Als die Jungtürken 1908 gegen
Jungtürken
Die Jungtürken (türkisch: Jön Türkler) waren eine nationalistisch-reformistische Gruppierung, die seit 1876 auf die Reformierung der Staatsform hinarbeitete. 1908 zwangen sie dem Sultan die Annahme einer Verfassung auf, zwischen 1913 und 1918 beherrschten sie de facto den osmanischen Staat. Die Partei der Jungtürken war das Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki Cemiyeti). Die Jungtürken inspirierten verschiedene Nationalisten des Nahen Ostens, u.a. auch den Gründer der Republik Türkei, Kemal Atatürk, der sich jedoch später von ihnen distanzierte.
Damit begann die Zweite Verfassungsperiode (II. Meşrutiyet dönemi) in der Geschichte des Osmanischen Reiches. Das Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki Cemiyeti), das zur Bewegung der "Jungtürken" (Jön Türkler) gehörte, hatte bereits zuvor als Geheimbund den politischen Kampf gegen das Sultanat geleitet und nun die Macht im Land inne. Seine Versuche, das Osmanische Reich zu einer gefestigten modernen und konstitutionellen Monarchie zu reformieren, blieben jedoch erfolglos. Nicht zuletzt diese innere Schwäche des Vielvölkerreiches zur Zeit der Jungtürken führte dazu, dass Nachbarstaaten versuchten, Gebietsforderungen an das Reich durchzusetzen. Diese Auseinandersetzungen und damit einhergehende massive territoriale Verluste – unter anderem das heutige Libyen und die Insel Kreta – führten 1912 zum Sturz der jungtürkischen Regierung.
Erneuter Staatsstreich und Erster Weltkrieg
Am 23. Januar 1913 unternahm das jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt einen erneuten Staatsstreich und setzte seine eigene Regierung ein. Als der jungtürkische Großwesir Mahmut Şevket Paşa
Den osmanischen Staat führte nun das Zentralkomitee der jungtürkischen Partei, das nach außen durch das Triumvirat Talat Paşa (1874-1921), Enver Paşa (1881-1922) und Djemal
Der türkische Kriegsminister Enver Paşa im Gespräch mit General Arnold von Winckler, dem Oberbefehlshaber der 11. deutschen Armee in Mazedonien, 1916. (© picture-alliance)
Der türkische Kriegsminister Enver Paşa im Gespräch mit General Arnold von Winckler, dem Oberbefehlshaber der 11. deutschen Armee in Mazedonien, 1916. (© picture-alliance)
Paşa (1872-1922) repräsentiert wurde. Diese neue Staatsführung hielt eine Beteiligung des Osmanischen Reiches am Kriegsgeschehen für unvermeidlich. Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen und Verwerfungen, mit denen das 20. Jahrhundert eingeläutet wurde, hatten den Ersten Weltkrieg beinahe angekündigt. Insbesondere die Balkankriege erschienen wie das regionale Vorwort dazu.
Der Erste Weltkrieg brachte in vielerlei Hinsicht Zerstörung über das Osmanische Reich und endete 1918 mit dessen Niederlage. Auch der Bevölkerungsverlust im Reich war groß, insbesondere unter den muslimischen Türken, Tscherkessen, Albanern und Kurden. Hauptleidtragende des Krieges waren jedoch vor allen anderen die Armenier:
Eintritt in den Ersten Weltkrieg
Trotz der mittlerweile langen republikanischen Tradition der Türkei ist die Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg bis heute ein Teil der türkischen Geschichte, mit dem nicht unverkrampft umgegangen wird. In der Türkei gibt es daher noch immer eine eigene Erzählweise zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg; bis heute wird sie auch in Schulen gelehrt:
Dieser Geschichte zufolge durchfuhren eines Tages zwei deutsche Kriegsschiffe die Dardanellen und erreichten Istanbul, nachdem sie im Mittelmeer der britischen Flotte entkommen waren.
Die deutschen Kriegsschiffe "Göben" und "Breslau" im Bosporus. (© picture-alliance/akg)
Die deutschen Kriegsschiffe "Göben" und "Breslau" im Bosporus. (© picture-alliance/akg)
und den Besatzungen der Fes, die typische Kopfbekleidung türkischer Männer dieser Zeit, aufgesetzt. Die Schiffe durchquerten das Schwarze Meer und bombardierten die russische Flotte im Hafen von Sewastopol, der größten Stadt auf der Halbinsel Krim. Ungewollt und unwissentlich sei das Osmanische Reich so in den Krieg geraten. An allen Fronten des Krieges - ganz besonders an den Dardanellen - kämpften die osmanischen Soldaten zwar erfolgreich und heldenhaft, doch durch die Niederlage Deutschlands, an dessen Seite man in den Krieg eingetreten war, sei auch das Osmanische Reich zu den Besiegten gezählt worden.
Waffenstillstand und Diktatfrieden
Der Waffenstillstand von Moudros vom 30. Oktober 1918 bedeutete für das Osmanische Reich das Ende der Kampfhandlungen. Das Komitee für Einheit und Fortschritt, welches das Osmanische Reich in den Krieg gezogen hatte, weil es darin die Möglichkeit zur Rückeroberung verlorener osmanischer Territorien gesehen hatte, löste sich eine Woche nach dem Waffenstillstand auf. Seine Führer, unter ihnen auch das frühere Triumvirat, flohen außer Landes. Die Geschicke des untergehenden Osmanischen Reiches lenkte nun eine Regierung unter Sultan Mehmet VI., der der letzte Sultan des Osmanischen Reiches (1918-1922) bleiben sollte.
Erst der Friedensvertrag von Sèvres bedeutete für das Osmanische Reich das wirkliche Ende des Ersten Weltkrieges. Der Vertrag wurde am 10. August 1920 in der Nähe von Paris unterzeichnet und beließ nur dem Anschein nach ein "Osmanisches Reich" auf der Landkarte: Nach der vereinbarten neuen Grenzziehung blieb lediglich ein dörflich-landwirtschaftlicher Staat in Zentralanatolien mit einem Küstenstreifen am Schwarzen Meer zurück.
Seine Anhänger und andere nationale Kräfte hatten bereits bei der Parlamentswahl im Dezember 1919 die Mehrheit gewonnen und eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die den Interessen der Alliierten entgegenstanden. Als Istanbul im März 1920 dann von Großbritannien besetzt wurde und führende Abgeordnete verhaftet wurden, löste der Sultan das Parlament auf. Unter der Führung Mustafa Kemals trafen sich die Abgeordneten daraufhin im heutigen Ankara und gründeten am 23. April 1920 die
Der Türkische Befreiungskrieg
Der "Nationale Widerstand" (Milli Mücadele oder Kurtuluş Savaşı) begann als Partisanenkrieg: Bewaffnete Widerstandsgruppen, die Kuvayı Milliye (türkisch für "Nationale Kräfte"), begannen im Mai 1919 dezentral organisiert die griechische Armee zu bekämpfen, die kurz zuvor Izmir besetzt hatte. Die Kuvayı Milliye bestanden aus desertierten Offizieren der osmanischen Armee, ehemaligen Anhängern der Jungtürken und anderen Freiwilligen. Organisiert wurden sie von der
Aus den Auseinandersetzungen entwickelte sich der Griechisch-Türkische Krieg (1919-1922), der von ethnischem Hass auf beiden Seiten geprägt war. Die von Großbritannien unterstützten griechischen Truppen rückten nach der Besetzung Izmirs weiter in Richtung Ankara vor. Entscheidende Schlachten fanden bei Inönü
Im September 1922 eroberte Mustafa Kemal schließlich das seit Mai 1919 von den Griechen besetzte Izmir zurück. In den Tagen nach der Einnahme wurden an die 40.000 Menschen Opfer anti-griechischer Übergriffe. Am 11. Oktober 1922 wurde dann die Waffenstillstandsvereinbarung von Mudanya unterzeichnet.
Der Türkische Befreiungskrieg hatte den Wunsch nach weiteren politischen Veränderungen geweckt und der Waffenstillstand von Mudanya die Verhandlung eines neuen Friedensvertrags zum Ende des Ersten Weltkriegs erwirkt: Als
Der letzte Sultan des Osmanischen Reiches geht ins Exil: Mehmed VI. beim Verlassen des Dolmabahçe-Palasts am 17. November 1922. (© Wikimedia)
Der letzte Sultan des Osmanischen Reiches geht ins Exil: Mehmed VI. beim Verlassen des Dolmabahçe-Palasts am 17. November 1922. (© Wikimedia)
die Ententemächte zu diesen Verhandlungen sowohl die Regierung in Istanbul als auch die Regierung in Ankara in das schweizerische Lausanne einlud, reagierte Ankara umgehend und nahm die erste radikale politische Veränderung vor: Die
Gruppenbild der Teilnehmer der Konferenz von Lausanne am 24. Juni 1923. Vorne, von links nach rechts: Der britischer Außenminister George Curzon, der italienische Ministerpräsident Benito Mussolini und Raymond Poincare, der französische Ministerpräsident. (© picture-alliance)
Gruppenbild der Teilnehmer der Konferenz von Lausanne am 24. Juni 1923. Vorne, von links nach rechts: Der britischer Außenminister George Curzon, der italienische Ministerpräsident Benito Mussolini und Raymond Poincare, der französische Ministerpräsident. (© picture-alliance)
Die darauf folgenden Friedensgespräche führten am 24. Juli 1923 schließlich zur Unterzeichnung des Vertrages von Lausanne. Der Vertrag ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Erstens beendete er aus türkischer Sicht endgültig den Ersten Weltkrieg. Und zweitens wurde der neue Staat durch den Vertragstext auf internationaler Ebene politisch festgeschrieben und legitimiert. Die Grenzen des neuen Reiches und seine Legitimität würden fortan nicht mehr diskutiert werden.
Republikgründung
Das Ende des vierjährigen Befreiungskrieges (Kurtuluş Savaş) und die Ausrufung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923 forcierten die Trennung vom alten Regime und stärkten die Position
Gleichzeitig befand sich das Land in einer eigenartigen Übergangssituation. Das Sultanat war abgeschafft, aber das Kalifat war geblieben. Das politische System dieser Tage ließe sich als eine hybride "Kalifats-Republik" beschreiben. Dieses Szenario dauerte etwa fünf Monate an. Am 3. März 1924 endete es mit der Abschaffung des Kalifats und der Ausweisung des osmanischen Herrscherhauses.
Ausschaltung der Opposition
Während Mustafa Kemal zu Beginn noch als Primus inter pares galt, übernahm er im Laufe der Zeit die klare Führungsposition: zunächst als Parlamentspräsident und Oberkommandierender, ab 1923 dann als
Die Kemalistische "Kulturrevolution"
Die Ausschaltung der politischen Opposition, wie auch das Verbot der religiösen Bruderschaften (tarikat) und Konvente (tekke) im Jahr 1925 sowie die Einführung des Zivilgesetzbuches nach Vorbild des Schweizer Gesetzes 1926 und die Umstellung der Schrift auf das lateinische Alphabet 1928 sollten den gesellschaftlichen Wandel der Türkei vorantreiben. Ebenso die Hutreform im Jahr 1925, die türkischen Männern das Tragen der traditionellen osmanischen Kopfbedeckung – des Fes – verbot
Mustafa Kemal Paşa Atatürk
und westliche Hüte als Kopfbedeckung vorschrieb, die Einführung des gregorianischen Kalenders 1926, die Abschaffung des Islam als Staatsreligion 1928 und die Abschaffung des Religionsunterrichts in Schulen im Folgejahr zählen zu den Reformen der kemalistischen Kulturrevolution, mit der Kemal Atatürk die Westorientierung der Türkei per Gesetz festschrieb.
Im Zuge dieses Prozesses etablierte sich die
Neue Identität
Durch die Auflösung erst der politischen, dann auch der gesellschaftlichen Oppositionsformen sollte die Konstruktion einer neuen "nationalen türkischen Identität" vorangetrieben werden. Dabei spielten Theorien zur türkischen Geschichte und Sprache eine ebenso zentrale Rolle wie die Umstellung der arabischen Schrift und des Alphabets sowie der traditionellen Kleidung: Die Verbindung zur osmanischen Vergangenheit sollte endgültig gekappt und eine neue nationale, türkische Identität und der moderne Staatsbürger geschaffen werden.
Geschichte und Sprache als Grundlagen nationaler Identität
Geschichte ist die Grundlage jeder Identität. Bei der Konstruktion und Definition des "Türken" und "Türkentums" hatte sie daher auch eine ganz zentrale Bedeutung: In diesem Zusammenhang entstand beispielsweise die Theorie, die türkischen Volksstämme hätten Zentralasien wegen Trockenheit verlassen und seien in verschiedene Regionen der Erde, besonders aber eben nach Anatolien ausgewandert. An alle diese Orte - also in die ganze Welt - hätten sie die Zivilisation getragen. Eine zweite Stoßrichtung der Geschichtstheorie ging gegen die Existenz einer separaten
Das zentrale Element der sprachlichen Identität war die ab 1935 propagierte "Sonnen-Sprachtheorie", der zufolge Ursprung aller Sprachen das Türkische sei. Auch in dieser Zeit entstand der Gedanke, dass die türkische Sprache von allen, aus anderen Sprachen übernommenen Wörtern befreit werden müsse. Sowohl die Geschichtstheorien als auch die These vom Türkischen als Mutter aller Sprachen sollten dem Türkentum zu einer homogenen Identität und jenem Stolz verhelfen, der allen Nationalismen eigen ist.
Auch die Ende der 1920er-Jahre ausgerufene Kampagne "Bürger, sprich Türkisch!" gehört in diese Reihe. Der Aufruf wandte sich nicht nur gegen alle Nicht-Muslime im Land, er war als Homogenisierungsmaßnahme auch gegen muslimische Adygäer, Albaner, Kurden und Bosnier gerichtet, die anderen ethnischen Wurzeln entstammten und weiterhin ihre Muttersprachen sprachen.
Bei diesem Versuch hatte man jedoch einem autoritären Regime den Vorzug gegenüber einer Demokratie nach heutigem Verständnis gegeben: Gleichzeitig war durch das Parteienverbot 1925 die
Diese Entwicklung führte mit dazu, dass sich Ende der 1920er-Jahre ein überzogener türkischer Nationalismus in der Gesellschaft breit machte - sowohl in den freien Berufen als auch in den Handels-, Industrie- und Rechtsanwaltskammern und im öffentlichen Sektor.
Übersetzung: Georg Danckwerts