Der Konflikt um die Volksgruppe der Kurden ist sowohl historisch gewachsen als auch ein internationaler Konflikt. Der Vormarsch der islamistischen
Grenzüberschreitender regionaler Gewaltkonflikt mit historischer Verwurzelung
Der Kurdenkonflikt im Nahen Osten ist ein historisch tief verankerter und grenzüberschreitender, ein transnationaler Konflikt. Er ist nicht nur auf die Türkei begrenzt, sondern erstreckt sich auch auf Syrien, den Iran und den Irak. Im Kern ist er eine historische Erblast und Folge der Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg und des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches: Selbstbestimmung und die Gründung eines eigenen Nationalstaates wurde den Kurden verweigert. Sie selbst wurden durch die willkürlichen Grenzziehungen auf diese vier Staaten verteilt.
Kurden
Kurden sind eine westasiatische Ethnie, die in der Türkei, im Irak und Iran sowie in Syrien eine große Volksgruppe bildet. Die Ursprünge der Konflikts um die Kurden lassen sich im Wesentlichen auf den Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem 1. Weltkrieg zurückführen. Waren die Kurden bis dahin eine von vielen Volksgruppen nebeneinander, traten nun vor allem Türken, Araber, Perser und
Die Kurden, deren Gesamtzahl im Nahen Osten heute auf ca. 30 Millionen geschätzt wird, erhielten weder einen Minderheiten- noch einen Autonomiestatus. In keinem der vier Staaten wurden sie als eigene Volksgruppe anerkannt, stattdessen verlangte man von ihnen eine Assimilierung an die Mehrheitsgesellschaft, was jedoch auf den massiven Widerstand der Kurden stieß. Jahrelange politische, gesellschaftliche und auch militärische Repression und Kontrollen führten in diesen Staaten zu kurdischen Nationalbewegungen, die heute in unterschiedlicher Intensität und auf unterschiedliche Art und Weise - auch unter Nutzung von Gewalteinsatz - für Autonomie kämpfen.
Vor allem regionale Entwicklungen wie der Golfkrieg 1991 und der Irakkrieg 2003 hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklungen im Kurdenkonflikt. So hatte der Golfkrieg im Jahre 1991 eine Internationalisierung des Kurdenkonfliktes zur Folge, der bis dahin primär als innere Angelegenheit der betroffenen Staaten angesehen wurde. Zugleich schuf der Krieg die Grundlagen für die Entstehung eines Autonomiegebietes im Norden des Irak, der in Folge des Irakkrieges im Jahre 2003 eine verfassungsmäßige Anerkennung und Konsolidierung erfuhr. In den kurdischen Gebieten im Norden Syriens hat die syrisch-kurdische PYD (Partei der Demokratischen Union, ein Ableger der PKK) in den Wirren des Bürgerkrieges eine kurdische Lokalautonomie errichtet und bemüht sich derzeit um eine Konsolidierung dieser Selbstverwaltung.
Der Kurdenkonflikt tangiert nicht nur die innere Verfasstheit, die regionalen Beziehungen der betroffenen Staaten und den regionalen Frieden. Auch hat er Auswirkungen auf das türkisch-europäische Verhältnis und das Zusammenleben von türkischen und kurdischen Communities, die seit Jahrzehnten und in mehreren Generationen in Deutschland und anderen EU-Staaten leben. Ohne eine friedliche Regelung des Gesamtkonfliktes wird ein Friedenszustand weder in der Türkei noch im Nahen Osten zu erreichen sein.
Staatsideologische Grundlagen, Politik der Assimilierung und die ethnopolitische Mobilisierung der Kurden
Die Gründung des türkischen Nationalstaates im Jahre 1923 bedeutete für die in der Türkei lebenden 12 bis 15 Millionen Kurden eine wichtige Zäsur: In der türkischen Verfassung stand von Beginn an der Nationalismus, die nationale Einheit, als das erste der sechs Prinzipien des Kemalismus festgeschrieben. So heißt es auch heute im Artikel 3 der Verfassung: "Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes. Seine Sprache ist Türkisch." Im neuen zentralistisch organisierten Einheitsstaat wurde nicht nur die Tradition der autonomen Selbstverwaltung der kurdischen Fürstentümer während der Herrschaft des Osmanischen Reiches abgeschafft. Die Existenz einer kurdischen Minderheit wurde geleugnet, ihre Zwangsassimilierung durch eine qualitativ neue und systematische Politik unterfüttert und mit einer sozio-ökonomischen Vernachlässigung des mehrheitlich kurdisch bewohnten Ostens und Südostens der Türkei durchgesetzt. Die Folge waren zahlreiche lokal begrenzte kurdische Aufstände in den 1920er- und 1930er-Jahren. Die Quellen des türkischen Generalstabs sprechen von bis zu 30 kurdischen Aufständen im Zeitraum von 1924-1938. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde über das gesamte kurdische Siedlungsgebiet der Türkei in Ost- und Südostanatolien der Ausnahmezustand verhängt, der erst Anfang der 2000er-Jahre wieder aufgehoben wurde. Die staatliche Politik der aufgezwungenen Assimilierung und sogar auch Gewaltanwendung wurde durch die neue, nach dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk auch "kemalistisch" genannte Staatsideologie legitimiert: Die wesentlichen Grundlagen waren ein rigides Nations- und Staatskonzept, ein unabänderlicher Verfassungsgrundsatz der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk sowie ein restriktiver Minderheitenbegriff. Der Herrschaftsanspruch des zentralistischen Einheitsstaates und seiner Einheitsideologie wurde und wird auch heute durch den unabänderlichen Verfassungsgrundsatz von der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk gesichert. Vor allem dieser Verfassungsgrundsatz, der sich auch gegenwärtig konsequent auf Gesetzesebene in zahlreichen Vorschriften (z.B. im Strafgesetzbuch, im Antiterrorgesetz und im Parteiengesetz) wiederfindet, hat weitreichende Auswirkungen: Sein Gültigkeitsbereich ist nicht klar definiert, so dass Grundrechte leicht beschnitten werden können, wie z. B. die Presse- und Meinungsfreiheit. Er ist beispielsweise schon dann berührt, wenn ethnische Minderheiten kulturelle Autonomie oder Selbstverwaltungsrechte fordern. Die Minderheitenklauseln des Lausanner Friedensvertrages von 1923 beziehen sich jedoch lediglich auf die nichtmuslimischen Minderheiten (Griechen, Armenier, Juden). Die Kurden gelten in der Türkei damit nicht als Minderheit.
Diese staatsideologisch legitimierte repressive Leugnung- und Assimilationspolitik löste die ethnopolitische Mobilisierung der Kurden aus und ist eine der Hauptursachen der Konfliktgenese. Auch die Gründung der militanten PKK ist in diesen Gesamtkontext einzuordnen.
Erst das Ende des Kalten Krieges und der Golfkrieg 1991 bewirkten eine tendenzielle Veränderung während der Ära von Turgut Özal, der zwischen 1983 und 1993 als Minister- und Staatspräsident an der Spitze der türkischen Politik stand. Özal verfolgte das Ziel, unter Beibehaltung der militärischen Repression eine Liberalisierung im
Als Minister- und Staatspräsident versuchte Turgut Özal eine Entschärfung des Konflikts zu erreichen. Nach seinem Tod wurde die Liberalisierungspolitik lange Zeit nicht weiter verfolgt. (© picture-alliance/dpa)
Als Minister- und Staatspräsident versuchte Turgut Özal eine Entschärfung des Konflikts zu erreichen. Nach seinem Tod wurde die Liberalisierungspolitik lange Zeit nicht weiter verfolgt. (© picture-alliance/dpa)
kulturellen Bereich einzuleiten und vor allem auch die PKK politisch einzubinden. Nach Özal wurde die ambitionierte Liberalisierungspolitik jedoch von keiner Regierung ernsthaft weiter verfolgt.
Begrenzte Liberalisierungspolitik der AKP-Regierung: Ziele und Inhalte
Die AKP-Regierung knüpfte 2002 gewissermaßen unter weit günstigeren Bedingungen (ausgelöst durch die Festnahme von PKK-Führer Abdullah Öcalan
Die vier wesentlichen Komponenten der Liberalisierungspolitik der AKP
Reformen in den Jahren 2002 bis 2005, die im Zuge des EU-Beitrittsprozesses der Türkei verabschiedet wurden und zu einer signifikanten Verbesserung der individuellen Freiheiten geführt haben;
die im Sommer 2009 angekündigte, jedoch nur teilweise umgesetzte Politik der demokratischen Öffnung", die vor allem die Ausweitung der Nutzung der kurdischen Sprache versprach;
das Demokratisierungspaket vom 30. September 2013, das inzwischen umgesetzt wird und Maßnahmen enthält, die kurdenpolitisch von Relevanz sind, wie z. B. die Zulassung der im kurdischen Alphabet verwendeten, aber verbotenen Buchstaben x, q und w - im türkischen Alphabet kommen diese Buchstaben nicht vor, die Wiedereinführung von verbotenen kurdischen Ortsnamen und die Ausweitung der Nutzung der kurdischen Sprache.
Gespräche mit Öcalan, die seit November 2002 inoffiziell geführt werden und derzeit aber nur schleppend laufen, um die Entwaffnung der PKK zu erreichen und die Entwicklungen in der Kurdenfrage intern wie extern, d.h. außerhalb der Türkei und über die Grenzgebiete hinaus zu kontrollieren.
Insgesamt führten die bislang verabschiedeten Reformen zu deutlichen Verbesserungen der individuellen Freiheiten im kulturellen Bereich. Sie haben aber auch positive Wirkungen auf die Situation der kurdischen Bevölkerung: Die Nutzung der kurdischen Sprache in Wahlkämpfen oder in Gefängnissen ist nunmehr ebenso erlaubt wie kurdische Fernseh- und Rundfunksendungen, kurdische Sprachkurse, kurdische Namensgebung, die Wiedereinführung kurdischer Ortsnamen, die Einführung von Kurdisch als Wahlfach an Schulen und von "Kurdologie" an Universitäten. Ferner wurde der Ausnahmezustand aufgehoben und im Zuge des Beitrittsprozess der Türkei zur EU die Todesstrafe für Abdullah Öcalan in lebenslängliche Haft umgewandelt.
Die bislang verabschiedeten Reformen gehen jedoch nur sehr bedingt auf die kurdischen Forderungen ein, die sich im Zeitverlauf herauskristallisiert haben. Sowohl im politischen Spektrum der Kurden, das auch die BDP und die PKK umfasst, als auch im zivilgesellschaftlichen Bereich der Kurden gibt es bereits einen Konsens bezüglich folgender Forderungen: das Recht auf Erziehung und Bildung in kurdischer Sprache im staatlichen Erziehungs- und Bildungssystem, die verfassungsmäßige Anerkennung der kurdischen Identität, die Dezentralisierung der Staatsstruktur und Ausweitung der Rechte der lokalen Verwaltungen (Präferenz für einen föderalen Staatsaufbau, der den Regionen weitgehende Autonomie zulässt), die Herabsetzung der Zehnprozenthürde bei nationalen Parlamentswahlen, die Auflösung der Dorfschützermiliz
Gestiegener Anpassungsdruck und Anerkennung der kurdischen Autonomiebestrebungen
Selahattin Demirtaş, der Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP bei einer Wahlkampfveranstaltung im Juli 2014: Er war gemeinsamer Kandidat verschiedener Parteien bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei im August 2014. Im November 2016 wurde Demirtaş wegen angeblicher "Terrorpropaganda" verhaftet. (© picture-alliance, Mika)
Selahattin Demirtaş, der Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP bei einer Wahlkampfveranstaltung im Juli 2014: Er war gemeinsamer Kandidat verschiedener Parteien bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei im August 2014. Im November 2016 wurde Demirtaş wegen angeblicher "Terrorpropaganda" verhaftet. (© picture-alliance, Mika)
Der interne und externe Anpassungsdruck auf die AKP-Regierung in der Kurdenfrage ist gestiegen. Intern ist die kurdische Politik im Zeitverlauf robuster geworden. Die BDP ist die stärkste politische Kraft in den kurdischen Gebieten im Osten und Südosten und Sprachrohr kurdischer Forderungen. Ihr Erfolg ist vor allem auf ihre effektive Lokalpolitik über die zahlreichen Bürgermeisterämter zurückzuführen. Die Intensivierung der Interaktion zwischen der BDP, ihren Bürgermeistern und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort hat den Druck auf die türkische Regierung signifikant gesteigert. Die PKK ist mittlerweile zu einer politischen Kraft geworden, die nicht nur in den "Bergen", sondern auch in den "Städten" präsent ist und über eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Basis verfügt. Ferner verfügt sie zunehmend auch über regionale Bedeutung und Macht. Dies schlägt sich in der gestiegenen regionalen Manövrierfähigkeit nieder, der im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Syrien und den aktuellen Entwicklungen im Irak steht. Die PKK ist nicht nur Teil des internen Konfliktes. Sie ist auch Teil der externen regionalen Dimension des Konfliktes. Eine Lösung der PKK-Frage ist bislang nicht gelungen, auch nicht militärisch und auch nicht nach der Verhaftung von Abdullah Öcalan.
Der interne Gewaltkonflikt ist längst regionalisiert und erfordert daher eine erweiterte politische Herangehensweise. Die regionale Sichtbarkeit des kurdischen Faktors und der kurdische Nationalismus sind weit fortgeschritten. Intern genügt es nicht, nur kulturelle Individualrechte zu gewähren, während extern bereits eine kurdische Autonomie (im Nordirak) existiert und im Kontext des Bürgerkrieges in Syrien ein zweites kurdisches Autonomiegebiet nicht auszuschließen ist. Bislang durchgesetzte Reformen reichen daher nicht aus, um den Weg für eine nachhaltige friedliche Konfliktlösung zu ebnen. Jede friedliche und nachhaltige Konfliktlösung setzt aber die Anerkennung der historisch tief verwurzelten Autonomiebestrebungen der Kurden voraus und erfordert auch die Einbindung der PKK. Die Friedensgespräche mit Öcalan sind deshalb von essentieller Bedeutung und bieten die einmalige Chance, den jahrzehntelangen Gewaltkonflikt zu beenden und den Weg für einen dauerhaften Frieden zu ebnen. Dazu würde auch die Verabschiedung einer neuen zivilen Verfassung beitragen, die die ideologischen Barrieren zugunsten eines demokratischen und pluralistischen Wertekanons überwindet und die türkische Demokratie auf der Werteebene substanziell stärkt.
Literatur
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Gürbey, Gülistan: Die türkische Kurdenpolitik unter der AKP-Regierung: alter Wein in neuen Schläuchen? GIGA Focus Nahost, Hamburg, Nr.11, 2012. German Institute of Global and Area Studies.
Gürbey, Gülistan/Ibrahim, Ferhad (Hg.): The Kurdish Conflict in Turkey. Obstacles and Chances for Peace and Democracy, New York/Münster 2000.
Gürbey, Gülistan: Autonomie - Option zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes in der Türkei? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Frankfurt am Main. Report 5/Juni 1997.
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Kesen, Nebi: Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union, Baden-Baden 2009.
Romano, David: The Kurdish Nationalist Movement. Opportunity, Mobilization and Identity, Cambridge 2006.