Es gehört noch immer zu den geschichtspolitisch in Deutschland wie in der Türkei gerne gepflegten Mythen, die Türkei neben Großbritannien und den Vereinigten Staaten als rettendes Ziel deutscher, vor allem jüdischer Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus zu feiern. Insbesondere die Wissenschaftler, Künstler und Intellektuellen, die ihre Exilzeit nach 1933 in der Türkei verbrachten, glaubten auf diese Weise ihre nachvollziehbare Dankesschuld gegenüber der Türkischen Republik ableisten zu müssen.
Es kommt daher darauf an, die Vielgestaltigkeit der deutschen Anwesenheit in der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg im Blick zu haben und die Exilanten der Jahre 1933 bis 1945 zudem in die längerfristige Geschichte der "Türkeideutschen" einzuordnen. Die Anwesenheit der Deutschen in der Türkei nach 1918 diente dabei keineswegs nur einem einseitigen Modernisierungstransfer von westlich-europäischem Know-how, sondern beeinflusste auch die Arbeit der Migranten und Exilanten und durch ihre spätere Rückkehr auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft.
Deutsche Wirtschaftsmigration und Auslandsdeutschtum in der jungen Türkischen Republik 1918-1933
Der 30. Oktober 1918 markierte die "Götterdämmerung" in der Geschichte der Türkeideutschen: An diesem Tag wurde in Mudros der Waffenstillstandsvertrag zwischen Briten und Osmanen geschlossen, der nach vier Jahren Weltkrieg nicht nur den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei erzwang (Art. 23), sondern auch die Ausweisung aller Deutschen aus dem Osmanischen Reich binnen eines Monats (Art. 19) verlangte. Dabei wurde nicht zwischen den rund 10.000 kriegsbedingt anwesenden Soldaten und den alteingesessenen Türkeideutschen – schätzungsweise ca. 3.000 bis 4.000 Menschen – unterschieden. Alle offiziellen deutschen Einrichtungen der damaligen Hauptstadt Istanbul – die Botschaft, das Krankenhaus, der Kindergarten, die Schule, der deutsche Klub "Teutonia" – wurden von den Briten beschlagnahmt, die 1919 die Stadt besetzten. Eine Rückkehr der Deutschen an den Bosporus sollte für immer ausgeschlossen werden.
Trotz dieses erzwungenen Exodus kehrten nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Weimarer Republik bald wieder Deutsche in die Türkei zurück. Mitglieder der ehemaligen deutschen "Kolonie" fanden sich nur wenige darunter; gemeinsam war jedoch allen die Hoffnung, aufgrund ihrer zurückliegenden "Erfahrungen und Beziehungen einen günstigen Boden für den Aufbau einer Lebensstellung zu finden".
Rechtlich profitierten die Deutschen dabei zunächst vom 1927 abgeschlossenen deutsch-türkischen Niederlassungsvertrag. Allerdings unterlagen sie wie alle Ausländer einem strikten Verbot zur politischen Betätigung und seit 1932 auch weitreichenden Berufsbeschränkungen, die nur für jene zu umgehen waren, die spezielle, staatlich genehmigte Verträge erhielten.
Politisch war die deutsche Gemeinde zumindest in Istanbul vor 1933 das Abbild der politisch gespaltenen deutschen Republik. Botschafter Rudolf Nadolny lud zwischen 1924 und 1932 gleich an zwei Tagen – dem 18. Januar (Reichsgründung 1871) und dem 11. August (Verabschiedung der Weimarer Verfassung 1919) – zum Nationalfeiertag. Wie er sich erinnerte, kamen anfangs "nur die Republikaner zum 11. August und die anderen erschienen zum 18. Januar". Trotzdem gelang es ihm, dass "mit der Zeit (...) beide Teile zu beiden Festen" kamen.
Deutsche in der Türkei zwischen Exil und Auslandspropaganda 1933 -1945
Diese politische Spaltung der Türkeideutschen vertiefte und verschärfte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933. Denn nunmehr traten aus der eingesessenen Kolonie der Diplomaten, Wirtschaftsmigranten und sendungsbewussten bildungsbürgerlichen Auslandsdeutschen, auch die Anhänger der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) immer deutlicher hervor und übten einen Anpassungsdruck auf die übrigen Mitglieder der Kolonie aus. Infolge dessen bildeten die jüdischen und liberalen Türkeideutschen zusehends eine gesonderte Subkolonie, die sich selbstironisch als "Kolonie B" (im Gegensatz zur "Kolonie A" der sogenannten Reichsdeutschen) bezeichnete, und die seit dem Herbst 1933 von den in die Türkei berufenen zumeist jüdischen Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen verstärkt wurde, die in Istanbul (wie auch in Ankara, der neuen Hauptstadt) das türkische akademische Bildungssystem aufbauen sollten.
Um das türkische Exil dieser insgesamt rund 650 verfolgten Wissenschaftler, ihrer Angehörigen und Mitarbeiter angemessen zu interpretieren, kann die zufällige zeitliche Übereinstimmung von nationalsozialistischem Machtantritt und türkischer Suche nach geeigneten Experten für die neu gegründete Universität in Istanbul und das 1932 eingerichtete Yüksek Ziraat Enstitüsü – also die Landwirtschaftliche Hochschule – in Ankara nicht deutlich genug betont werden. Voraussetzung für die erfolgreiche Vermittlungsarbeit des Frankfurter Pathologen Philipp Schwartz, der selbst zu den Opfern des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"
Unter politisch funktionalen Überlegungen waren ursprünglich auch die ersten deutschen Wissenschaftler bereits in den 1920er-Jahren in die Türkei gewechselt. Mehr noch als die individuelle Überzeugung, deutsche Wissenschaft in der Welt zu verbreiten, spielten dabei außenkulturpolitische Ambitionen des deutschen Auswärtigen Amtes eine Rolle. Durchaus in Fortsetzung der republikanischen Außenkulturpolitik
Deutsches Vereinshaus Teutonia in Istanbul. Aufnahme aus den 1920er-Jahren. (© Deutsches Archäologisches Institut Inv. Nr. D-DAI-IST-7046)
Deutsches Vereinshaus Teutonia in Istanbul. Aufnahme aus den 1920er-Jahren. (© Deutsches Archäologisches Institut Inv. Nr. D-DAI-IST-7046)
Erst auf Druck der NSDAP-Mitglieder vor Ort, die sich immer wieder über die Anwesenheit "unerwünschter" Professoren beschwerten, begann der NS-Staat 1938, jüdische und politisch abweichende Wissenschaftler – unter ihnen so illustre Namen wie Ernst Reuter, Erich Auerbach, Leo Spitzer, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Paul Hindemith, Ernst Praetorius, Bruno Taut, Clemens Holzmeister, Carl Ebert und Eduard Zuckmayer – gezielt von dieser Repräsentationsfunktion auszuschließen. Zu diesem Zweck sandte das Reichserziehungsministerium im Frühjahr 1939 den Oberregierungsrat Dr. Herbert Scurla in die Türkei, um zum ersten Mal systematisch zu erfassen, wie viele Juden und Nicht-Nationalsozialisten überhaupt in Istanbul und Ankara lehrten.
Obwohl der Parteiableger der NSDAP in Istanbul darauf hinwirkte, auch in der Türkei Kontakte zwischen "Reichsdeutschen" und vor dem NS-Regime Geflohenen zu unterbinden bzw. sich die Mitglieder der Kolonie B selbst möglichst von diesen fernhielten, gab es im Alltag durchaus Räume der Begegnung: Der 1924 wiedereröffnete deutsche Klub, die Teutonia, bot dafür in Istanbul ebenso Gelegenheit wie das Lokal des Gastwirts Hans Fischer.
Auch wenn viele der in die Türkei berufenen Wissenschaftler ihr Exil in der Türkei als schwierig und belastend empfanden, bildeten sie letztlich doch eine Gruppe von Eliten-Emigranten, deren Leben nicht mehr fundamental bedroht war. Ihre Arbeitsverträge garantierten ihnen nicht nur ein festes Einkommen, sondern vor allem ein – wenn auch zeitlich begrenztes – Aufenthaltsrecht, das sie durch die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft verstetigen konnten. Deutlich prekärer war dagegen bereits die Lage ihrer Mitarbeiter und Laborleiter – unter ihnen viele Frauen – die keine festen Arbeitsverträge erhielten und daher praktisch permanent von der Arbeitslosigkeit und damit der Abschiebung bedroht waren.
Oft vergessen werden zudem die vielen deutschen Flüchtlinge, die nicht offiziell in die Türkei eingeladen wurden, sondern sich mehr oder weniger illegal in der Türkei verdingten, weil sie offiziell keine Arbeitsgenehmigung erhielten oder nur überlebten, weil sie zum Islam konvertierten, um aufenthaltsberechtigt zu werden.
Wissenschaftstransfer, Rückwirkungen auf die Exilanten und das deutsche Türkeibild nach 1945
Und was blieb von dieser freiwilligen und unfreiwilligen Migration von Deutschen aller politischen, sozialen und religiösen Herkunft? Die junge Türkische Republik erwartete von der Wissenschaftsmigration von Anfang an, dass sie sich selbst überflüssig machen sollte: Deutsche Wissenschaftler, die in die Türkei gingen, sollten Wissensbestände und disziplinspezifische Methoden an ihre türkischen Studenten weitergeben und auf diese Weise zur Modernisierung des Landes beitragen. Wie zahlreiche Einzelstudien gezeigt haben, gelang das im Allgemeinen, jedoch nur unter den in der Migrations- und Transfergeschichte mittlerweile als selbstverständlich angesehenen Anpassungs- und jeweils spezifischen Adaptionsleistungen der Geber- wie der Empfängerseite. Einigen der
Der damalige Staatpräsident der Türkei Abdullah Gül bei der Grundsteinlegung der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul im Oktober 2010. (© picture-alliance)
Der damalige Staatpräsident der Türkei Abdullah Gül bei der Grundsteinlegung der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul im Oktober 2010. (© picture-alliance)
wissenschaftlichen Emigranten gelang es, die intellektuelle Verunsicherung durch die Begegnung mit Exil und "Orient" methodisch und inhaltlich für ihre Forschung fruchtbar zu machen.