Im Sommer 1934 wurde die jüdische Bevölkerung in der westlichen Grenzregion der europäischen Türkei Opfer kollektiver Gewalt. Daran schloss sich die Vertreibung aus der Region an.
Fast zeitgleich griffen Ende Juni 1934 türkische Nationalisten die Juden der Hafenstadt Çanakkale in der Dardanellenregion sowie in den thrakischen
In Edirne und Kırklareli nahmen die anti-jüdischen Ausschreitungen pogromartige Ausmaße an. In Kırklareli kam es Anfang Juli 1934 zu systematischen Plünderungen, Raub und sogar Vergewaltigungen. Die jüdischen Einwohner wurden geschändet, misshandelt, verwundet. Getötet wurden sie nicht, was in der Forschung auf eine Anweisung "von oben" zurückgeführt wird.
Von den örtlichen Behörden erhielten die Juden die Anweisung, binnen weniger Tage ihre Geschäfte abzuwickeln und ihre Unterkünfte zu verlassen, was auch geschah. Einige konnten ihre bewegliche Habe mitnehmen, viele ließen ihren Besitz zurück oder mussten ihn zu Schleuderpreisen an einheimische Türken veräußern. Die geschätzte Zahl der Vertriebenen schwankt zwischen 3.000 (offizielle türkische Angaben) und 10.000 Menschen (nach verschiedenen Quellen der europäischen Diplomatie).
Keine mediale Beachtung der Übergriffe
In den überregionalen türkischen Zeitungen fand sich kein Wort über die gewaltsamen Übergriffe. Lokale Zeitungen hatten schon seit Monaten mit antijüdischen und antisemitischen Berichten die Stimmung in Thrakien vergiftet. Sie riefen zum Wirtschaftskrieg gegen die "rassisch verdorbenen Heuchler" auf. Nachdem die jüdische Bevölkerung Haus und Hof verlassen hatte, brachten sie unverhohlen ihre Freude über den Weggang der "Schacherer" zum Ausdruck.
Erst nachdem die ausländische Presse über die Ereignisse berichtet hatte, äußerte sich die türkische Regierung zu den antijüdischen Ausschreitungen. Für
Die staatlichen Zusicherungen erwiesen sich jedoch als Schall und Rauch: Weder erhielten die Opfer Entschädigungen noch wurden sie staatlich repatriiert. Gut die Hälfte der Vertriebenen kehrte später auf eigene Kosten nach Çanakkale und Edirne zurück. Die Schikanen und Demütigungen der örtlichen Behörden, Boykottbewegungen und auch Presseangriffe hörten jedoch nicht auf und führten zur dauerhaften Verunsicherung der jüdischen Bevölkerung. Nach und nach wanderten auch die verbliebenen Juden aus der Region ab: Zunächst infolge der diskriminierenden Vermögenssteuer (1942), die faktisch zur Enteignung von Nichtmuslimen, darunter auch der Juden führte.
Der Staat und die Täter
Neueren Erkenntnissen zufolge spricht einiges dafür, dass vor allem lokale staatliche Institutionen und Behörden mehr oder weniger in die anti-jüdischen Ausschreitungen involviert waren bzw. Kenntnis von ihrer Inszenierung hatten und sie nicht verhinderten.
Tatsächlich befand sich die Grenzregion, die während der Balkankriege (1912/13) und des
Die türkische Regierung betrieb eine konsequente Einwanderungspolitik, um den muslimisch-türkischen Anteil ihrer Bevölkerung zu erhöhen. Besonders Muslime aus den südosteuropäischen Nachbarländern (Griechenland, Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien) wurden gezielt für eine "Heimführung" angeworben, und zu diesem Zweck Umsiedlungsverträge mit diesen Staaten abgeschlossen. Aber nicht nur die materiellen Anreize, die Muslimen im Zuge der türkischen Repatriierungspolitik angeboten wurden, sondern auch die zeitgleiche Homogenisierungspolitik in den Abstammungsländern verstärkte die Migrationsneigung. Die Türkei der Zwischenkriegszeit wurde so zu einem Einwanderungsland für Muslime: Betrug der Anteil der Zugewanderten an der Gesamtbevölkerung der
In Thrakien wurden besonders viele türkisch-muslimische Einwanderer aufgenommen: Die Aufnahmekapazität der Region erwies sich schnell als hoffnungslos überfordert, weil die notwendige Infrastruktur und Unterkünfte fehlten. So lebte der Großteil der zwischen 1933 und 1934 in Thrakien angesiedelten muslimischen Immigranten in behelfsmäßigen Lagern und Baracken. Es gibt keine Informationen, ob die muslimischen Neuzuwanderer an den anti-jüdischen Übergriffen signifikant beteiligt waren. Klar ist aber, dass ihre desolate materielle Lage antijüdische Ressentiments unterstützte. Die Presse stellte die Lage der Einwanderer dem relativen jüdischen Wohlstand gegenüber und machte Juden für die Misere verantwortlich.
Rechtliche Gleichstellung und neuerliche Diskriminierung
Der autoritäre Einparteienstaat
An dem Niedergang der jüdischen Gemeinschaft im türkischen Nationalstaat kann man die Ambivalenz der politischen Moderne erkennen: Im vormodernen osmanischen Vielvölkerstaat waren die jüdischen Gemeinden, wie auch andere nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen, nur geduldet; in der Völkerhierarchie standen sie weit hinter den Muslimen und wurden in vielfacher Hinsicht diskriminiert. Ungeachtet ihres niederen Rechtsstatus besaßen sie jedoch gewisse Rechte, die ihr Gemeindeleben betrafen. Sie führten praktisch ein quasi-autonomes Gemeindeleben mit eigenen religiös fundierten Rechtsbeziehungen im zivilrechtlichem Bereich und eigenen Institutionen wie Schulen, Krankenhäusern, Gerichten usw. Im "modernen" Nationalstaat hingegen wurden sie zwar rechtlich gleichgestellt, aber diese Gleichstellung verhinderte nicht neuerliche Diskriminierung und schuf im Vergleich zu vorangegangenen Zeiten sogar stärkeren Assimilationsdruck.
Die verschwiegene Vertreibung
In den 1930er-Jahren fand der häufig euphemistisch als "die thrakischen Ereignisse" bezeichnete Pogrom kaum Beachtung. Beispielsweise reagierte der Völkerbund in keiner Weise. Die mangelnde internationale Aufmerksamkeit erklärt sich mit Blick auf die nationalsozialistische Judenpolitik. Die Völkergemeinschaft schien damals mehr mit der gewaltsamen Dissimilation und Entbürgerlichung der Juden in Deutschland beschäftigt, so dass sie die gewaltsame türkische Assimilationspraxis, deren Opfer unter anderem Juden wurden, "übersah". Die Tatsache, dass die "thrakischen Ereignisse" aus der Perspektive der 1930er-Jahre ein regional begrenzter Einzelfall blieben, da keine landesweiten antisemitischen Gewaltakte stattfanden und die türkische Regierung bestrebt war, sich von den Aktionen zu distanzieren, hat zum Ausbleiben einer deutlichen Reaktion beigetragen. Auch die jüdischen und zionistischen Organisationen der Zwischenkriegszeit, die Wert auf gute Beziehungen mit der neuen Türkei legten, skandalisierten den Pogrom nicht. Diese zeitgenössische Sicht kann aber den Opfern der Gewalt nicht entsprechen. Viel schwieriger zu erklären ist, warum der Pogrom auch im Gedächtnis der vertriebenen Juden oder der Juden in den nicht betroffenen Gebieten der Türkei kaum eine Rolle spielte. Die Wissenschaft hat bis heute keine befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden.
Der Pogrom fand in der Türkei selbst bis in die 1990er-Jahre weder politische noch wissenschaftliche Beachtung, geschweige denn Aufarbeitung. Seither jedoch sind einige wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema erschienen, das Interesse der großen Öffentlichkeit fanden sie jedoch bislang nicht.
Die Geschichte der türkischen Juden wird heute überlagert von einem wachsenden Antisemitismus, oft im Verbund mit Antizionismus, in islamistischen, nationalistischen und teilweise auch in linken Milieus. Die offizielle Türkei dagegen zeichnet von sich selbst ein judenfreundliches Bild, das von der türkisch-jüdischen Stiftung 500. Yıl Vakfi (500. Jahr Stiftung) unterstützt wird. Darin wird regelmäßig an die Aufnahme der Sepharden nach ihrer Vertreibung von der Iberischen Halbinsel in das Osmanische Reich 1492 bzw. an die "traditionelle" osmanisch-türkische "Gastfreundschaft" erinnert. Die "unangenehmen" Aspekte der türkisch-jüdischen Geschichte, wie sie die Vorgänge in Thrakien darstellen, werden entweder geflissentlich übersehen oder höchstens als eine Art Randnotiz im Sinne eines "Betriebsunfalls" vermerkt.