit und Süleyman Demirel geltend. Seine Amtszeit endete 1980. Als kein Nachfolger gefunden werden konnte, schloss sich der dritte Militärputsch
unter General Kenan Evren an.
Nach dem Sturz der Regierung durch das Militär im Jahr 1980 wurde Generalstabschef Kenan Evren (* 1917 † 2015) durch die Armee als Staatspräsident
eingesetzt. Evren verhängte das Kriegsrecht und setzte eine Militärregierung ein. Schwerwiegende Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen waren die
Folge. Die neue, vom Militär vorgelegte Verfassung wurde am 7. November 1982 per Volksabstimmung angenommen. Evren wurde damit gleichzeitig bis 1989
im Amt bestätigt. Bestrebungen, ihn für die begangenen Verbrechen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, waren bis zum Verfassungsreferendum im Jahr
2010 nicht möglich. Im Juni 2014 wurde Evren zu lebenslanger Haft verurteilt, die er wegen seines Alters jedoch nicht mehr antreten musste.
Mit dem Wahlsieger des Jahres 1983, Turgut Özal (* 1927 † 1993), endete eine dreijährige Militärherrschaft. Als Ministerpräsident versuchte sich
der Politiker der Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei") an einer Übereinkunft mit den Armeniern und einer Aufarbeitung des Völkermords. Özal
bemühte sich außerdem um eine Entschärfung des Kurdenkonflikts - eine Politik, die in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten war.
Aufgrund zahlreicher Widerstände blieben diese Bemühungen jedoch weitestgehend erfolglos. Später zum Staatspräsident ernannt, endete seine
Amtszeit 1993 mit seinem plötzlichen Tode. Der dringende Verdacht, dass Özal vergiftet wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Süleyman Demirel (* 1924 † 2015) regierte als Ministerpräsident zunächst von 1965 bis zum zweiten Militärputsch 1971. Von 1975 bis Juni 1977 und
von Juli bis Dezember 1977 sowie von 1979 bis zum dritten Militärputsch 1980 war er wiederholt Chef verschiedener, stets fragiler
Koalitionsregierungen. Als Politiker der 1981 aufgelösten, nationalkonservativen Adalet Partisi (AP), später als Doğru Yol Partisi (DYP)
neugegründet, betrieb er eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Von 1991 bis 1993 war er letztmalig Ministerpräsident, daraufhin bis zum Jahr 2000
Staatspräsident.
Mit Ahmet Necdet Sezer (* 1941) kam zum ersten Mal in der türkischen Geschichte kein Militär oder Parlamentarier in das Amt des Staatspräsidenten.
Im Jahr 2000 gewählt, war der promovierte Jurist zuvor unter anderem als Richter am Kassationsgericht sowie am Verfassungsgericht tätig. An
letzteres wurde er 1988 durch Kenan Evren berufen. Sezer war ein starker Befürworter des Laizismus in der Türkei, weshalb es wiederholt zu
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und der seit 2002 regierenden AKP kam bis Sezer 2007 aus dem Amt ausschied.
Der AKP-Politiker Abdullah Gül (* 1950) war von 2007 bis 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von November 2002 bis März 2003
Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Ziel dieser Regierung war es u.a., durch eine Gesetzesänderung die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum
Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Als dies gelang, wurde Gül unter Erdoğan Außenminister. In diesem Amt irritierte er nicht zuletzt mit einem
Unterstützungsaufruf für die islamistische Bewegung Millî Görüş. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ging er in Fragen der
Rechtsstaatlichkeit regelmäßig auf Distanz zu seinem Parteifreund Erdoğan. Das Verhältnis der beiden gilt heute als angespannt.
Recep Tayyip Erdoğan (* 1954) war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während Anhänger insbesondere den wirtschaftlichen Aufstieg des
Landes unter der Regierung seiner islamischen AKP loben, sorgen sein autoritärer Regierungsstil und seine Gesellschaftspolitik regelmäßig für
Kontroversen. In seine Amtszeit als Ministerpräsident und heute Staatspräsident fallen auch die drastische Einschränkung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Kritiker und Oppositionelle werden von ihm bis heute kriminalisiert. Gestützt wird Erdoğan zwar vornehmlich von konservativen
Wählern, er hat jedoch Anhänger in allen Bevölkerungsschichten: Sowohl die deutliche Verbesserung der Lebensqualität, der enorme Ausbau der
Infrastruktur und die politische Entmachtung des Militärs sind untrennbar mit seiner Person verbunden. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im
Jahr 2014 hat sich die Machtverteilung im politischen System der Türkei zusehends vom Amt des Ministerpräsidenten auf das Amt des Staatspräsidenten
verlagert. Durch die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zum Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 wird diese Machtverlagerung bis
zum Jahr 2019 auch de jure vollzogen. Danach wird es das Amt des Ministerpräsidenten nicht mehr geben. Der Staatspräsident wird dann auch
Regierungschef sein.
Die Gesetzgebung wurde durch eine aus den militärischen Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates gebildete Junta übernommen, kurz danach trat eine Beratende Versammlung hinzu, welche die Gesetze auszuarbeiten hatte und mit den Arbeiten für eine neue Verfassung beauftragt wurde.
Am 7.11.1982 wurde die neue Verfassung in einer Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit – eine Alternative gab es ohnehin nicht – gebilligt, die anstehenden Neuwahlen zur Interner Link: Großen Nationalversammlung der Türkei fanden am 6.10.1983 statt. Der auf Anordnung des Militärs ausgearbeitete neue Verfassungstext lehnte sich stark an der Verfassung von 1961 an, ein radikaler Systemwechsel war mit ihr nicht verbunden. Lediglich der Senat als Parlamentskammer wurde abgeschafft und somit das Ein-Kammer-System wiederhergestellt. Im weiteren Reformprozess wurde der Grundrechtsschutz wieder vollständig nach den bereits 1961 eingeführten Prinzipien gestaltet, die Rechtsweggarantie perfektioniert und durch die ausdrückliche Anordnung der Möglichkeit ergänzt, Rechtsstreitigkeiten auch in Schiedsverfahren beizulegen.
Aufgrund der Erfahrungen vor 1980 sah die Verfassung von 1982 ein differenziertes Notstandssystem vor. Es unterschied zwischen dem Notstand wegen der Ausbreitung von Gewalthandlungen (politischer Notstand) und dem Notstand wegen Naturkatastrophen oder einer Wirtschaftskrise. In besonderen schweren Fällen konnte auch die Ausnahmezustandsverwaltung ausgerufen werden, in welcher das Militär auch Verwaltungsaufgaben übernehmen und eine Notstandsgerichtsbarkeit eingerichtet werden konnte. Die vierte Variante waren Mobilmachung und Kriegszustand.
Kritiker bezeichneten die Verfassung von 1982 als Produkt des Militärs und bestritten daher ihre Legitimität: Die Volksabstimmung zu ihrer Verabschiedung sei durch die bis 1983 regierende Militär-Junta gesteuert worden, das Volk habe keine andere Alternative gehabt. Zudem habe es eine Abstimmungspflicht gegeben und die Medien hätten kaum die Möglichkeit gehabt, kritisch über die neue Verfassung zu berichten. Nur so sei die hohe Zustimmung von 91,37 Prozent zu erklären. Hinzu kommt – und dies ist der eigentliche Kern der Diskussion – dass die Autoren der Verfassung keine demokratische Legitimation hatten. Auf der anderen Seite kann argumentiert werden, dass die Türkei Mitte 1980 politisch handlungsunfähig war und bereits teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Selbst Notstands- und Ausnahmezustandsverwaltung – die bereits verhängt waren – hatten es nicht vermocht, die Krise zu bewältigen.
Die Kritik an der neuen Verfassung verstummte jedoch auch nicht, als sie sich mit Unterstützung eines progressiven Verfassungsgerichts zu dem entwickelte, was man sich bereits von der Verfassung von 1961 erhofft hatte, nämlich zu einer Verfassung, in welcher die Grundrechte effektiv garantiert wurden und Gesetzgebung und Exekutive in relativer Stabilität arbeiten konnten. Vor allem hatte selbst die Militärjunta 1980 weder die Justiz in ihren unabhängigen Strukturen, noch das Verfassungsgericht angerührt, das seine Tätigkeit ununterbrochen fortsetzen konnte. Ausgenommen davon waren lediglich die zwischen dem Putsch und der Wiederaufnahme der Tätigkeit der Großen Nationalversammlung im November 1983 erlassenen Gesetze, die in der Tat die Grundlage für ein stark autoritätsorientiertes Regime bildeten. Dieses Regime verhalf den Prinzipien des Nationalismus und des Laizismus zu einer bis dahin kaum gekannten Rigidität (Einführung der Staatssicherheitsgerichte, Antiterrorgesetz, Sprachenverbotsgesetz u.a.), enthielt aber auch wichtige Reformansätze (Umweltrecht, Reform der Polizei, Internationales Privatrecht u.v.a.m.). Geradezu symbolisch für die Zukunft dieser Verfassung war jedoch, dass es dem gläubigen Muslim und früheren Spitzenbeamten Turgut Özal gegen den Widerstand der Generäle gelang, mit einer neuen Bewegung auf Anhieb die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erlangen – der Interner Link: "Mutterlandpartei" (Anavatan Partisi – ANAP).
Eine weitere Neuerung war die Einführung einer Sperrklausel, die nur denjenigen Parteien den Einzug ins Parlament gewährte, die landesweit mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten. Mit der Hürde sollte verhindert werden, dass Splitterparteien zu entscheidenden Faktoren in wechselnden Koalitionsregierungen werden konnten. Tatsächlich hatte die Maßnahme den gewünschten Erfolg, auch wenn die Zeit zwischen 1991 und 2002 von wechselnden, aber durchaus erfolgreichen Koalitionsregierungen geprägt war. Seit 2002 regiert die Interner Link: AKP allein. Sie hat seither ihren Charakter als breite Sammlungsbewegung verloren und verfolgt einen strikt konservativ-islamischen Kurs, was auch Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Religion und Staat hat.
InfoboxVerfassungsänderungen 1987 bis 2010
Die Verfassung von 1982 hat sich bis zum Systemwechsel 2017 in mehreren Reformschüben weiterentwickelt. Die wichtigsten Reformen im Überblick:
1987
Das Verfassungsreferendum wird eingeführt.
1993
Das Staatsmonopol in Funk und Fernsehen wird aufgehoben.
1999
Keine Militärrichter und Militärstaatsanwälte an Staatssicherheitsgerichten mehr, Grundlage für Privatisierung staatlicher Unternehmen, ausdrückliche Aufnahme der Schiedsgerichtsbarkeit.
2001
Grundrechtsschutz wird erweitert (insbesondere Einführung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Wesensgehaltsgarantie), Klarstellung und Beschränkung der Voraussetzungen für Parteiverbote, zivile Mitglieder im Nationalen Sicherheitsrat erhalten Mehrheit, gesetzliche Regelungen aus der Übergangszeit nach dem Putsch 1980 werden verfassungsgerichtlicher Kontrolle zugänglich gemacht.
2004
Todesstrafe wird endgültig aufgehoben, Staatssicherheitsgerichte abgeschafft, internationale Abkommen mit Bezug zu Menschenrechten erhalten ausdrücklich Vorrang vor den Gesetzen.
2006
Passives Wahlrecht zum Abgeordneten von 30 auf 25 Jahre gesenkt.
2007
Amtszeit des Staatspräsidenten statt einmalig sieben Jahre auf höchstens zwei Mal fünf Jahre geändert (erstmals auf Recep Tayyip Erdoğan angewendet), Staatspräsident wird durch das Volk gewählt, Aufweichung des Quorums im Parlament.
2010
Stärkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, Beschränkung der Reisefreiheit nur noch bei Strafverfolgung, Erweiterung der Gewerkschaftsrechte, Parteiverbot führt nicht mehr zum Verlust des Mandats, Rechtsweg gegen Entscheidungen des Hohen Militärrats eröffnet, Stärkung des Rechtsschutzes der Beamten, Beschränkung der Befugnisse der Militärgerichte auf rein militärische Angelegenheiten, Einführung der Verfassungsbeschwerde (effektiv seit Herbst 2012), Erhöhung der Zahl der Verfassungsrichter auf 17, Wegfall der "Ersatz-Verfassungsrichter", Beschränkung der Amtszeit der Verfassungsrichter auf 12 Jahre, Hoher Richter- und Staatsanwälterat: Erhöhung der Mitgliederzahl, Änderung des Wahlmodus, gegen Richter- und Staatsanwälteentlassungen wird der Rechtsweg eröffnet; Zahl der Mitglieder des Hohen Richter- und Staatsanwälterates wird erhöht, der Strafrechtsweg gegen die Akteure der Junta 1980 wird eröffnet.
Insgesamt lässt sich also eine positive Entwicklung erkennen, welche vor allem auf die Stärkung des Grundrechtsschutzes und die Zurückdrängung des Einflusses des Militärs gerichtet ist. Hervorzuheben im Sinne einer Systemveränderung ist die an das französische Modell angelehnte Präsidentenwahl durch das Volk (vorher: Parlament) und die zwei Amtszeiten. Allerdings arbeitete die AKP bereits seit 2010, also seit der letzten Reform, an der nunmehr vollzogenen Systemveränderung.
Volkes Wille: Die Verfassungsreform im Jahr 2017
Am 16. April 2017 billigten 51,4 Prozent der türkischen Wähler die von der AKP-Regierung ausgearbeitete Verfassungsänderung. Sie hat zu einem umfassenden Systemwandel geführt, der von der politischen Führung zu Gunsten einer effizienteren Staatsführung propagiert worden war. Zum Teil wurden die Änderungen sofort umgesetzt (Wiederaufnahme des Präsidenten in die AKP, Umstrukturierung des (ehemals Hohen) Interner Link: Richter- und Staatsanwälterats), zum Teil treten sie erst mit den für November 2019 vorgesehenen Wahlen in Kraft (Interner Link: Abschaffung des Ministerrates, mögliche Regierung des Präsidenten durch Präsidialverordnungen).
In der Türkei war bis 2017 der Ministerpräsident der politisch einflussreichste Amtsträger. Welche Personen auf diesem Posten haben die Türkei seit ihrer Republikwerdung 1923 geprägt?
İsmet İnönü (* 1884 † 1973), Militär- und Weggefährte Mustafa Kemal Atatürks, war von 1923 bis 1924 erster Ministerpräsident der Türkei. In
den Jahren 1925 bis 1937 sowie von 1961 bis 1965 übte er dieses Amt erneut aus. Zwischenzeitich war der CHP-Politiker, nach Atatürks Tod im Jahr
1938, auch Staatspräsident der Türkei. Er begann eine Demokratisierung des Landes und versuchte einen Ausgleich zwischen Laizismus und Islam.
Adnan Menderes (* 1899 † 1961, im Bild mit Bundeskanzler Konrad Adenauer 1958 in Bonn) war der erste frei gewählte Ministerpräsident der Türkei.
Als Mitglied der damaligen Demokrat Parti (DP) regierte er von 1950 bis 1960. Seine Amtszeit wurde durch den Militärputsch im Jahr 1960 beendet.
Menderes wurde verurteilt und hingerichtet: Der zweite Ministerpräsident der Türkei war ein Gegner des vorherrschenden Laizismus und forderte die
Rückkehr zum islamisch geprägten Staat. Zudem ereignete sich während seiner Amtszeit das Istanbuler Pogrom an griechischen Christen. In der
heutigen Türkei ist Adnan Menderes Ansehen wieder hergestellt. Bei konservativen Gesellschaftsschichten hat er sogar einen prominenten Status - ein
Zustand, der stark von Regierungsseite aus befördert wurde. Nach ihm sind Straßen, eine Universität und der Flughafen von Izmir benannt.
Süleyman Demirel (* 1924 † 2015) regierte als Ministerpräsident zunächst von 1965 bis zum zweiten Militärputsch 1971. Von 1975 bis Juni 1977 und
von Juli bis Dezember 1977 sowie von 1979 bis zum dritten Militärputsch 1980 war er wiederholt Chef verschiedener, stets fragiler
Koalitionsregierungen. Als Politiker der 1981 aufgelösten, nationalkonservativen Adalet Partisi (AP), später als Doğru Yol Partisi (DYP)
neugegründet, betrieb er eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Von 1991 bis 1993 war er letztmalig Ministerpräsident, daraufhin bis zum Jahr 2000
Staatspräsident.
Der Journalist, Schriftsteller und Kemalist Bülent Ecevit (* 1925 † 2006) war insgesamt vier Mal Ministerpräsident der Türkei. Nachdem der
CHP-Politiker 1974 erstmalig regierte, wechselte er sich in den späten 1970er-Jahren mehrfach mit Süleyman Demirel ab. Wie sein politischer
Kontrahent hatte auch er unter den repressiven Konsequenzen des dritten Militärputschs durch General Kenan Evren im Jahr 1980 zu leiden. Später
gründete er die Demokratische Linkspartei (DSP), mit der er zwischen 1999 und 2002 letztmalig als Ministerpräsident regierte.
Mit dem Wahlsieger des Jahres 1983, Turgut Özal (* 1927 † 1993), endete eine dreijährige Militärherrschaft. Als Ministerpräsident versuchte sich
der Politiker der Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei") an einer Übereinkunft mit den Armeniern und einer Aufarbeitung des Völkermords. Özal
bemühte sich außerdem um eine Entschärfung des Kurdenkonflikts - eine Politik, die in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten war.
Aufgrund zahlreicher Widerstände blieben diese Bemühungen jedoch weitestgehend erfolglos. Später zum Staatspräsident ernannt, endete seine
Amtszeit 1993 mit seinem plötzlichen Tode. Der dringende Verdacht, dass Özal vergiftet wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Die erste und bisher einzige Frau im Amt des türkischen Ministerpräsidenten: Tansu Çiller (* 1946) regierte von 1993 bis 1996. Die türkische "Iron
Lady" und DYP-Politikerin brachte viele wirtschaftspolitische Reformen auf den Weg und sprach sich für einen EU-Beitritt der Türkei aus. Wiederholt
musste sie sich allerdings auch mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen. Später, nach dem Bruch ihrer Regierungskoalition im Jahr 1996, war sie
bis 1997 Außenministerin unter Necmettin Erbakan.
Necmettin Erbakan (* 1926 † 2011), von 1996 bis 1997 Ministerpräsident der Türkei, gilt als politischer Ziehvater Recep Tayyip Erdoğans. Dessen
AKP ging im Jahre 2001 aus dem Reformflügel von Erbakans islamistischer "Wohlfahrtspartei" (Refah Partisi) hervor. Bereits 1970 gründete er die
erste Parteiorganisation der extremistischen Millî-Görüş-Bewegung. Programmatisch tonangebend war für den überzeugten Konservativen ein
nationalistisch gefärbter Islamismus. Diesen führte er regelmäßig gegen liberale Wertvorstellungen ins Feld. In seiner Ablehnung des Laizismus
geriet er regelmäßig mit der kemalistischen Staatsdoktrin in Konflikt. Erbakan verlor sein Amt durch den "Sanften Putsch" im Jahr 1997, bzw. musste
auf Druck der Militärs zurücktreten. Seine Partei wurde verboten.
Auch Mesut Yılmaz (* 1947, Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei")) war mehrfach Ministerpräsident der Türkei. Erstmalig von Juni bis Oktober
1991, dann erneute für nur einige Monate 1996 und schließlich nach dem von den Militärs erzwungenen Rücktritt Necmettin Erbakans von 1997 bis
1999. Zur Parlamentswahl 2007 trat Yilmaz als unabhängiger Kandidat an und wurde in die türkische Nationalversammlung gewählt, aus der er 2011
wieder ausschied. Der Volkswirt Yılmaz ist Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, studierte in den 1970er-Jahren in Köln, war von 2003 bis 2004 an
der Ruhr-Universität Bochum als Gastdozent tätig und spricht fließend deutsch.
Der AKP-Politiker Abdullah Gül (* 1950) war von 2007 bis 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von November 2002 bis März 2003
Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Ziel dieser Regierung war es u.a., durch eine Gesetzesänderung die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum
Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Als dies gelang, wurde Gül unter Erdoğan Außenminister. In diesem Amt irritierte er nicht zuletzt mit einem
Unterstützungsaufruf für die islamistische Bewegung Millî Görüş. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ging er in Fragen der
Rechtsstaatlichkeit regelmäßig auf Distanz zu seinem Parteifreund Erdoğan. Das Verhältnis der beiden gilt heute als angespannt.
Recep Tayyip Erdoğan (* 1954) war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während Anhänger insbesondere den wirtschaftlichen Aufstieg des
Landes unter der Regierung seiner islamischen AKP loben, sorgen sein autoritärer Regierungsstil und seine Gesellschaftspolitik regelmäßig für
Kontroversen. In seine Amtszeit als Ministerpräsident und heute Staatspräsident fallen auch die drastische Einschränkung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Kritiker und Oppositionelle werden von ihm bis heute kriminalisiert. Gestützt wird Erdoğan zwar vornehmlich von konservativen
Wählern, er hat jedoch Anhänger in allen Bevölkerungsschichten: Sowohl die deutliche Verbesserung der Lebensqualität, der enorme Ausbau der
Infrastruktur und die politische Entmachtung des Militärs sind untrennbar mit seiner Person verbunden. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im
Jahr 2014 hat sich die Machtverteilung im politischen System der Türkei zusehends vom Amt des Ministerpräsidenten auf das Amt des Staatspräsidenten
verlagert. Durch die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zum Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 wird diese Machtverlagerung bis
zum Jahr 2019 auch de jure vollzogen. Danach wird es das Amt des Ministerpräsidenten nicht mehr geben. Der Staatspräsident wird dann auch
Regierungschef sein.
Von 2014 bis 2016 war Ahmet Davutoğlu (* 1959) Ministerpräsident der Türkei. Davutoğlu ist Politikwissenschaftler und arbeitete als Professor an
verschiedenen Universitäten. Nach dem Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 wurde er zuerst außenpolitischer Berater Erdoğans, später Botschafter. 2009
machte Erdoğan ihn zum Außenminister: Bereits 2001 hatte Davutoğlu das Buch Stratejik Derinlik (Strategische Tiefe) veröffentlicht. Darin
erklärte er eine neue außenpolitische Strategie für die Türkei. Das Ziel war, alle Konflikte mit den Nachbarländern beizulegen und regional wie
global eine führende internationale Rolle einzunehmen: Anfänglich konnte Davutoğlu mit dieser Politik Erfolge erzielen, heute sind die Beziehungen
zu beinahe allen Nachbarstaaten der Türkei sowie zu wichtigen politischen und Handelspartnern schwer beschädigt oder zumindest stark belastet.
Binali Yıldırım (* 1955) wird wohl als letzter Ministerpräsident der Türkei in die Geschichte eingehen. Seit 2016 ist der AKP-Politiker
Ministerpräsident und Regierungschef der Türkei. Mit dem Amt des Ministerpräsidenten übernahm er auch das des Parteivorsitzenden der AKP von
seinem Vorgänger Ahmet Davutoğlu. Den Parteivorsitz hat Staatspräsident Erdoğan bereits im Mai 2017 wieder übernommen. Die Kompetenzen des
Regierungschefs sollen bis 2019 auf das Amt des Staatspräsidenten übertragen werden. Yıldırım gilt als Anhänger Erdoğans und hat sich –
anders als andere prominente AKP-Politiker – nie kritisch gegenüber Staatspräsident Erdoğan geäußert. Dementsprechend warb Binali Yıldırım
auch uneingeschränkt für das Verfassungsreferendum im April 2017 – und damit für die Abschaffung seines eigenen Amtes. Yıldırım wird aktuell
als schwacher Ministerpräsident eingeschätzt. Die Richtlinien der Politik des Landes werden von Staatspräsident Erdoğan bestimmt.
Im Kern führte die Verfassungsänderung zur Konzentration der Macht auf eine einzige Person, nämlich den Präsidenten der Republik: Die richterliche Kontrolle seiner Handlungen ist geschwächt worden, seine Ernennungs- und Eingriffsbefugnisse sind deutlich weitreichender als bisher. Die Justiz wird faktisch von ihm kontrolliert. Die auf den Grundlagen der parlamentarischen Demokratie beruhende Verfassung von 1982 hat sich damit in eine Präsidialverfassung verwandelt, die den oft gezogenen Vergleichen mit der US-amerikanischen und der französischen Verfassung nicht standhält.
Das Neutralitätsprinzip ist abgeschafft. Als Mitglied und ggf. Vorsitzender einer politischen Partei erhält der Präsident Einfluss auf das Parlament.
Abgeschafft wurde die Militärgerichtsbarkeit, die bisher Teil der Justiz war. Diese Reform schließt den Prozess der von der EU geforderten Entmachtung des Militärs ab. Änderungen gab es auch im Zusammenhang mit dem Nationalen Sicherheitsrat. Der Kommandeur der Gendarmerie ist nicht mehr Mitglied. Hinzugekommen sind dafür die Stellvertreter des Präsidenten.
Laut Verfassung sind die Universitäten weiterhin autonom. Allerdings hat sich der durch die Militärjunta 1981 eingeführte Hochschulrat (Yüksek Öğretim Kurulu)
zu einem durch den Präsidenten gesteuerten, scharfen Kontrollorgan entwickelt, das eine Gefahr für die Freiheit von Forschung und Lehre darstellt.
Zusammenfassung
Seit Gründung der Republik kann man von einer kontinuierlichen Verfassungsentwicklung in der Türkei sprechen, die teilweise durch Eingriffe des Militärs nicht behindert, sondern im Ergebnis gefördert wurde. Das Ende der Entwicklung zugunsten eines freiheitlich demokratischen Rechtsstaates kann man mit der Änderung 2010 festlegen. Diese auch der AKP zurechenbare Erfolgsgeschichte wird mit der "Reform" 2017, welche als grundlegende Systemänderung zu begreifen ist, infolge einer massiven Verschiebung der Kräfte zulasten demokratischer Prozesse jedoch zunichte gemacht. Ihr Fortbestand ist abhängig von der Persönlichkeit und der Bereitschaft des Präsidenten der Republik, die Verfassung, die wahre Unabhängigkeit der Justiz und das Parlament als Volksvertretungsorgan zu respektieren.
Prof. Dr. Christian Rumpf ist Rechtsanwalt und Experte für türkisches Recht. Er lehrt an der Universität Bamberg und forscht seit den 1980er-Jahren zur türkischen Verfassung.
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