Oft wurde die Verfassung der Türkei umgeschrieben, verändert oder außer Kraft gesetzt. Auch in den vergangenen zehn Jahren hat sich im politischen System und damit der Machtverteilung der Türkei viel verändert: Heute steht eine starke Regierung einer geschwächten Justiz gegenüber. Der Staatspräsident wurde 2014 erstmals direkt gewählt und erhält so eine neue Legitimation. Was diese Entwicklung für das Mächtegleichgewicht der Türkei bedeuten wird bleibt abzuwarten.
Die Türkei wurde am 29. Oktober 1923 nach einem vierjährigen Befreiungskrieg (Kurtuluş Savaşı) gegen Griechenland, Armenien, Großbritannien, Italien und Frankreich von General Mustafa Kemal Atatürk in Ankara als neutraler, säkularer und unabhängiger Staat gegründet. Atatürk wurde ihr erster Staatspräsident. Seine Reformen und Veränderungen haben die türkische Staatsideologie, den Kemalismus, geprägt. Die Vision Atatürks war eine moderne, westliche Gesellschaft in der Türkei, in der Männer und Frauen gleichberechtigt miteinander leben. Mit den Kommunalwahlen 1930 fanden erstmals Wahlen im Rahmen eines Mehrparteiensystems statt. Auf nationaler Ebene setzte sich das Mehrparteiensystem aber erst 1946 durch. Zudem haben 1930 auch erstmals Frauen in der Türkei das aktive Wahlrecht ausüben dürfen, seit 1934 haben Türkinnen das aktive und passive Wahlrecht. Von 1993 bis 1996 war Tansu Penbe Çiller die erste und bisher einzige weibliche Ministerpräsidentin der Türkei.
Die heutige Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der dritten Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. In Art. 2 der Verfassung sind die Merkmale der Republik (Cumhuriyetin nitelikleri) wie folgt definiert:
"Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat."
Seit 1982 gab es inzwischen mehr als zehn Änderungsgesetze zur türkischen Verfassung. Alleine acht Verfassungsänderungen wurden von der derzeitigen Regierung ins Parlament eingebracht. Zuhal Yeşilyurt Gündüz bezeichnet den EU-Beitrittsprozess als "Motor für die Reformdynamik in der Türkei". Sie konstatiert 2005:
"Die Türkei ist heute demokratischer, freiheitlicher, rechtsstaatlicher denn je. Die EU hat viel hierzu beigetragen. Nicht auszudenken, in welcher Lage Ankara heute wäre, wenn es nicht stets der Ansporn der angestrebten EU-Mitgliedschaft zur Demokratisierung getrieben hätte."
Nachdem die AKP am 12. Juni 2011 zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahl mit einer absoluten Mehrheit gewonnen hatte, gab es einige Veränderungen im Erscheinungsbild der Türkei und der AKP-Regierung, die eine neue Interpretation der Politik der islamisch-konservativen Regierung in Ankara notwendig macht.
Wahlsystem in der Türkei
Die wesentlichen Bestimmungen, Vorschriften und Verfahrensregeln für das türkische Parlament, die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi) sind in den Artikeln 75 bis 100 der türkischen Verfassung geregelt. Diese besagen unter anderem, dass das Parlament aus 550 Abgeordneten besteht, die für vier Jahre gewählt werden. Wesentliche Aufgaben des Parlaments sind die Gesetzgebung, die Verfassungsänderung, die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge und die Verabschiedung des Staatshaushalts. Ein Abgeordneter muss mindestens 25 Jahre alt sein, die Grundschule absolviert sowie als Mann seinen Wehrdienst abgeleistet haben. Grundsätzlich dürfen Kandidatinnen und Kandidaten für das Parlament nicht vorbestraft sein.
Zudem ist es Angehörigen der Streitkräfte, Richtern, Staatsanwälten, Professoren, Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst nicht erlaubt das passive Wahlrecht auszuüben, es sei denn, sie quittieren den Dienst. Das aktive Wahlrecht wird in Artikel 67 geregelt. Demnach dürfen alle türkischen Staatsangehörigen mit Vollendung des 18. Lebensjahres an Wahlen und Volksabstimmungen teilnehmen. Ausgeschlossen vom Wahlrecht sind nicht nur inhaftierte Strafttäter, sondern auch Soldaten und Unteroffiziere sowie Schüler von Militärakademien. Diese Besonderheit ist historisch gewachsen und hat ihre Wurzeln in der ursprünglichen Aufgabe des Militärs: Als Hüterin von Verfassung und Kemalismus sollte es außerhalb der Gesellschaft und Politik stehen.
In Artikel 33 des Abgeordnetenwahlgesetzes (Milletvekili Seçimi Kanunu) wird eine im internationalen Vergleich sehr hohe Sperrklausel in Höhe von zehn Prozent festgeschrieben. Diese Zehnprozenthürde gilt landesweit und nicht nur regional auf die 81 Provinzen bezogen. Im Weiteren wird erläutert, dass auch, wenn ein Kandidat in einer Provinz die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann, er dennoch nicht ins Parlament einzieht, wenn seine Partei insgesamt keine zehn Prozent erhält. Diese Sperrklausel wird seit Jahren in der Türkei kontrovers diskutiert und wurde auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verhandelt. Der EGMR war der Meinung, dass die Türkei trotz der hohen Einzugshürde ihren weiten Ermessensspielraum bezüglich Art. 3 des 1. Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht überschritten habe und daher auch keine Verletzung von selbigem vorliege.
Seit der Verfassungsänderung von 1995 haben Auslandstürken das Recht per Brief- oder Konsulatswahl an Wahlen und Volksabstimmungen auf nationaler Ebene teilzunehmen. Sie können allerdings nur Parteien wählen und keine unabhängigen Kandidaten. Aus administrativen Gründen hat sich die Umsetzung verzögert. Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 werden erstmals im Ausland lebende Türken an Wahlen teilnehmen können, ohne dafür in die Türkei reisen zu müssen. In Deutschland leben 1,3 Millionen wahlberechtigte Türken, das entspricht der Hälfte aller wahlberechtigter Auslandstürken.
Aufgrund einer Wahlpflicht ist die Wahlbeteiligung bei türkischen Parlamentswahlen ausgesprochen hoch, bei der letzten Parlamentswahl 2011 lag sie bei 83 Prozent, bei der vergangenen Kommunalwahl im März 2014 sogar bei fast 89 Prozent. Die Strafe für die Nichtabgabe der Stimme beträgt derzeit 22 Türkische Lira, dies entspricht im Frühjahr 2014 ungefähr 7,30 Euro.
Kommunalwahlen (Mahalli İdareler) werden in Artikel 127 der Türkischen Verfassung geregelt und finden alle fünf Jahre statt. Sollten die Wahlen innerhalb eines Jahres vor oder nach einer Parlamentswahl oder Zwischenwahl liegen, müssen die Wahlen mit dieser zusammen abgehalten werden.
In der Präambel und Artikel 3 der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben. Daher ist die türkische Verwaltung auch zentralistisch aufgebaut. Es gibt mit den Provinzen (İl), den Landkreisen (ilçe) und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure (vali) der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt, den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter (kaymakam) vor. Die Bürgermeister (belediye başkanı) und Dorfvorsteher (muhtar) werden vom Volk direkt für fünf Jahre gewählt. Eine politische Autonomie ist auf der untersten kommunalen Ebene stark eingeschränkt, denn der Muhtar untersteht dem Vali und dem Kaymakam und hat kein eigenes Budget. Es werden auch drei kommunale Parlamente vom Volk gewählt (il genel meclisi, belediye meclisi und ihtiyar heyeti).
Grundsätzlich wird der Türkei ein sehr hohes Wechselwählerpotential zugesprochen. Seit der Regierungsübernahme durch die AKP im Jahr 2002 kann dies jedoch nicht mehr im bisherigen Umfang beobachtet werden.
Im Gegensatz zum deutschen Wahlrecht gibt es in der Türkei kein Nachrückverfahren. Wenn also ein Abgeordneter während der Wahlperiode aus dem Parlament ausscheidet, rückt niemand automatisch nach. Freigewordene Sitze werden durch eine Nachwahl, die sogenannte Zwischenwahl (Ara Seçim), neu vergeben.
Problematisch an diesem Verfahren ist die Möglichkeit sich verändernder Mehrheitsverhältnisse während einer laufenden Wahlperiode. Auch kann der Wahlkampf die parlamentarische Arbeit lähmen, da er Entscheidungen verzögern kann.
Derzeit im türkischen Parlament vertretene Parteien
AKP - Interner Link: Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi), wurde 2001 neugegründet und ging aus der verbotenen islamistischen Tugendpartei (Fazilet Partisi) hervor. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ist seit 2001 der Parteivorsitzende der islamisch-konservativen AKP.
CHP - Interner Link: Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi), gegründet 1923 vom ersten türkischen Staatspräsidenten General Mustafa Kemal Atatürk. Sie ist die erste und damit auch älteste Partei der Türkei. Kemal Kılıçdaroğlu ist seit 2010 Parteivorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei.
MHP - Interner Link: Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi), die islamisch-nationalistische Partei wurde 1969 durch Alparslan Türkeş gegründet. Seit 1997 ist Devlet Bahçeli der Parteivorsitzende.
BDP/HDP - Interner Link: Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi), wurde noch während des Verbotsverfahrens der Vorgängerpartei, der Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi), 2008 gegründet. Der Vorsitzende dieser kurdisch-sozialdemokratischen Partei ist Selahattin Demirtaş. Im Zuge des Fusionsprozesses mit der HDP traten im April 2014 27 Abgeordnete der BDP der HDP bei und gründeten eine neue Fraktion im Parlament.
* Şerafettin Elçi gewann bei der Parlamentswahl 2011 als unabhängiger Kandidat ein Mandat für die Provinz Diyarbakır. Später trat er erneut der Interner Link: KADEP bei, sodass die Partei mit einem Sitz in der Großen Nationalversammlung vertreten war. Im Dezember 2012 verstarb Elçi.
Der Staatspräsident
Im Oktober 2007 votierten die Türken per Referendum mehrheitlich für die Direktwahl des Staatspräsidenten (Türkiye Cumhurbaşkanı). Aus dem Referendum geht das am 19. Januar 2012 von der Großen Türkischen Nationalversammlung verabschiedete Gesetz über die Wahl des Staatspräsidenten (Cumhurbaşkanı Seçimi Kanunu) hervor. Darin wird geregelt, dass die Amtszeit des Präsidenten fünf Jahre beträgt und er einmal wiedergewählt werden kann. Um kandidieren zu können muss er mindestens 40 Jahre alt sein und ein Hochschulstudium absolviert haben. Die Wahl eines neuen Präsidenten muss mindestens 60 Tage vor dem Ende der laufenden Amtszeit stattfinden. Die Aufgaben des Präsidenten werden in Artikel 104 der türkischen Verfassung geregelt. Er ist das protokollarische Staatsoberhaupt (Devletin Başı), repräsentiert die Republik Türkei nach außen und steht für die Einheit der türkischen Nation. Am 10. August 2014 haben die Türken ihr Staatsoberhaupt erstmals direkt gewählt - Recep Tayyip Erdoğan gewann die Abstimmung bereits im ersten Wahlgang mit einer absoluten Mehrheit.
Der türkische Staatspräsident ist seit 1923 Staatsoberhaupt des Landes. Bis 2017 sollte er als „Hüter der Verfassung“ die Staatsorgane beaufsichtigen - seit 2018 hat das Amt die größte Machtfülle.
Mustafa Kemal Atatürk (* 1881 † 1938) gilt als Begründer der modernen Türkei. Zunächst Führungsfigur im türkischen Befreiungskrieg, schaffte
er schließlich das Sultanat ab. Im Jahr 1923 wurde die Republik Türkei ausgerufen, und Atatürk wurde ihr erster Staatspräsident. Bis heute wird
der "Vater der Türken" im Land verehrt, jede Herabsetzung juristisch geahndet: ein Straftatbestand ähnlich dem der Beleidigung des Türkentums, der
auch schon genutzt wurde, um Bürgerrechtler und kritische Journalisten sowie Schriftsteller zu kriminalisieren. Eine unvoreingenommene
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wirken Atatürks ist in der Türkei bis heute nur begrenzt möglich.
İsmet İnönü (* 1884 † 1973), Militär- und Weggefährte Mustafa Kemal Atatürks, war von 1923 bis 1924 erster Ministerpräsident der Türkei. In
den Jahren 1925 bis 1937 sowie von 1961 bis 1965 übte er dieses Amt erneut aus. Zwischenzeitich war der CHP-Politiker, nach Atatürks Tod im Jahr
1938, auch Staatspräsident der Türkei. Er begann eine Demokratisierung des Landes und versuchte einen Ausgleich zwischen Laizismus und Islam.
Celâl Bayar (* 1883 † 1986) war von 1950 bis zum ersten Militärputsch 1960 dritter Staatspräsident der Republik Türkei. Nachdem sein Vorgänger
İsmet İnönü im Jahr 1945 das Ende des türkischen Einparteiensystems proklamierte, traten Bayar sowie der spätere Ministerpräsident Adnan
Menderes aus der kemalistischen CHP (Republikanischen Volkspartei) aus und gründeten 1946 die Demokrat Parti (DP). Bei der Wahl 1950 gewann diese
schließlich die Parlamentsmehrheit. Unter seine Präsidentschaft fiel auch das anti-griechische Pogrom von Istanbul. Nach dem Militärputsch wurde
Bayar zum Tode verurteilt, anders als sein Parteifreund Menderes jedoch nicht hingerichtet, und 1966 schließlich begnadigt.
Mit Cemal Gürsel (* 1895 † 1966) folgte 1960 auf den noch demokratisch gewählten Celâl Bayar schließlich einer der Putschisten ins höchste
Staatsamt. Im putschenden "Komitee der nationalen Einheit" bekleidete er zuvor eine Führungsposition. Zwischenzeitlich war Gürsel sowohl
Ministerpräsident als auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Indessen gab er eine neue Verfassung in Auftrag, unter der er als Staatspräsident
vereidigt wurde. General Gürsel galt als liberal und politisch links orientiert, 1966 trat er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Nach seinem Tod
veränderte sich die politische Ausrichtung des Militärs, das nun zunehmend autoritärer agierte.
Cevdet Sunay (* 1899 † 1982) wurde 1966 von der Nationalversammlung zum fünften Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Sein Vorgänger Cemal
Gürsel war wegen gesundheitlicher Probleme zurückgetreten. Seine Wahl galt als Konzession der regierenden konservativen Gerechtigkeitspartei (AP) an
das Militär, welches sechs Jahre zuvor geputscht hatte: Ministerpräsident Süleyman Demirel wollte so erneute Spannungen mit der Armee vermeiden.
Cevdet Sunay blieb bis zum regulären Ende seiner Amtszeit im Jahr 1973 - einer Periode, die von Studentenunruhen, steigender Terrorismusgefahr und
dem zweiten Militärputsch im Jahr 1971 geprägt war - Staatspräsident der Türkei.
Admiral Fahri Korutürk (* 1903 † 1987) fand 1973 als Kompromisskandidat den Weg in das Staatspräsidentenamt. Der Favorit der Militärführung und
Chef des Generalstabs General Faruk Gürler war zuvor am Widerstand der großen Parteien im Parlament gescheitert. Korutürk agierte streng
überparteilich und machte seinen Einfluss gerade auch in Zeiten der rivalisierenden und sich zeitweise abwechselnden Ministerpräsidenten Bülent
Ecevit und Süleyman Demirel geltend. Seine Amtszeit endete 1980. Als kein Nachfolger gefunden werden konnte, schloss sich der dritte Militärputsch
unter General Kenan Evren an.
Nach dem Sturz der Regierung durch das Militär im Jahr 1980 wurde Generalstabschef Kenan Evren (* 1917 † 2015) durch die Armee als Staatspräsident
eingesetzt. Evren verhängte das Kriegsrecht und setzte eine Militärregierung ein. Schwerwiegende Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen waren die
Folge. Die neue, vom Militär vorgelegte Verfassung wurde am 7. November 1982 per Volksabstimmung angenommen. Evren wurde damit gleichzeitig bis 1989
im Amt bestätigt. Bestrebungen, ihn für die begangenen Verbrechen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, waren bis zum Verfassungsreferendum im Jahr
2010 nicht möglich. Im Juni 2014 wurde Evren zu lebenslanger Haft verurteilt, die er wegen seines Alters jedoch nicht mehr antreten musste.
Mit dem Wahlsieger des Jahres 1983, Turgut Özal (* 1927 † 1993), endete eine dreijährige Militärherrschaft. Als Ministerpräsident versuchte sich
der Politiker der Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei") an einer Übereinkunft mit den Armeniern und einer Aufarbeitung des Völkermords. Özal
bemühte sich außerdem um eine Entschärfung des Kurdenkonflikts - eine Politik, die in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten war.
Aufgrund zahlreicher Widerstände blieben diese Bemühungen jedoch weitestgehend erfolglos. Später zum Staatspräsident ernannt, endete seine
Amtszeit 1993 mit seinem plötzlichen Tode. Der dringende Verdacht, dass Özal vergiftet wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Süleyman Demirel (* 1924 † 2015) regierte als Ministerpräsident zunächst von 1965 bis zum zweiten Militärputsch 1971. Von 1975 bis Juni 1977 und
von Juli bis Dezember 1977 sowie von 1979 bis zum dritten Militärputsch 1980 war er wiederholt Chef verschiedener, stets fragiler
Koalitionsregierungen. Als Politiker der 1981 aufgelösten, nationalkonservativen Adalet Partisi (AP), später als Doğru Yol Partisi (DYP)
neugegründet, betrieb er eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Von 1991 bis 1993 war er letztmalig Ministerpräsident, daraufhin bis zum Jahr 2000
Staatspräsident.
Mit Ahmet Necdet Sezer (* 1941) kam zum ersten Mal in der türkischen Geschichte kein Militär oder Parlamentarier in das Amt des Staatspräsidenten.
Im Jahr 2000 gewählt, war der promovierte Jurist zuvor unter anderem als Richter am Kassationsgericht sowie am Verfassungsgericht tätig. An
letzteres wurde er 1988 durch Kenan Evren berufen. Sezer war ein starker Befürworter des Laizismus in der Türkei, weshalb es wiederholt zu
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und der seit 2002 regierenden AKP kam bis Sezer 2007 aus dem Amt ausschied.
Der AKP-Politiker Abdullah Gül (* 1950) war von 2007 bis 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von November 2002 bis März 2003
Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Ziel dieser Regierung war es u.a., durch eine Gesetzesänderung die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum
Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Als dies gelang, wurde Gül unter Erdoğan Außenminister. In diesem Amt irritierte er nicht zuletzt mit einem
Unterstützungsaufruf für die islamistische Bewegung Millî Görüş. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ging er in Fragen der
Rechtsstaatlichkeit regelmäßig auf Distanz zu seinem Parteifreund Erdoğan. Das Verhältnis der beiden gilt heute als angespannt.
Recep Tayyip Erdoğan (* 1954) war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während Anhänger insbesondere den wirtschaftlichen Aufstieg des
Landes unter der Regierung seiner islamischen AKP loben, sorgen sein autoritärer Regierungsstil und seine Gesellschaftspolitik regelmäßig für
Kontroversen. In seine Amtszeit als Ministerpräsident und heute Staatspräsident fallen auch die drastische Einschränkung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Kritiker und Oppositionelle werden von ihm bis heute kriminalisiert. Gestützt wird Erdoğan zwar vornehmlich von konservativen
Wählern, er hat jedoch Anhänger in allen Bevölkerungsschichten: Sowohl die deutliche Verbesserung der Lebensqualität, der enorme Ausbau der
Infrastruktur und die politische Entmachtung des Militärs sind untrennbar mit seiner Person verbunden. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im
Jahr 2014 hat sich die Machtverteilung im politischen System der Türkei zusehends vom Amt des Ministerpräsidenten auf das Amt des Staatspräsidenten
verlagert. Durch die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zum Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 wird diese Machtverlagerung bis
zum Jahr 2019 auch de jure vollzogen. Danach wird es das Amt des Ministerpräsidenten nicht mehr geben. Der Staatspräsident wird dann auch
Regierungschef sein.
Die Aufgaben des Staatspräsidenten in Zusammenhang mit der Legislative sind vielfältig. Er ist oberster Hüter der türkischen Verfassung und überwacht die ordentliche Tätigkeit der Staatsorgane. Zu seinen formalen Aufgaben zählt die Verkündigung von Gesetzen. Hier besitzt er ein materielles Prüfungsrecht und ein suspensives Vetorecht. Er kann also Gesetze zur erneuten Beratung an die Nationalversammlung zurückverweisen. Gesetze, die in Zusammenhang mit Verfassungsänderungen stehen, kann er als Referendum dem Volk zur Abstimmung stellen. Er kann auch bei Verfassungsbedenken gegen Gesetze und Verordnungen das Verfassungsgericht anrufen. Er kann die Nationalversammlung einberufen und deren Neuwahl festlegen.
In Zusammenspiel mit der Exekutive kommen dem Staatspräsidenten weitere Aufgaben zu. Er ernennt den Ministerpräsidenten und nimmt dessen Rücktritt an. Auf Vorschlag des Ministerpräsidenten ernennt und entlässt er die Minister. Nach seinem Ermessen kann er den Ministerrat einberufen und diesem auch vorsitzen.
Der Präsident erteilt auch die völkerrechtliche Zustimmung (Agrément) für ausländische Diplomaten und nimmt diese formal in das diplomatische Korps (Corps Diplomatique) der Türkei auf. Entsprechend entsendet er auch die türkischen Botschafter in andere Staaten.
Zudem ist der Präsident Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates und kann diesen einberufen. Er entsendet türkische Truppen und kann stellvertretend für das Parlament in bestimmten Ausnahmen den Oberbefehl über die türkischen Streitkräfte ausüben und dann auch über Krieg und Frieden entscheiden. Der Generalstabschef der türkischen Armee wird ebenfalls vom Präsidenten ernannt. Er setzt den Staatskontrollrat (Devlet Denetleme Kurulu) und dessen Vorsitzenden ein. Außerdem leitet er Untersuchungen, Nachforschungen und Kontrollen durch das Kontrollgremium ein. Er ernennt die Universitätsrektoren (nach Vorschlag des Hochschulrates) und ein Drittel der Mitglieder des Hochschulrates (Yükseköğretim Kurulu).
Die Befugnisse des Präsidenten in der Judikative sind die Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichts (Türkiye Cumhuriyeti Anayasa Mahkemesi) und eines Viertels der Mitglieder des Staatsrates (Türkiye Cumhuriyeti Danıştay Başkanlığı), des Generalstaatsanwalts (Cumhuriyet Başsavcısı) sowie weiterer Mitglieder anderer ziviler und militärischer Gerichte. Trotz dieser weitreichenden Befugnisse liegt die politische Macht in den Händen des türkischen Ministerpräsidenten.
Ministerrat und Ministerpräsident
Der Ministerrat entspricht dem Kabinett im bundesdeutschen politischen System. Er setzt sich nach Artikel 110 der Verfassung aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern zusammen. Der Ministerpräsident wird vom Staatspräsidenten aus der Reihe der Mitglieder der Großen Nationalversammlung, also dem Parlament der Türkei ernannt. Die Minister werden vom Ministerpräsidenten vorgeschlagen und müssen nicht Abgeordnete der Nationalversammlung sein. Nachdem der Präsident den Ministerrat eingesetzt hat, muss das Parlament über den gesamten Ministerrat abstimmen und das Vertrauen aussprechen. Hierzu ist die absolute Mehrheit aller Abgeordneten erforderlich. Das Parlament kann auch einen Misstrauensantrag gegen einen einzelnen Minister oder den gesamten Ministerrat im Rahmen des Interpellationsrechts (Art. 99) verhandeln. Eine Fraktion oder 20 Abgeordnete können verlangen, dass sich ein Minister oder der Ministerrat zu den politischen Handlungen vor dem Parlament erklärt und ggf. können daraus Misstrauensanträge oder Vertrauensfragen erwachsen. Stellt der Ministerrat die Vertrauensfrage und verfehlt dabei die absolute Mehrheit, gilt die gesamte Regierung als zurückgetreten. Der Präsident kann nun einen neuen Ministerpräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragen. Findet sich kein geeigneter Kandidat, oder kann keiner im Parlament die absolute Mehrheit erringen, kann der Präsident nach Beratung mit dem Parlamentspräsidenten (TBMM Başkanı) Neuwahlen ausschreiben.
In der Türkei war bis 2017 der Ministerpräsident der politisch einflussreichste Amtsträger. Welche Personen auf diesem Posten haben die Türkei seit ihrer Republikwerdung 1923 geprägt?
İsmet İnönü (* 1884 † 1973), Militär- und Weggefährte Mustafa Kemal Atatürks, war von 1923 bis 1924 erster Ministerpräsident der Türkei. In
den Jahren 1925 bis 1937 sowie von 1961 bis 1965 übte er dieses Amt erneut aus. Zwischenzeitich war der CHP-Politiker, nach Atatürks Tod im Jahr
1938, auch Staatspräsident der Türkei. Er begann eine Demokratisierung des Landes und versuchte einen Ausgleich zwischen Laizismus und Islam.
Adnan Menderes (* 1899 † 1961, im Bild mit Bundeskanzler Konrad Adenauer 1958 in Bonn) war der erste frei gewählte Ministerpräsident der Türkei.
Als Mitglied der damaligen Demokrat Parti (DP) regierte er von 1950 bis 1960. Seine Amtszeit wurde durch den Militärputsch im Jahr 1960 beendet.
Menderes wurde verurteilt und hingerichtet: Der zweite Ministerpräsident der Türkei war ein Gegner des vorherrschenden Laizismus und forderte die
Rückkehr zum islamisch geprägten Staat. Zudem ereignete sich während seiner Amtszeit das Istanbuler Pogrom an griechischen Christen. In der
heutigen Türkei ist Adnan Menderes Ansehen wieder hergestellt. Bei konservativen Gesellschaftsschichten hat er sogar einen prominenten Status - ein
Zustand, der stark von Regierungsseite aus befördert wurde. Nach ihm sind Straßen, eine Universität und der Flughafen von Izmir benannt.
Süleyman Demirel (* 1924 † 2015) regierte als Ministerpräsident zunächst von 1965 bis zum zweiten Militärputsch 1971. Von 1975 bis Juni 1977 und
von Juli bis Dezember 1977 sowie von 1979 bis zum dritten Militärputsch 1980 war er wiederholt Chef verschiedener, stets fragiler
Koalitionsregierungen. Als Politiker der 1981 aufgelösten, nationalkonservativen Adalet Partisi (AP), später als Doğru Yol Partisi (DYP)
neugegründet, betrieb er eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Von 1991 bis 1993 war er letztmalig Ministerpräsident, daraufhin bis zum Jahr 2000
Staatspräsident.
Der Journalist, Schriftsteller und Kemalist Bülent Ecevit (* 1925 † 2006) war insgesamt vier Mal Ministerpräsident der Türkei. Nachdem der
CHP-Politiker 1974 erstmalig regierte, wechselte er sich in den späten 1970er-Jahren mehrfach mit Süleyman Demirel ab. Wie sein politischer
Kontrahent hatte auch er unter den repressiven Konsequenzen des dritten Militärputschs durch General Kenan Evren im Jahr 1980 zu leiden. Später
gründete er die Demokratische Linkspartei (DSP), mit der er zwischen 1999 und 2002 letztmalig als Ministerpräsident regierte.
Mit dem Wahlsieger des Jahres 1983, Turgut Özal (* 1927 † 1993), endete eine dreijährige Militärherrschaft. Als Ministerpräsident versuchte sich
der Politiker der Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei") an einer Übereinkunft mit den Armeniern und einer Aufarbeitung des Völkermords. Özal
bemühte sich außerdem um eine Entschärfung des Kurdenkonflikts - eine Politik, die in der türkischen Öffentlichkeit heftig umstritten war.
Aufgrund zahlreicher Widerstände blieben diese Bemühungen jedoch weitestgehend erfolglos. Später zum Staatspräsident ernannt, endete seine
Amtszeit 1993 mit seinem plötzlichen Tode. Der dringende Verdacht, dass Özal vergiftet wurde, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Die erste und bisher einzige Frau im Amt des türkischen Ministerpräsidenten: Tansu Çiller (* 1946) regierte von 1993 bis 1996. Die türkische "Iron
Lady" und DYP-Politikerin brachte viele wirtschaftspolitische Reformen auf den Weg und sprach sich für einen EU-Beitritt der Türkei aus. Wiederholt
musste sie sich allerdings auch mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen. Später, nach dem Bruch ihrer Regierungskoalition im Jahr 1996, war sie
bis 1997 Außenministerin unter Necmettin Erbakan.
Necmettin Erbakan (* 1926 † 2011), von 1996 bis 1997 Ministerpräsident der Türkei, gilt als politischer Ziehvater Recep Tayyip Erdoğans. Dessen
AKP ging im Jahre 2001 aus dem Reformflügel von Erbakans islamistischer "Wohlfahrtspartei" (Refah Partisi) hervor. Bereits 1970 gründete er die
erste Parteiorganisation der extremistischen Millî-Görüş-Bewegung. Programmatisch tonangebend war für den überzeugten Konservativen ein
nationalistisch gefärbter Islamismus. Diesen führte er regelmäßig gegen liberale Wertvorstellungen ins Feld. In seiner Ablehnung des Laizismus
geriet er regelmäßig mit der kemalistischen Staatsdoktrin in Konflikt. Erbakan verlor sein Amt durch den "Sanften Putsch" im Jahr 1997, bzw. musste
auf Druck der Militärs zurücktreten. Seine Partei wurde verboten.
Auch Mesut Yılmaz (* 1947, Anavatan Partisi (ANAP, "Mutterlandspartei")) war mehrfach Ministerpräsident der Türkei. Erstmalig von Juni bis Oktober
1991, dann erneute für nur einige Monate 1996 und schließlich nach dem von den Militärs erzwungenen Rücktritt Necmettin Erbakans von 1997 bis
1999. Zur Parlamentswahl 2007 trat Yilmaz als unabhängiger Kandidat an und wurde in die türkische Nationalversammlung gewählt, aus der er 2011
wieder ausschied. Der Volkswirt Yılmaz ist Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, studierte in den 1970er-Jahren in Köln, war von 2003 bis 2004 an
der Ruhr-Universität Bochum als Gastdozent tätig und spricht fließend deutsch.
Der AKP-Politiker Abdullah Gül (* 1950) war von 2007 bis 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von November 2002 bis März 2003
Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Ziel dieser Regierung war es u.a., durch eine Gesetzesänderung die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum
Ministerpräsidenten zu ermöglichen. Als dies gelang, wurde Gül unter Erdoğan Außenminister. In diesem Amt irritierte er nicht zuletzt mit einem
Unterstützungsaufruf für die islamistische Bewegung Millî Görüş. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ging er in Fragen der
Rechtsstaatlichkeit regelmäßig auf Distanz zu seinem Parteifreund Erdoğan. Das Verhältnis der beiden gilt heute als angespannt.
Recep Tayyip Erdoğan (* 1954) war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei. Während Anhänger insbesondere den wirtschaftlichen Aufstieg des
Landes unter der Regierung seiner islamischen AKP loben, sorgen sein autoritärer Regierungsstil und seine Gesellschaftspolitik regelmäßig für
Kontroversen. In seine Amtszeit als Ministerpräsident und heute Staatspräsident fallen auch die drastische Einschränkung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Kritiker und Oppositionelle werden von ihm bis heute kriminalisiert. Gestützt wird Erdoğan zwar vornehmlich von konservativen
Wählern, er hat jedoch Anhänger in allen Bevölkerungsschichten: Sowohl die deutliche Verbesserung der Lebensqualität, der enorme Ausbau der
Infrastruktur und die politische Entmachtung des Militärs sind untrennbar mit seiner Person verbunden. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im
Jahr 2014 hat sich die Machtverteilung im politischen System der Türkei zusehends vom Amt des Ministerpräsidenten auf das Amt des Staatspräsidenten
verlagert. Durch die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zum Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 wird diese Machtverlagerung bis
zum Jahr 2019 auch de jure vollzogen. Danach wird es das Amt des Ministerpräsidenten nicht mehr geben. Der Staatspräsident wird dann auch
Regierungschef sein.
Von 2014 bis 2016 war Ahmet Davutoğlu (* 1959) Ministerpräsident der Türkei. Davutoğlu ist Politikwissenschaftler und arbeitete als Professor an
verschiedenen Universitäten. Nach dem Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 wurde er zuerst außenpolitischer Berater Erdoğans, später Botschafter. 2009
machte Erdoğan ihn zum Außenminister: Bereits 2001 hatte Davutoğlu das Buch Stratejik Derinlik (Strategische Tiefe) veröffentlicht. Darin
erklärte er eine neue außenpolitische Strategie für die Türkei. Das Ziel war, alle Konflikte mit den Nachbarländern beizulegen und regional wie
global eine führende internationale Rolle einzunehmen: Anfänglich konnte Davutoğlu mit dieser Politik Erfolge erzielen, heute sind die Beziehungen
zu beinahe allen Nachbarstaaten der Türkei sowie zu wichtigen politischen und Handelspartnern schwer beschädigt oder zumindest stark belastet.
Binali Yıldırım (* 1955) wird wohl als letzter Ministerpräsident der Türkei in die Geschichte eingehen. Seit 2016 ist der AKP-Politiker
Ministerpräsident und Regierungschef der Türkei. Mit dem Amt des Ministerpräsidenten übernahm er auch das des Parteivorsitzenden der AKP von
seinem Vorgänger Ahmet Davutoğlu. Den Parteivorsitz hat Staatspräsident Erdoğan bereits im Mai 2017 wieder übernommen. Die Kompetenzen des
Regierungschefs sollen bis 2019 auf das Amt des Staatspräsidenten übertragen werden. Yıldırım gilt als Anhänger Erdoğans und hat sich –
anders als andere prominente AKP-Politiker – nie kritisch gegenüber Staatspräsident Erdoğan geäußert. Dementsprechend warb Binali Yıldırım
auch uneingeschränkt für das Verfassungsreferendum im April 2017 – und damit für die Abschaffung seines eigenen Amtes. Yıldırım wird aktuell
als schwacher Ministerpräsident eingeschätzt. Die Richtlinien der Politik des Landes werden von Staatspräsident Erdoğan bestimmt.
Im Gegensatz zum deutschen Bundeskanzler hat der türkische Ministerpräsident keine Richtlinienkompetenz. Das bedeutet, dass der gesamte Ministerrat für Entscheidungen der Regierung dem Parlament gegenüber in gemeinsamer Verantwortung steht und der Ministerpräsident gegenüber den Ministern formal nicht weisungsbefugt ist. Ihre Politik verantwortet er jedoch mit. Eine Besonderheit des türkischen Verfassungsrechts ist der vorläufige Ministerrat (Geçici Bakanlar Kurulu) vor und während einer Wahl. In Artikel 114 der Verfassung wird festgelegt, dass drei Tage vor einer Parlamentswahl der Innenminister, der Justizminister und der Verkehrsminister zurücktreten müssen. Diese Ministerien werden für Wahlen als äußerst strategisch angesehen. Durch den vorherigen Rücktritt soll ein unparteiischer Verlauf der Wahl gewährleistet werden. Diese drei Ministerien werden dann vom Ministerpräsidenten an parteilose/unabhängige Abgeordnete oder an Persönlichkeiten außerhalb des Parlaments vergeben die auch regulär an den Ministerratssitzungen teilnehmen. Diese Übergangsminister bleiben dann, wie die anderen Regierungsmitglieder auch, bis zur konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung im Amt.
Der Nationale Sicherheitsrat
Seit den 1940er-Jahren gibt es einen Nationalen Sicherheitsrat (Milli Güvenlik Kurulu, kurz MGK) in der Türkei.
Seit dem ersten Militärputsch von 1960 und der daraus entstandenen Verfassung von 1961 ist der Nationale Sicherheitsrat auch als Verfassungsorgan fest im türkischen Recht verankert. Der Sicherheitsrat war lange Jahre das Gremium, indem das Militär seinen Einfluss auf die Regierung und damit auf die Politik ausüben konnte. Es hatte stets eine militärische Mehrheit und tagte einmal im Monat zur inneren und äußeren Sicherheit. Der MGK war in Fragen der Sicherheit der Regierung weisungsbefugt. Aufgrund zahlreicher Verfassungsreformen und Gesetzesänderungen seit 2003 durch die AKP ist der Sicherheitsrat mit einer zivilen Mehrheit ausgestattet, da nun auch die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten, der Innenminister und der Justizminister dem Gremium angehören. Außerdem tritt er nur noch alle zwei Monate zusammen und ist ausschließlich ein beratendes Organ.
Nachdem der Europäische Rat in Helsinki (Dezember 1999) der Türkei offiziell den Status eines Beitrittskandidaten verlieh und am 3. Oktober 2005 die Beitrittsverhandlungen eröffnet wurden, wurde eine Heranführungsstrategie vereinbart, die die Verfahren und Instrumente des Prozesses bis zum einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union regelt. Bedingung für den Beitritt eines Landes zur EU ist die Überführung der EU-Gesetzgebung (acquis communautaire) in nationales Recht. Seit 2001 hat die Türkei mehrere EU-Anpassungspakte beziehungsweise Harmonisierungsgesetze verabschiedet. Am 7. August 2003 trat das siebte Harmonisierungspaket in Kraft. Die wichtigste Gesetzesänderung in diesem Reformpaket ist die Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und dem Militär. Die Aufgaben und Zuständigkeiten des Nationalen Sicherheitsrates wurden darin überarbeitet und die Rolle als Beratungsgremium herausgestellt (Artikel 4). Die Kompetenzen des Generalsekretariats wurden an die des Rates angepasst. Zudem wurde die Häufigkeit des Zusammentretens des Nationalen Sicherheitsrates von monatlich auf zweimonatlich reduziert, außerdem wurde das Recht des Generalstabchefs Treffen einzuberufen gestrichen. Der Generalsekretär wird auf Vorschlag des Premierministers und nach Bestätigung durch den Präsidenten ernannt. Außerdem können nun auch Zivilisten das Amt des Generalsekretärs ausüben.
Die Mitglieder des Rates sind gemäß Art. 118 der türkischen Verfassung die Oberbefehlshaber von Heer, Marine, Luftwaffe und Gendarmerie, der Generalstabschef, der Ministerpräsident, seine beiden Stellvertreter, die Minister des Äußeren, des Inneren und der Verteidigung sowie der Staatspräsident, der zudem auch Vorsitzender des Rates ist. Durch diese seit 2003 geltende Zusammensetzung sind heute die zivilen Mitglieder in diesem Gremium in der Mehrheit.
Die letzten Wahlen
Bei den letzten drei Parlamentswahlen (2002, 2007 und 2011) konnte jeweils die AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erringen. Durch das besondere Wahlsystem der Türkei kommt es bei der Betrachtung der Ergebnisse allerdings zu einem Paradoxon: Obwohl die AKP bei jeder Wahl ihre Stimmenanteile steigern konnte, sind die errungenen Sitze im Parlament stetig gesunken.
Von der AKP errungene Stimmen in Prozent und gewonnene Mandate im Parlament
Parlamentswahl
Stimmen in Prozent (AKP)
gewonnene Mandate (AKP)
2002
34,4
363
2007
46,5
341
2011
49,8
327
Darstellung Tabelle: Johannes Henrich, 2014.
Das liegt daran, dass 2002 lediglich die AKP und die CHP die Zehnprozenthürde überspringen konnten. Bei den Wahlen 2007 und 2011 hat die MHP ebenfalls die Sperrklausel erfüllt. Zudem sind seitdem auch einige unabhängige Abgeordnete im Parlament vertreten, die sich 2011 zur Fraktion der BDP zusammengeschlossen haben. Die nächsten Parlamentswahlen finden voraussichtlich im Oktober 2015 statt.
Die Kommunalwahlen 2014 brachten ein ähnlich dominantes Ergebnis für die AKP hervor. Begleitet von zahlreichen Wahlfälschungsvorwürfen und Unregelmäßigkeiten erzielte die AKP wichtige Siege in Istanbul und Ankara und kam insgesamt auf 42,9 Prozent der Stimmen. Damit liegt die AKP deutlich über dem Niveau der Kommunalwahl von vor fünf Jahren. Damals erzielte die AKP 38,4 Prozent. Zweitstärkste Partei wurde die CHP mit 26,3 Prozent, gefolgt von der MHP mit 17,8 Prozent und der BDP mit 4,2 Prozent. Insgesamt traten 26 Parteien und einige unabhängige Kandidaten zur Wahl an, 18 von diesen konnten Sitze in den kommunalen Parlamenten gewinnen.
Der Kommunalwahl gingen einige wichtige Ereignisse voraus und somit wurde die Wahl zu einem Gradmesser für die Regierungspartei. Es war die erste Wahl seit des Gezi-Park-Protests (Sommer 2013), der Korruptionsaffäre (Winter 2013/2014) und der offenen Anfeindung zwischen AKP und der Hizmet-Bewegung des islamischen Predigers Interner Link: Fetullah Gülen (Frühjahr 2014). Experten taten sich schwer damit, eine Prognose darüber abzugeben, wie sehr das Zerwürfnis Erdoğans mit Gülen der AKP schaden könnte. Letztlich hat die Kommunalwahl gezeigt, dass sich der Einfluss der Gülen-Bewegung auf die türkische Wählerschaft sehr in Grenzen hält, bzw. für den größeren Teil der Wähler andere Aspekte der türkischen Politik ausschlaggebend für ihr Wahlvotum waren. Die nächsten Kommunalwahlen werden im Jahr 2019 stattfinden.
Verfassungsreferendum 2010 und Ausblick auf den weiteren Demokratisierungsprozess
Die aktuelle Verfassung der Türkei wurde durch die damalige Militärregierung ausgearbeitet und am 7. November 1982 in einem Referendum vom türkischen Volk mit über 91 Prozent der Stimmen angenommen. Seitdem sind zahlreiche kleinere und größere Verfassungsänderungen vorgenommen worden. Aufgrund der nicht erfolgreichen Kandidatur Abdullah Güls als Staatspräsident kam es 2007 zu vorgezogenen Neuwahlen und im Anschluss daran zu einer Verfassungsänderung durch die erneut siegreiche und gestärkte AKP, welche die Wahl des Staatspräsidenten anders regelte. Der Staatspräsident wird nun nicht mehr durch das Parlament, sondern direkt vom Volk gewählt. Die AKP hatte im Wahlkampf 2007 die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und den Fortgang des Demokratisierungsprozesses angekündigt, diese Pläne wurden nach der Wahl aber nicht weiter verfolgt. Die Europäische Union hat allerdings während der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weitere Reformen von der Regierung in Ankara gefordert. Im Frühjahr 2010 unternahm Regierungschef Erdoğan einen erneuten Versuch eine neue Verfassung zu erarbeiten. Nach seiner Vorstellung sollte dadurch die Justiz reformiert, die Bürgerrechte gestärkt und das Parteienrecht geändert werden. Die türkische Verfassung sollte an die Normen der europäischen Demokratie angeglichen werden. Da sich die Regierung nicht mit der Opposition auf einen gemeinsamen Verfassungsentwurf einigen konnten, wurde im Frühjahr 2010 lediglich der Regierungsentwurf einer weiteren Reform von der Nationalversammlung beraten und verabschiedet. Diese Reform sah Änderungen in 27 Artikeln vor. Die Abgeordneten der AKP stimmten zwar mit einer absoluten Mehrheit für die Vorlage, die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit wurde aber verfehlt. Somit musste der Beschluss in einem Referendum dem türkischen Volk zur Wahl gestellt werden. Am 12. September 2010, dem 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980, stimmten fast 58 Prozent für die Verfassungsänderung. Die Opposition lehnte mehrheitlich den Vorschlag ab und stilisierte das Referendum zu einer Abstimmung über den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Ein Hauptkritikpunkt war die Justizreform, die der Regierung und dem Parlament deutlich mehr Einfluss auf die Rechtsprechung gab. Die CHP sieht darin eine Verwässerung der in der Verfassung verankerten Gewaltenteilung.
Mit der Verfassungsreform von 2010 sind aber auch einige Forderungen und Wünsche der EU erfüllt worden. Das türkische Volk erhielt erstmals ein Individualbeschwerderecht beim Verfassungsgericht. Das türkische Militär wurde weiter entmachtet, insbesondere die bis dahin quasi autonome Militärgerichtsbarkeit. Parteienverbote sind erschwert worden und die Bürgerrechte wurden gestärkt, insbesondere von Frauen, Kindern, Rentnern und Menschen mit Behinderung. Die 2010 aufkeimende Hoffnung einer sich demokratisierenden Türkei wurde jedoch durch die brutale Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013, der willkürlichen Entlassung und Versetzung hunderter Polizisten und Staatsanwälte im Zuge des Korruptionsskandals im Umfeld der Regierung und des als autoritär und selbstherrlich empfundenen Führungsstils Erdoğans im Keim erstickt. Auch sein unsensibler Umgang mit dem schwersten Grubenunglück im Mai 2014 mit 301 Toten in Soma irritierte nicht nur einen großen Teil der türkischen Bevölkerung.
Der Demokratisierungsprozess in der Türkei ist seit 2003 durch Reformen, eingeleitet durch die regierende AKP, kontinuierlich vorangetrieben worden. Dennoch besteht in und außerhalb der Türkei die Sorge, dass die AKP diese Reformen nur vordergründig wegen eines eventuellen türkischen EU-Beitritts vollzogen hat. Es wird vielfach befürchtet, dass die Unterordnung des türkischen Militärs unter zivile Kontrolle, die "Befreiung des Kopftuchs" (Erdoğan am 24.05.2014 in Köln), die politische Stärkung der Regierung und des Staatspräsidenten, die erweiterte Einflussnahme der Regierung auf Strafverfolgungsbehörden (Exekutive) und Justiz (Judikative) vor allem den Machterhalt der AKP zum Ziel hat. Fakt ist, dass die Türkei seit Atatürk nicht mehr so viele Reformen und gesellschaftliche Veränderungen erlebt hat. Aber sie wurde auch seit Atatürk nicht mehr von einem so charismatischen wie autoritären Führer regiert. Inhaltlich stehen sich Atatürk und Erdoğan sowie deren jeweiliger Anhängerschar diametral gegenüber, in der Art der Machtausübung und des Machterhalts sind sie sich nicht sehr fremd.
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Dr. Christian Johannes Henrich hat Politikwissenschaft, Soziologie und VWL an den Universitäten Bonn, Siegen, Innsbruck, Bursa und Istanbul studiert, und ist Lehrbeauftragter an der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die türkische Außenpolitik und das politische System der Türkei.
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