Mustafa Kemal Atatürk
Geliebt, respektiert, verhasst
Prof. Dr. Klaus Kreiser
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Bis heute ist Atatürk der prägendste Politiker der Türkei. Seine radikalen und kompromisslosen Reformen haben das Land früh an den Westen heran geführt und in enormem Tempo modernisiert. Eine homogene türkische Nation sollte auf diesem Weg gebildet werden, Leidtragende waren ethnische Minderheiten und alle diejenigen, die das Tempo der Veränderungen nicht bewältigen konnten. Einen unverkrampften wissenschaftlichen Diskurs über Leben und Wirken des Staatsgründers gibt es in der Türkei bis heute nicht.
Mustafa Kemal Atatürks Bild bleibt in der Türkei von Heute allgegenwärtig, auch wenn er schon lange nicht mehr die Alleinvertretung auf den Denkmalssockeln in allen kleinen und großen Städten zwischen Edirne und Kars innehat. Noch aber gibt es kein wichtiges Amtszimmer, kein öffentliches Gebäude ohne die Büste oder das Porträt des Staatsgründers. Sein Antlitz schmückt nicht nur Briefmarken und Geldscheine, sondern sogar Schulzeugnisse.
Atatürks Bild steht für den Staat wie die Nationalflagge mit Mond und Stern. Er selbst ist bestattet auf einem Hügel über Ankara, das wie keine andere moderne Metropole mit dem Wirken eines einzigen Mannes verbunden ist.
Der gigantische Anıttepe, d. h. „Gedenkhügel“, wurde nach seiner Fertigstellung (1953) zum wichtigsten Erinnerungsort der Republik.
Vorschläge, den Komplex auch für andere türkische Größen zu öffnen, wurden nie ernsthaft erwogen. Eine Verweigerung des Rituals der Kranzniederlegung durch Amtsträger oder Parteipolitiker, noch mehr durch ausländische Besucher wurde und wird als Angriff auf republikanische Werte empfunden. Im Internetzeitalter bietet eine Website die Möglichkeit sich in ein virtuelles Besucherheft einzutragen und so Atatürk seinen Respekt zu bekunden.
Es gibt keinen staatlichen Feiertag, der nicht mit einem Ereignis in Atatürks Laufbahn als Soldat und Politiker in Verbindung steht. Nach ihm heißt der Boulevard in Ankara, die erste Brücke über den Bosporus und der gigantische Staudamm im Südosten des Landes. Diese Großbauten wurden ebenso wie das Istanbuler Kulturzentrum, die zentrale Stadtbibliothek und die Universität Erzurum Jahre nach dem Ableben Atatürks benannt. Zu Lebzeiten hatten sich seine Statuen nach Zahl und Größe noch in überschaubaren Rahmen gehalten.
Bald nach dem Militärputsch vom 12. September 1980, in dessen Folge wichtige Grundrechte eingeschränkt wurden, erließen die Generäle ein Gesetz, um 1981 als Atatürk-Jahr vorzubereiten, und – so wörtlich – "die Bedeutung der türkischen Revolution innerhalb der türkischen Geschichte und der ganzen Menschheit zu verbreiten und zu neuem Leben zu erwecken". Für das Regime unter General Kenan Evren war das Zentenarium ein willkommener Anlass, sich als legitimer Erbe des Staatsgründers darzustellen. Bis heute sind wichtige staatliche und halbstaatliche Institutionen der Pflege seines Andenkens gewidmet. Unter dem Dach der neugeschaffenen "Hohen Atatürk-Anstalt für Kultur, Sprache und Geschichte" (Atatürk Kültür, Dil ve Tarih Yüksek Kurumu) wurden nach dem Putsch von 1980 die bis dahin autonomen Forschungsinstitute für Geschichte und Sprache verstaatlicht und haben seit 1983 sogar Verfassungsrang. Dem Andenken Atatürks dient insbesondere das "Zentrum zur Erforschung Atatürks" (Atatürk Araştırma Merkezi). Es veranstaltet nationale und internationale Tagungen und gibt neben einer Zeitschrift zahlreiche Monographien heraus.
Originalaufnahmen des Trauerzugs zur Beisetzung Atatürks
Fotografien aus dem Nachlass Dr. Eduard Schaefers, vom Trauerzug in Istanbul und Ankara im November 1938: Die Aufnahmen der inszenierten wie auch der nicht inszenierten Trauer zeigen, welche Bedeutung Atatürk bereits zu Lebzeiten für die Republik Türkei, als auch für die damals lebenden Menschen hatte. Bis heute hält die Atatürk-Verehrung in der Türkei an. Eine kritische wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Leben ist in der Türkischen Republik auch daher bis heute kaum möglich.
Originalaufnahmen des Trauerzugs zur Beisetzung Atatürks
Der von dem deutsche Architekten Bruno Taut entworfenen Katafalk wurde auch für den Trauerzug in Ankara genutzt. Aus allen befreundeteten
europäischen Staaten wurden zudem Militärdelegationen geschickt: Hier zu sehen sind britische Soldaten.
Der Kemalismus: Vielfältige Wahrnehmungen
Der Kemalismus war noch Jahrzehnte nach dem Ableben Atatürks ein weithin gültiges Referenzsystem für die Mehrheit der Politiker, die schmale bürgerliche Mittelschicht, die akademische Welt und das Militär geblieben. Über diese "kemalistische Elite" hinaus fanden und finden sich aber sehr zahlreiche Anhänger des Staatsgründers unter weniger privilegierten Schichten von Grundschullehrerinnen bis zu Industriearbeitern, von Studierenden bis zu Gewerbetreibenden. Neben der von Atatürk gegründeten Interner Link: "Republikanischen Volkspartei" (Cumhuriyet Halk Partisi, kurz: CHP) existieren zivilgesellschaftliche Organisationen wie etwa der "Verein zur Unterstützung einer zeitgenössischen Lebensform" (Çağdaş Yaşamı Destekleme Derneği).
Über den Niederungen der stark polarisierten Tagespolitik respektieren noch heute große Teile der türkischen Bevölkerung die historische Leistung des Staatsgründers. Dieses Einvernehmen gründet nicht zuletzt auf der Überzeugung, dass das Schicksal zahlreicher Menschen ohne den von Atatürk an vielen Fronten gewonnenen Befreiungskrieg der Jahre 1919-1922 einen anderen, ungünstigeren, vielleicht katastrophalen Verlauf genommen hätte. Das bescheidene Bildungsniveau, die bedenklichen gesundheitlichen Verhältnisse,
Mustafa Kemal Paşa Atatürk
Mustafa Kemal Paşa Atatürk
Die Türkische Republik
der wirtschaftliche und technische Stillstand der späten osmanischen Epoche hat sich im Gedächtnis vieler Familien über die Generationen festgesetzt.
Jedoch hat die Vieldeutigkeit der osmanischen bzw. türkischen Begriffe für die Interner Link: kemalistische Revolution (inkılab, devrim) für die oft gewaltsamen Veränderungen der Epoche manche Kontroversen ausgelöst: War Atatürk ein moderater Reformer oder eher ein radikaler Umstürzler? Anderseits erleichterte es gerade diese vage Begrifflichkeit, sich mit der Person und dem Werk Atatürks zu identifizieren.
Wesentliche Bestandteile von Atatürks politischem Vermächtnis sind unbestritten das Beharren auf die Unabhängigkeit der Türkischen Republik von ausländischen Mächten und die konsequente Modernisierung nach westlichem Vorbild. Die türkische Linke hat indessen das Prinzip "Unabhängigkeit" stets auf ökonomische Autarkie und Bündnisfreiheit bezogen. Liberale Wortführer sahen im Etatismus eine vorübergehende Notwendigkeit auf dem Weg zur freien Wirtschaft. Atatürk hatte sich ausdrücklich von zwei großen –Ismen der Epoche abgewandt, als er vor der Nationalversammlung erklärte, dass weder der Panturkismus noch der Panislamismus, in denen er riskante "Phantasien" sah, für die Zukunft der Türkei eine Rolle spielen dürften.
Seine rigorosen Eingriffe in die islamische Religion, die in dem Verbot der mystischen Bruderschaften und der Turkisierung der Liturgie gipfelten, wurden nach seinem Tod sukzessive zurückgenommen. Am auffälligsten war die Wiederzulassung des arabischen Gebetsrufs, der für einige Jahre nur in türkischer Sprache ertönen durfte. Nun hieß es von offizieller Seite, er habe nicht mehr im Sinne gehabt, als die Türkei von religiösem "Aberglauben", "erfundenen Märchen" und "nichtigen Ideen" befreien wollen. Tatsächlich empfanden aber viele Menschen den Kemalismus in seiner Epoche als so bedrohlich, dass die Regierung Gerüchte dementieren lies, man habe selbst ein Verbot der religiösen Beschneidung geplant.
Die Wahrnehmung Atatürks im Ausland war nach anfänglichen Irritationen über einen in ihm vermuteten islamischen Rebellen gegen die legitime Sultansregierung durchaus positiv. Trotz seiner schon im Weltkrieg deutlich geworden Skepsis gegenüber dem deutschen Verbündeten, genoss er in der Weimarer Republik und im Dritten Reich hohes Ansehen. Diese Sicht beruhte nicht nur auf dem erfolgreichen Zurückweisen des Teilungsplans von "Sèvres", womit den Türken das gelang, was den Deutschen mit der Annahme von "Versailles" versagt blieb. Darüber hinaus galt er als Vertreter der "Waffenbruderschaft" des Großen Kriegs, der mit Liman von Sanders die Dardanellen verteidigt hatte und der an der Palästina-Front mit Franz von Papen als Stabschef kommandierte. Ein englischer Autor, Harold C. Armstrong, nannte ihn dagegen in einer 1932 erschienen Biographie einen rücksichtlosen Diktator und löste damit einen diplomatischen Konflikt zwischen London und Ankara aus. Vergleiche vieler anderen europäischer Autoren mit historischen (Peter der Große) und lebenden Gestalten (Mussolini) ließ man sich hingegen gefallen. Zumindest im arabischen Westen (Algerien, Tunesien) kristallisierte sich allmählich ein günstigeres Bild von Mustafa Kemal heraus, während das Image der Türkei insgesamt in Ägypten und den ostarabischen Ländern von Atatürk als eingeschworenem Feind der Religion bestimmend blieb.
Erdoǧans osmanischer Revisionismus
Im Jahr 2002 ging Recep Tayyip Erdoğans "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (Adalet ve Kalkınma Partisi, kurz: AKP) als unangefochtene Siegerin aus der Parlamentswahl hervor. Ihre führende Position konnte sie in den folgenden zwölf Jahren auch auf kommunaler Ebene ausbauen. Die AKP war als eine konservative Partei angetreten, deren Repräsentanten keinen Widerspruch zwischen einer islamischen Lebensführung mit modernen kapitalistischen Wirtschaftspraktiken sahen. Der "Kemalismus" der Staatsgründungspartei CHP wurde nicht nur wegen seiner laizistischen, sondern auch wegen seiner staatswirtschaftlichen Neigungen abgelehnt." Die Überhöhung der osmanischen Vergangenheit beherrscht das Geschichtsbild ihrer Wortführer.
Die türkische Publizistik hat erst Ende des 20. Jahrhunderts - die universitäre Fachvertreter folgten noch später - bestehende Tabus über Atatürks Lebensführung, seine Haltung zur Religion, zur kurdischen Minderheit, seine Eingriffe in Sprach- und Geschichtswissenschaft kritisch behandelt. Atatürk selbst erfährt dabei meist Respekt oder aus ängstlicher Vorsicht Schonung. Eine Vielzahl apokrypher Maximen wie "Der Kommunismus muss, wo immer man auf ihn trifft, ausgerottet werden" dient immer noch der Versöhnung des Staatsgründers mit ultrarechten Strömungen. Für Exzesse bei bestimmten kulturellen Maßnahmen im meist so genannten "Ein-Parteien-System" (der CHP) werden halbgebildete und radikale Berater Atatürks in Haftung genommen. Die von Atatürk energisch betriebene Purifizierung des Türkischen von arabischen und persischen Wörtern und Bildungen war nach 1935 abgeflaut. Atatürk hatte selbst das Interesse an der fortlaufenden Generierung von Neologismen verloren ("Das Kind ist in eine Sackgasse geraten", sagte er in seinen letzten Jahren). Gegner der Purifizierung stellen aus diesen Bemerkungen die gesamten Sprachreform in Frage.
Mustafa Kemal Atatürk - im Alltag der heutigen Türkei
Atatürk veränderte und modernisierte sein Land radikal. Ob <link lid="nid:184970">geliebt oder verhasst</link>, sein Einfluss auf die Republik Türkei steht bis heute außer Frage. Sein Abbild schmückt unzählige Denkmäler, Bilder, Statuen und Gebäudefassaden.
Mustafa Kemal Atatürk - im Alltag der heutigen Türkei
Luftaufnahme des Atatürk-Staudamms am Euphrat in der Provinz Sanliurfa, einer der größten Staudämme der Welt. Bis heute werden besondere Bauwerke
wie selbstverständlich dem Staatsgründer gewidmet. Allerdings werden Bauwerke zunehmend auch nach dem amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip
Erdoğan benannt.
Rede Atatürks auf einer Festveranstaltung in Ankara am 29. Oktober 1933 zum 10. Jahrestag der Ausrufung der Republik. Rechts im Bild İsmet İnönü.
Die nationalreligiösen Apologeten im Umfeld der AKP betonen stattdessen den unleugbaren Beitrag der einfachen Soldaten bei der Verteidigung der Dardanellen gegen die alliierten Landungstruppen. Opfer des radikalen, antireligiösen "Jakobinismus" der zwanziger bis frühen vierziger Jahre werden gewürdigt, ohne Atatürk an der Spitze des Systems zu erwähnen. Bei der Behandlung der Kämpfe der Armee gegen kurdische Rebellen in der Provinz Dersim (1935) nannte der Ministerpräsident Erdoǧan Namen von Politikern und Armeeführern als Schuldige an Massakern– unter Ausschluss von Atatürk. Die Umwandlung der Hagia Sophia von einer Moschee in ein Museum im selben Jahr wurde in jüngster Zeit (2014) dem damaligen Bildungsministerium in die Schuhe geschoben, Atatürks Unterschrift unter dem Kabinettsbeschluss, behauptete ein ehemaliger Präsident des Türkischen Geschichtsgesellschaft sei eine Fälschung.
Zügiger Abbau revolutionärer Errungenschaften und Proteste
"Bekennende" Atatürkisten unserer Tage sehen sich heute als aufgeklärte Minderheit. Ihr Protest richtet sich gegen eine sichtbare Islamisierung des öffentlichen Raumes. In ihren Augen wird die Religion zunehmend politisch instrumentalisiert, um abweichende Lebensformen zu kontrollieren. Wenn die neue Protestgeneration nach den Gezi-Unruhen vom Frühsommer 2013 auf die Straße geht, entfaltet sie nicht unbedingt Atatürk-Porträts, aber man erkennt Männer und Frauen, die das Profil von Mustafa Kemal als Identitätsmerkmal auf dem Unterarm tätowiert oder auf dem rasierten Schädel eingeschrieben haben.
Die Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen der Republik Türkei im Jahr 2023 rücken näher, ohne dass Regierende und Oppositionelle in ein Gespräch über die Gestaltung dieses Jubiläums eingetreten wären. Welche Rolle Atatürk und sein Vermächtnis in diesem Rahmen einnehmen werden, kann daher noch niemand sagen.
Genauso ungewiss ist, wie ein zum Präsidenten der Republik gewählter Recep Tayyip Erdoğan den weiteren Rückbau des Kemalismus vorantreibt. Festzustehen scheint jedoch, dass die wichtigen Ergebnisse der Wirksamkeit Atatürks nicht angetastet werden: insbesondere das Zivilgesetzbuch nach europäischen Vorbild und die Latinisierung der Schrift werden in der Türkei Bestand haben.
Klaus Kreiser war bis 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Bamberg. Er lebt als Autor in Berlin. Letzte Buchveröffentlichungen: Atatürk. Eine Biographie, 5. Aufl.( 2014); Istanbul. Ein historischer Stadtführer 3. Aufl. (2013); Geschichte Istanbuls. Von der Antike bis zur Gegenwart (2010); Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart (2012).
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