Literaturproduktion in der Türkei war – und ist zu einem gewissen Teil bis heute – politisch. Der türkische Roman blickt dabei auf eine komplexe, etwa Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Geschichte zurück. Seine Genese ist in der Türkei – bzw. damals noch dem Osmanischen Reich – eine andere als in Europa, wo sich der Roman bereits im 17. Jahrhundert entwickelte. Im Osmanischen Reich war der Roman als Genre hingegen ein "Importprodukt" im Rahmen der staatlichen Reformen zur Europäisierung. Er traf auf die klassische Erzählliteratur, die von einigen der ersten Romanschriftsteller im direkten Vergleich zunächst als rückständig angesehen wurde
Moderne türkische Literatur entwickelte sich in der multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft des damaligen Osmanischen Reiches. Sie wurde in verschiedenen Sprachen und Schriften verfasst. Der Roman "Akabi Hikayesi" (Die Geschichte von Akabi) von Hovsep Vartanian (auch als Vartan Paşa
Diese Form der Multikulturalität, die sich wenige Jahrzehnte später in den kunstvollen, kurz vor der Jahrhundertwende entstandenen Romanen der Literaturströmung "Edebiyat-ı Cedide" ("Neue Literatur", 1896-1901) von Autoren wie Uşaklıgil spiegelt, findet sich auch in der türkischen Literatur der Gegenwart wieder. Zeitgenössische Autorinnen wie Elif Şafak und Aslı Erdoğan stehen für eine ebenso kosmopolitische, um eine globale Dimension erweiterte Literatur, die sich jenseits nationaler Grenzen bewegt. So spannt sich zwischen der Literatur um 1900 und 2000 ein hundertjähriger Bogen.
Zur Herausbildung eines Kanons und Rolle der türkischen Literatur
Auch wenn die Geschichte des türkischen Romans zurück ins 19. Jahrhundert reicht, bildete sich, wie die Komparatistin Jale Parla bemerkt, ein literarischer Kanon – eine Richtschnur oder eine Art allgemeiner Konsens über die wichtigsten Werke der türkischen Literatur – erst in den 1980er-Jahren heraus. Diese Entwicklung ging mit umfassenden literaturwissenschaftlichen Analysen einher, beginnend mit dem bis heute einflussreichen Band "Türk romanına eleştirel bir bakış" (Der türkische Roman, 1984) des türkischen Anglisten Berna Moran
Als einen wesentlichen Grund für dieses Phänomen der späten Kanonbildung nennt Parla die Brüche, die sich aus der Transformation vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat Türkei ergaben. Traditionell wurde der türkische Roman zunächst vor allem als Mittel zur Verbreitung sozialer Reformen, zum Transport neuen Gedankenguts für eine Gesellschaft im Umbruch betrachtet. Dieser Trend setzte sich in der frühen kemalistischen Zeit fort, begleitete, stützte und forderte die
Der damalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül und der damalige Bundespräsident Horst Köhler auf der Frankfurter Buchmesse 2008 im Pavillon des Gastlandes Türkei. (© picture-alliance/dpa)
Der damalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül und der damalige Bundespräsident Horst Köhler auf der Frankfurter Buchmesse 2008 im Pavillon des Gastlandes Türkei. (© picture-alliance/dpa)
Mit vielen Übersetzungen international anerkannter Autoren ist die türkische Literatur längst ein Teil der Weltliteratur. In Deutschland hat etwa die Buchmesse 2008 – mit Türkei als Gastland – einen neuen Impuls zur breiteren Übersetzung türkischer Literatur gesetzt. Ebenso förderlich war etwa die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Yaşar Kemal (1997) und Orhan Pamuk (2005) sowie die Publikation der "Türkischen Bibliothek", in der die wichtigsten Werke der modernen türkischen Literatur der deutschen Leserschaft zugänglich wurden.
Innerhalb der Türkei ist die Bedeutung der Literatur hoch. Es gibt eine beeindruckende Vielzahl an Literaturzeitschriften und wöchentlicher Literaturbeilagen großer Tageszeitungen. Dass Literatur zunehmend auch für die offizielle Seite an Relevanz gewinnt, zeigt das 2005 ins Leben gerufene Externer Link: TEDA-Projekt des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus, das literarische Übersetzungen ins Türkische und aus dem Türkischen fördert. Der vom genannten Ministerium gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt, der Robert Bosch Stiftung und der S. Fischer Stiftung seit 2010 vergebene deutsch-türkische "Übersetzerpreis Tarabya" spiegelt diese Tendenz.
Zentrale Strömungen moderner türkischer Literatur
Orhan Pamuk auf der Pressekonferenz anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2005. (© picture-alliance)
Orhan Pamuk auf der Pressekonferenz anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2005. (© picture-alliance)
Zum anderen fällt die avantgardistische "Neue Literatur" in diese Zeit: Lag in der traditionellen osmanisch-islamischen Literatur ein Schwergewicht auf der Rhetorik, so trat nun der Inhalt verstärkt in den Vordergrund. Viele Romane der ersten Stunde – und dann auch wieder der republikanischen Zeit (also ab 1923) – waren bestrebt, einen didaktischen Auftrag zu erfüllen. Dieser bestand darin, den nicht zuletzt zum Erhalt des Reiches als notwendig erkannten Modernisierungsprozess – oder später dann den neuen Nationalgedanken – unters Volk zu bringen. So stand zunächst auch eine Vereinfachung der Sprache im Vordergrund. Dieser Entwicklung entzogen sich die Autoren der "Neuen Literatur" der 1890er-Jahre jedoch bereits wieder und erschufen stattdessen eine gleichsam neue, kunstvolle Sprache, indem sie den Reichtum des osmanischen Vokabulars voll ausschöpften und mit neuen Wortkreationen und eigener Stilistik dem türkischen Roman einen frühen Höhepunkt bescherten.
In den 1860er- und 1870er-Jahren suchten die Jungosmanen – eine von einer Handvoll Intellektueller gegründete Organisation, die bald ins europäische Exil ging – nach einem Optimum zwischen jenem Grad an Verwestlichung, der akzeptabel und nützlich war, und jenem Grad an Tradition, der zugleich notwendig erschien, um die Basis des osmanischen Staates zu erhalten und in die Zukunft zu heben. Namık Kemal (1840-1888), eines der Gründungsmitglieder, gehörte – zusammen mit Ahmet Mithat (1844-1912) – zu den bedeutendsten türkischen Literaten seiner Zeit. Ein – auch in sprachlicher Hinsicht – Meisterwerk dieser Periode und des Spiels mit übersteigerter Form der Verwestlichung ist "Araba Sevdası" (Eine Liebe für Kutschen, 1896). Sein Autor, Recaizade Mahmut Ekrem, gehörte neben Uşaklıgil, Mehmet Rauf und Nabizade Nazım zu den wichtigen Vertretern der "Neuen Literatur" – auch "Servet-i Fünun" genannt nach der gleichnamigen Zeitschrift, welche mit ihrem neuen Herausgeber ab 1896, dem Dichter Tevfik Fikret, ein einflussreiches Sprachrohr für die damaligen Autoren wurde.
Eine gerade in den letzten Jahren wieder ins Bewusstsein gerückte Autorin, deren Werke seit den 1990er-Jahren vermehrt ins heutige Türkisch übertragen wurden, ist Fatma Aliye (1862-1936), eine große Verehrerin Ahmet Mithats, der die Erzählungen Fatma Aliyes, seiner "Tochter im Geiste", seinerseits schätze.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich die Autorin Fatma Aliye (1862-1936) literarisch mit der Rolle der Frau in der osmanischen Gesellschaft. (© Wikimedia)
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich die Autorin Fatma Aliye (1862-1936) literarisch mit der Rolle der Frau in der osmanischen Gesellschaft. (© Wikimedia)
Ihr Werk Nisvan-i Islam (Muslimische Frauen, 1892) wurde ins Arabische und ins Französische übersetzt
Die
Zu den bekanntesten und interessantesten Werken dieser Periode zählt der bereits kurz nach seinem Erscheinen ins Deutsche übertragende Roman "Yaban" (Der Fremdling, 1932) von Yakup Kadri Karaosmanoğlu, der zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges spielt. Das Buch handelt von der Problematik der offenkundigen Unvereinbarkeit einer über Jahrhunderte von der Obrigkeit vernachlässigten, ums Überleben kämpfenden und religiösen Riten anhängenden anatolischen Landbevölkerung einerseits und einer die neue Nation gestalten wollenden, streng säkular ausgerichteten kemalistischen Elite andererseits. Dass der Roman bis heute gelesen und diskutiert wird, liegt an seiner Vielschichtigkeit, die er trotz seiner Mission, dem Leser den Gedanken der neuen Nation nahezubringen, zweifelsohne besitzt.
Die neue Sprache
Es folgte der Anatolische Soziale Realismus der 1950er- bis 1970er-Jahre, welcher die Hinwendung zur anatolischen Lebenswelt beinhaltete. In diese Zeit fallen große Autorennamen wie Interner Link: Nazım Hikmet mit seinem bereits in den 1940er-Jahren verfassten, posthum erschienenen Werk "Memleketimden İnsan Manzaraları" (Menschenlandschaften 1966-67), Kemal Tahir sowie viele der Werke Yaşar Kemals, der nicht nur den Topos, sondern auch die Sprache Anatoliens in die Literatur transferierte und in die Welt trug.
Die zeitlich folgende "Zwischenputschliteratur" fällt in die Periode zwischen den beiden Militärputsche vom 12. März 1971 und dem 12. September 1980. Erdağ Göknar betitelt diese Phase treffend als Existentialismus und Feminismus: Marginalisierte Stimmen. Einer der wichtigsten, sich jeglicher Kategorisierung entziehenden Schriftsteller dieser Zeit ist Oğuz Atay. Sein metafiktional erzählter, experimenteller Roman "Tutunamayanlar" (Die Haltlosen, 1971) sprengte alle mit der Republikgründung auferlegten sprachlichen Grenzen und nahm großen Einfluss auf nachfolgende Schriftstellergenerationen. Diese Zeit steht bereits für eine Überwindung vorheriger Tabus und den verstärkten Einbezug feministischer Themen. Besonders spannend ist der Roman Ölmeye Yatmak (Sich hinlegen und sterben, 1973) der Autorin Adalet Ağoğlu. Sie thematisiert die persönliche Emanzipation einer Professorin, die sich eines Mittags in ein Hotel in Ankara zurückzieht, um zu sterben bzw. ihr Leben zu reflektieren. Außerdem wird anhand von Erinnerungen der Protagonistin an ihre Grundschulzeit die Sozialisierung der ersten republikanischen Generation in den 1930er-Jahren in die erzählerische Gegenwart gehoben. Einer Generation, die hin und her gerissen ist zwischen der nach vorne gerichteten, hoch dominanten und dabei neue Möglichkeiten schaffenden
Der Militärputsch von 1980 ist als Zäsur in die türkische Literaturwissenschaft eingegangen. Der gewaltsame Putsch, der sich gegen "linke und rechte politische Extremisten" gleichermaßen richtete, gilt bis heute als einer der tiefsten Einschnitte in der türkischen Geschichte
Diese Faktoren trugen dazu bei, dass sich in der Literatur stilistisch-experimentelle, neue und thematisch vielfältige Formen durchsetzten. Bereiche, die lange Zeit als Gefährdung des kemalistischen Nationalgedankens wahrgenommen wurden, z.B.
Zentrale Autoren der Periode des Post-Kemalismus und Neo-Osmanismus: Metafiktionen (1981-99) sind Orhan Pamuk und Latife Tekin. Ihre Werke waren in Form und Inhalt neu und herausfordernd genug, um eine bahnbrechende Wende in der modernen türkischen Literatur zu bewirken. Auch Hasan Ali Toptaş verdient Erwähnung: Sein Roman "Gölgesizler" (Die Schattenlosen, 1995) wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hymnisch als "poetisches Meisterwerk" gepriesen, als "Weltliteratur, die gleichwohl ihre Herkunft nicht zu verleugnen braucht" und den magischen Realismus neu erfunden habe. Murathan Mungan gehört zu den bekanntesten Schriftstellern in der Türkei. In einigen seiner komplexen, teils vergangene Mythen aufgreifenden und in die Gegenwart tragenden Werke ist das arabisch-kurdische Erbe seiner eigenen Familie eingeflossen. Ein Erbe, zu dem er sich so bewusst bekennt, wie zu seinen politischen Ansichten und zu seiner Homosexualität. Wie auch die Lyrikerin Gülten Akın ist Mungan Träger des seit 2008 jährlich vom Can Verlag vergebenen Erdal Öz-Literaturpreises.
Hakan Günday während einer Lesung auf der lit.Cologne im März 2014. (© picture-alliance)
Hakan Günday während einer Lesung auf der lit.Cologne im März 2014. (© picture-alliance)
Für die jüngste Autorengeneration wählt Göknar den Begriff Transnationalismus und Überschreitung: Schreiben jenseits der Nation (ab 2000). Die Überschrift ist hier Programm: Hervorgehoben sei hier exemplarisch – neben den einleitend erwähnten Autorinnen – Murat Uyurkulaks Roman "Tol" (kurd. Rache; auf Deutsch erschienen unter dem Titel "Zorn", 2002), in dem auf poetische, tabulose und teils ins Phantastische gleitende Weise die multikulturelle Geschichte der Türkei neu erzählt und von der türkischen Literaturkritik gefeiert wurde. Zusammen mit den neuesten Namen der türkischen Literatur wie dem 1976 geborenen Kultautor Hakan Günday steht er dafür, was in der zeitgenössischen Literatur alles möglich ist im Spannungsfeld zwischen Lokalem und Globalem, türkischer und Weltliteratur, Vergangenheit und Gegenwart, oder: wie es der Zukunft gelungen ist, die Herkunft zurückzuerobern.