Migrationsziel Türkei
Türkischstämmige Hochqualifizierte verlassen Deutschland
Dr. Yaşar Aydın
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In den letzten Jahren gelang das Phänomen der Abwanderung von in Deutschland geborenen, türkischstämmigen Hochqualifizierten regelmäßig in den Fokus der Medien. Fortwährend wird das Thema dabei mit einer gewissen Verblüffung behandelt, zu Unrecht.
Die Annahme, dass Abwanderung "für eine weitgehende Abkehr von der Aufnahmegesellschaft" steht und "ein Indiz für missglückte Integration" ist, ist weit verbreitet, richtig ist sie dadurch noch nicht. In Anbetracht demographischer Entwicklungen, des Fachkräftemangels und des fehlenden Erfolgs bei der Anwerbung von Hochqualifizierten und Fachkräften wurde die Abwanderung türkischstämmiger Hochqualifizierter als wirtschaftlich und politisch kritisch betrachtet und hat bereits eine Brain Drain Diskussion ausgelöst. Was motivierte gerade diese bestens integrierten Menschen, von denen zu erwarten wäre, dass sie in Deutschland bleiben würden, für ein Leben und eine Erwerbstätigkeit in der Türkei?
Populäre Erklärungen haben häufig Diskriminierungserfahrungen, Identifikationsprobleme und Integrationsdefizite der Abgewanderten hervorgehoben, die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen in der Türkei haben sie dagegen mit der Ausnahme der "prosperierenden Wirtschaft" kaum in den Blick genommen. Tatsächlich jedoch sind die Abwanderungsentscheidungen von türkischstämmigen Hochqualifizierten von unterschiedlichsten Motiven geleitet. Außerdem gehen sie mit einer "Wende" im deutsch-türkischen Wanderungsgeschehen einher, für das wiederum
verschiedene nationale wie internationale Entwicklungen verantwortlich sind.
Die deutsch-türkische "Migrationswende"
Deutschland und die Türkei haben mit dem "Abkommen" zur Anwerbung von "Gastarbeitern" im Jahr 1961 Migrationsprozesse in Gang gesetzt, die sich auch heute fortsetzen. Bis in die 1990er-Jahre kamen etwa vier Millionen Menschen aus der Türkei nach Deutschland. Etwa die Hälfte blieb und der Rest kehrte wieder zurück. Von den knapp 3 Millionen Türkischstämmigen, die heute in Deutschland leben, sind etwa 1,4 Millionen deutsche und 1,5 Millionen türkische Staatsangehörige. Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen ist rückläufig, was in erster Linie auf Einbürgerungen, die Nichtzulassung der doppelten Staatsbürgerschaft und die restriktiven Einreisebedingungen auch bei der Familienzusammenführung zurückzuführen ist.
Tabelle: Ab- und Zuwanderung aus der und in die Türkei
In den letzten Jahren hat sich die Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland stark verlangsamt, während umgekehrt die Abwanderung aus Deutschland in die Türkei grosso modo konstant geblieben ist. Im Jahr 1991 wies die deutsch-türkische Migrationsbilanz ein Plus von etwa 46.000 Personen zugunsten Deutschlands auf. Im Jahr 2000 waren es nur noch knapp 10.000. 2006 gab es schließlich eine negative Migrationsbilanz für Deutschland, die sich in den Folgejahren fortgesetzt hat. Angemerkt werden muss außerdem, dass die "Zuwanderung" aus der Türkei nach Deutschland übererfasst ist, die negative Migrationsbilanz ist also eigentlich noch größer: Die jährlichen Einreisen aus der Türkei nach Deutschland waren beispielsweise in den letzten drei bis vier Jahren etwa drei Mal höher als die an türkische Staatsbürger erteilten Einreisevisa. Daraus lässt sich schließen, dass etwa zwei Drittel der Zugewanderten bereits in Deutschland gelebt haben und daher im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder der deutschen Staatsbürgerschaft sein müssten. Insofern handelt es sich bei einem Großteil der aus der Türkei nach Deutschland Zugewanderten nicht um "Neuankömmlinge", wie es häufig angenommen wird, sondern um "Rückkehrer".
Das aktuelle deutsch-türkische Wanderungsgeschehen besteht aber nicht nur aus Zu- und Abwanderungen, sondern zu einem großen Teil aus transnationalen zirkulären Migrationsbewegungen von nicht nur Türkischstämmigen. Diese jenseits von Expertenkreisen kaum zur Kenntnis genommene "Migrationswende" steht in Zusammenhang mit nationalen wie globalen Entwicklungen der letzten Jahre.
Globalisierung, Transnationalisierung und Wirtschaftsdynamik
Durch welche gesamtgesellschaftlichen und globalen Faktoren lassen sich die "Migrationswende" und die Abwanderung von türkischstämmigen Hochqualifizierten aus Deutschland in die Türkei erklären? Drei Entwicklungen in Deutschland sind diesbezüglich von Bedeutung:
Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen.
Anstieg von Islamfeindlichkeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und generalisierende öffentliche Debatten zum Beispiel über die vermeintliche "Integrationsresistenz" türkischstämmiger Bevölkerung.
Von Relevanz ist zudem der Anstieg der Zahl der eingebürgerten Türkischstämmigen und die neue ausländerrechtliche Regelung, die Migranten mit Aufenthaltsstatus gestattet, sich länger als ein halbes Jahr im Ausland oder in der Heimat aufzuhalten. Dadurch wurden Abwanderungsentscheidungen wesentlich erleichtert, weil eine Rückkehr nach Deutschland jederzeit möglich ist.
Angetrieben wurden die "Migrationswende" und die Abwanderungsentscheidungen türkischstämmiger Hochqualifizierter auch von Entwicklungen in der Türkei:
Die Wirtschaftsdynamik des letzten Jahrzehnts ist eine zentrale Ursache für die steigende Attraktivität der Türkei als Migrationsziel. Hohe Wachstumsraten, Anstieg der industriellen Produktion und der ausländischen Direktinvestitionen sowie die Internationalisierung von Wertschöpfungsketten ließen den Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften und Hochqualifizierten steigen.
Die Beitrittsperspektive in die Europäische Union veranlasste die türkische Regierung zu Reformen in Politik, Wirtschaft und Justiz, die zur Demokratisierung des Staates, Pluralisierung der Gesellschaft und zu mehr Rechtssicherheit beigetragen haben. Die Soft Power der Türkei, d.h. die Fähigkeit der außenpolitischen Einflussnahme durch die Attraktivität des Landes, fußte neben der positiven Wirtschaftsleistung und der EU-Beitrittsperspektive auch auf der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie sowie der als konstruktiv wahrgenommenen Vermittlerrolle zwischen den Konfliktparteien im Nahen Osten. Sie trug ebenfalls zur Attraktivität sowohl für Migranten als auch ausländischen Unternehmer und Anleger.
Im Zuge der Globalisierung ist es zu einer Intensivierung globaler Bewegungen von Kapital, Gütern und Dienstleistungen und einer weiteren raumzeitlichen Verdichtung der Lebenswelt gekommen. Ganz konkret haben neue Kommunikationsnetzwerke wie facebook und schnellere, günstige Beförderungsmöglichkeiten wie "Billigflüge" dabei zum Schrumpfen von Distanzen geführt. Diese Entwicklungen gingen mit einer Transnationalisierung einher: Türkischstämmige Migranten mit transnationaler Orientierung und Lebensführung engagierten sich in transnationalen Netzwerken und trugen somit zur Entwicklung eines transnationalen sozialen Raumes bei, der Deutschland und die Türkei verbindet. Sowohl Globalisierung als auch Transnationalisierung haben zahlreiche Mobilitätsbarrieren beseitigt und somit Migrationsentscheidungen auch im deutsch-türkischen Kontext wesentlich erleichtert.
Subjektive Motive: Karriere, Identität und transnationales soziales Kapital
Im Zuge einer Forschungsarbeit wurden 2011 eine Reihe von qualitativen Interviews mit abgewanderten türkischstämmigen Hochqualifizierten geführt. Aus diesen Interviews geht hervor, dass berufliche Gründe wie etwa der Wunsch nach einer schnelleren Karriere, Aufstiegsmöglichkeiten oder bessere Verdienstmöglichkeiten eine zentrale Rolle bei der Abwanderungsentscheidung gespielt haben. Die meisten der interviewten Abgewanderten hatten sich für eine Abwanderung in die Türkei entschieden, nachdem sie eine
angemessene Anstellung gefunden hatten. Später sind sie in der Türkei geblieben, weil sie mit ihren Jobs zufrieden waren. Andere wenige, die mit dem Alltag und Erwerbsleben in der Türkei nicht zurechtkamen, haben sich für eine Rückkehr nach Deutschland entschieden.
Die Abwanderung in die Türkei erschien für viele türkischstämmige Hochqualifizierte als eine Option, weil sie den beruflichen Aufstieg oder die soziale Aufwärtsmobilität in der Türkei als aussichtsreicher betrachteten. Viele begründeten ihre Abwanderungsentscheidungen mit Hinweis auf die Wirtschaftsentwicklung und die damit verbundenen Verdienst- und Karrieremöglichkeiten. Daraus lässt sich schließen, dass für viele rationale Erwägungen zentral waren. Gleichwohl gehörten Gründe, die Identität, Zugehörigkeit und Kultur betrafen, ebenfalls zu wichtigen Handlungsimpulsen. Einer der Interviewten, ein junger Journalist brachte beim Interview die Identitätsdimension seines Abwanderungsmotivs so auf den Punkt: "Es war sicher so eine Art Identitätsfindung im Hinterkopf dabei. [Ich] dachte, ich muss einfach eine gewisse Zeit hier in [Istanbul] verbringen … muss die Orte sehen, wo [meine Eltern] gewohnt haben. […] Habe mich irgendwann gefragt: Wie ist es denn so, wenn man in der Türkei lebt und wenn man hier ist?" Eine in Deutschland geborene und sozialisierte junge Übersetzerin, die ebenfalls aus Gründen, die Identität und Zugehörigkeit betrafen, in die Türkei abgewandert war, bezeichnete ihre Entscheidung als "zurück zu den Wurzeln". "Ich habe Identitätskonflikte gehabt. Wer bin ich? Ich habe dann gesagt: Du bist ‘ne Türkin … und um Deutsche zu sein, muss du was von dir aufgeben. Hier [in der Türkei] habe ich nichts aufgegeben".
Familiäre Gründe sowie Studien- bzw. Forschungsinteressen waren – wenn auch in geringerem Umfang – bei Abwanderungsentscheidungen ebenfalls wichtig. Gleichwohl war bei den meisten Abgewanderten nicht ein einzelner Grund – auch wenn sie in den Interviews vielfach ein einziges Motiv benannten – entscheidend, sondern vielmehr ein Bündel an verschiedenen Gründen.
Die Abwanderungsentscheidungen wurden nicht situativ getroffen – infolge bestimmter Umstände, wie Arbeitslosigkeit oder negativer Erlebnisse – sondern häufig sogar über mehrere Jahre hinweg vorbreitet.
Entscheidend ist, dass die untersuchten Fälle keinesfalls das verbreitete Bild des türkischstämmigen Hochqualifizierten bestätigt, der aufgrund von Integrationsschwierigkeiten, mangelnder Identifikation mit Deutschland oder Fremdheitsgefühl in die Türkei abwandert. Bei den meisten abgewanderten türkischstämmigen Hochqualifizierten konnte ganz im Gegenteil eine starke Werteintegration in die Kultur und Gesellschaft Deutschlands festgestellt werden: Für die überwältigende Mehrheit der Befragten waren Werte wie Kritikfähigkeit, Egalität, Diskussionskultur oder Normalität von Konflikten, die für demokratisch-pluralistisch verfassten Gesellschaften konstitutiv sind, eine Selbstverständlichkeit.
Die Abwanderung türkischstämmiger Hochqualifizierter hat multiple Gründe
Dass türkischstämmige Hochqualifizierte sich in fast allen Fällen trotz eines starken Integrationsgrades und Internalisierung der sozio-politischen Grammatik der Gesellschaft der Bundesrepublik für ein Leben und eine Erwerbsarbeit in der Türkei entschieden hatten, lässt sich mit ihren transnationalen Orientierungen und Beziehungen sowie mit ihrem in der Türkei verwertbaren transnationalen sozialen Kapital erklären.
Zusammenfassend lässt sich erstens sagen, dass die Abwanderung türkischstämmiger Hochqualifizierter multiple Gründe hat und nicht auf einen einzigen Grund reduzieren lässt. Zweitens steht die Abwanderung türkischstämmiger Hochqualifizierter im Kontext der "Wende" im deutsch-türkischen Migrationsgeschehen. Die "Migrationswende" wiederum steht in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, Islamophobie und rechtlichen Regelungen in Deutschland sowie mit Wirtschaftsdynamik, Demokratisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung in der Türkei.
ist seit April 2013 Mercator-IPC-Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Forschung und Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen. Forschungsgebiete: Migrationsforschung und Zuwanderungspolitik; Türkeiforschung; Nationalismusforschung (Nationalismus, ethnische Konflikte, Fremdheitsproblematik, kollektive Identität); Soziale Philosophie und Politische Theorie (Theorien der Moderne/Modernisierung)
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