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Geschichte des Judentums im bosnisch-herzegowinischen, kroatischen und serbischen Kulturraum Südosteuropas | Südosteuropa | bpb.de

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Geschichte des Judentums im bosnisch-herzegowinischen, kroatischen und serbischen Kulturraum Südosteuropas

Martina Bitunjac

/ 11 Minuten zu lesen

Jüdinnen und Juden haben seit ihrer Einwanderung auf den Balkan die Länder Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina entscheidend mitgeprägt und gestaltet.

Jüdisches Paar in traditioneller Kleidung vor 1910 in Sarajevo (© Atelierbild. Historisches Archiv Sarajevo, unter: https://gams.uni-graz.at/o:vase.2334)

Sephardische und aschkenasische Lebenswelten in der Neuzeit

Jüdinnen und Juden haben seit ihrer Einwanderung in den osmanischen, venezianisch-dalmatinischen und habsburgischen Kulturraum des heutigen Serbiens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas das sich verändernde historisch-gesellschaftliche Umfeld, in dem sie lebten, entscheidend mitgeprägt und gestaltet. Zwar gibt es bis zur Neuzeit keine Belege für ein kontinuierliches jüdisches Leben in diesen drei genannten südosteuropäischen Ländern, allerdings existieren für einige Ortschaften, etwa in Salona nahe der Hafenstadt Split, archäologische Zeugnisse ihrer Präsenz zur Zeit der römischen Antike. Ihre anhaltende Einwanderung in die venezianischen und osmanischen Gebiete des Balkans bzw. in die Republik Ragusa (heutiges Dubrovnik) setzte erst seit dem 15. und 16. Jahrhundert ein, als sephardische Jüdinnen und Juden im Zuge der Inquisition sowie der damit verbundenen Verfolgung, Zwangskonvertierung und Vertreibung aus Spanien und Portugal fliehen mussten. Sie kamen über das Mittelmeer und die Adria in die Republik Ragusa, die ihre Schiffe für die Überfahrt zur Verfügung stellte, oder über die Hafenstadt Split, wo sie entweder blieben oder weiter in den osmanischen Balkan – nach Serbien und Bosnien-Herzegowina – zogen.

In Belgrad, Sarajevo und anderen osmanischen Städten lebten die Neuankömmlinge in den mahalle (Stadtvierteln), wo sie im Laufe der Zeit ihre Gotteshäuser, Schulen, Geschäfte und Wohnhäuser errichteten. Vom Sultan erhielten sie – wie die christliche Minderheit – den Status der dhimmis (Schutzbefohlenen), das heißt, sie unterlagen rechtlichen Beschränkungen und waren von diskriminierenden Maßnahmen betroffen, wie der Entrichtung hoher Sondersteuern. Zumindest durften sie verschiedene Berufe ausüben: Sie waren bedeutende Rabbiner, Mediziner und Apotheker und bildeten als Händler und Unternehmer, die im Vertrieb von kostbaren Gewürzen, Textilien, Schmuck und Rohstoffen tätig waren, sowohl auf Schiff- als auch auf Landwegen eine Brücke zwischen der Republik Ragusa sowie den venezianisch-dalmatinischen und osmanischen Territorien. Das interreligiöse muslimisch-christlich-jüdische Zusammenleben hatte allerdings auch Schattenseiten und war insbesondere, aber nicht nur, in Zeiten von Kriegen, Epidemien und sozialen Krisen durch Judenfeindlichkeit belastet. So wurde beispielsweise im 17. Jahrhundert der Jude Isaac Jeshurun in der Republik Ragusa des Ritualmordes an einem christlichen Mädchen beschuldigt. Auch kam es im 18. Jahrhundert in derselben Stadt vor dem Hintergrund der Veröffentlichung antijudaistischer Pamphlete durch den Klerus zur Verbrennung des Talmuds.

Die Synagoge in Zagreb (© Kroatische Universitäts- und Nationalbibliothek, Zagreb unter: https://digitalna.nsk.hr/?pr=i&id=10801)

Während sephardische Jüdinnen und Juden im osmanischen Teil der Region ihre judäo-spanische Sprache pflegten und sich, insbesondere kulturhistorisch betrachtet, in die osmanische Gesellschaft integrierten, handelte es sich bei den Einwandernden in das habsburgische Kroatien-Slawonien, in die Vojvodina sowie in Bosnien-Herzegowina, das 1908 von Österreich-Ungarn annektiert wurde, um eine deutsch- und/oder ungarischsprachige aschkenasische Bevölkerung. Diese gründete ihre Gemeinden, Schulen und Synagogen in verschiedenen Städten – von Slavonski Brod über Sarajevo bis Novi Sad –, von denen nur wenige die Vernichtung im Holocaust und die oft zu Privatzwecken erfolgte Demolierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit überdauert haben.

Die ersten Immigrantinnen und Immigranten, die vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts in die habsburgischen Gebiete kamen, waren in erster Linie Kaufleute und Hausierer, die durch ihren Erfolg nicht selten den Konkurrenzneid christlicher Unternehmer hervorriefen. Trotz dieser Ausgangslage prägten einige jüdische Männer die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft dieser habsburgischen Region: So etwa Ljudevit Schwarz (1858–1943), der erste jüdische Abgeordnete im kroatischen Parlament, und Šandor Alexander (1866–1929), ein angesehener Industrieller und Philanthrop.

Die sprachliche Assimilation erfolgte bei der ersten Generation jüdischer Einwanderinnen und Einwanderer sehr schleppend. Aus nationalen Motiven, aber insbesondere auch wegen ihres wirtschaftlichen Erfolges wurden Jüdinnen und Juden bereits seit ihrer ersten Ankunft in Kroatien-Slawonien Zielscheibe judenfeindlicher Aversion und antijüdischer Ausschreitungen. Selbst diejenigen Jüdinnen und Juden, die zum Christentum konvertierten und ihren Namen slawisierten, wurden von den Mehrheitsgesellschaften selten als gleichwertige Bürgerinnen und Bürger angesehen.

Das Judentum während der Nationsbildungsprozesse und der serbischen Unabhängigkeitskriege

Viele Jüdinnen und Juden passten sich letztlich immer mehr an die jeweiligen Kulturen ihrer Umgebung an und identifizierten sich teilweise mit dem nationalen Aufbegehren der Völker im Habsburgerreich und Osmanischen Reich. Daneben kam es im Verlauf der Nationsbildungsprozesse, die schließlich zu den serbischen Aufständen gegen die Osmanen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und weiteren Unabhängigkeitskriegen führten, etwa in Belgrad, zu Angriffen auf Jüdinnen und Juden und in manchen Fällen auch zu deren Tötung, da sie entweder generalisierend als Kollaborierende der „Türken“ oder der Serben betrachtet wurden. Als Reaktion auf den Antisemitismus und die statusbedingte Diskriminierung auf dem Balkan beanspruchten jüdische Vertreter auf dem Berliner Kongress (1878) die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung als Bedingung für die Anerkennung der Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens. Infolgedessen wurde die formale Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden im Fürstentum Serbien verabschiedet, was zur Folge hatte, dass sich jüdische Männer etwa als Abgeordnete politisch engagierten und später unter anderem an den Balkankriegen teilnahmen (1912/13). Andere Jüdinnen und Juden flüchteten mit den Osmanen in die heutige Türkei oder gingen in die habsburgischen Länder. Zudem gab es insbesondere auch jüdische Frauen, die sich den serbischen Nationalbestrebungen verbunden fühlten und die Unabhängigkeitskämpfe unterstützten, wie etwa Natalija (Neti) Munk (1864–1924), die in verschiedenen Kriegen als Krankenschwester verwundete serbische Soldaten pflegte.

Neben diesen bewaffneten Konflikten und dieser demografischen Verschiebung traten im Ersten Weltkrieg (1914–1918), von den Zeitgenossen als „Großer Krieg“ bezeichnet, weitere nationale Identitätsfragen im neu gegründeten jugoslawischen Vielvölkerstaat, der nur von 1918 bis 1941 existieren sollte, zutage.

Jüdisches Leben in der Zwischenkriegszeit

Im „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, das im Jahre 1929 in „Königreich Jugoslawien“ umbenannt wurde, lebten nach unterschiedlichen Quellen über 82 000 Jüdinnen und Juden mit vielfältiger Kultur und Herkunft. Die jüdische Bevölkerung machte nicht mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Jüdinnen und Juden besaßen den Status einer religiösen Minderheitund identifizierten sich größtenteils als Jugoslawinnen und Jugoslawen. Kurz nach der Gründung des „Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen“ schlossen sich die jüdischen Gemeinden im „Bund jugoslawischer Gemeinden in Jugoslawien“ zusammen, der die jüdischen Interessen gegenüber dem Staat vertrat.

Purimfeier in Novi Sad (© Fotograf: K. Molberger. Quelle: Centropa unter: https://www.centropa.org/en/photo/ladislav-hacker-suzana-petrovics-brother-purim-party)

Zur gleichen Zeit florierte die zionistische Bewegung, deren Anfang in den studentischen Auslandsaufenthalten in Wien lag. Dort gründeten die Studierenden eigene südslawisch-jüdische Vereine, deren jüdische nationalpolitische und -kulturelle Ideen sie später in der südosteuropäischen Region verbreiteten. Sie widmeten sich vor allem dem kulturellen und politischen Zionismus. Allerdings kam es in der Zwischenkriegszeit nie zu einer zahlenmäßig nennenswerten Auswanderung nach Palästina. Lediglich um die 800 Personen, in erster Linie aus der ärmeren mazedonischen Stadt Bitola, emigrierten nach Eretz Israel.

Neben den zionistischen Organisationen (bspw. dem sozialistisch orientierten Hashomer Hatzair) existierten im ersten Jugoslawien jüdische Vereine im Bereich der Kultur, des Sports und der Wohlfahrt. Neben der Gründung zahlreicher jüdischer sozialer, kultureller, humanitärer, sportlicher und politischer Vereine etablierte sich zu dieser Zeit auch eine wegweisende jüdische Publikationskultur. So entstanden in der Zwischenkriegszeit sprachlich unterschiedliche jüdische Zeitungen und Zeitschriften, literarische Werke, historische Studien, zionistisch-nationaljüdische Abhandlungen, ethnografische Beobachtungen und fachorientierte wissenschaftliche Monografien. Zahlreiche jüdische Persönlichkeiten aus dem sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Spektrum machten sich in der südosteuropäischen Region einen Namen – bis zu ihrer Verfolgung im Holocaust. Die Biografien vieler dieser Menschen sind bis heute nicht aufgearbeitet worden.

Nach der Machterlangung Hitlers und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs flüchteten jüdische Schutzsuchende aus dem „Deutschen Reich“ nach Jugoslawien, das sie in erster Linie als Transitland nutzten und sowohl auf legalem als auch illegalem Wege erreichten. Die jüdischen Gemeinden in Jugoslawien nahmen die jüdischen Flüchtlinge auf und kümmerten sich um sie. Gleichzeitig verschärften sich vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Antisemitismus auch in Jugoslawien die antijüdische Stimmung und Politik. Diese zeigte sich unter anderem, als im Jahre 1940 zwei antisemitische Gesetze, die wirtschaftliche und bildungspolitische Einschränkungen betrafen, verabschiedet wurden.

Verfolgung und Vernichtung im Holocaust

Am 6. April 1941 wurde Jugoslawien von den Achsenmächten angegriffen. Die Regierung floh nach London. Seit der Auflösung des Vielvölkerstaates und der erneuten geografischen Neuordnung von Territorien, die den Unabhängigen Staat Kroatien (bestehend auch aus Bosnien-Herzegowina und Syrmien) und das deutsche Militärverwaltungsgebiet Serbien umfassten, begannen die gesetzliche Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung der jüdischen (und nichtjüdischen) Bevölkerung durch einheimische Kollaborierende und nationalsozialistische Verbündete bzw. Besatzer. Im Unabhängigen Staat Kroatien kamen die kroatischen Faschisten, die Ustasche, an die Macht, die sich zuvor im italienischen und ungarischen Exil befanden. Nach nationalsozialistischem Vorbild führten sie „Rassengesetze“ ein, die zur systematischen Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens auf diesem Gebiet führten. Zahlreiche antisemitische Gesetze, Verordnungen und Verbote wurden rasch umgesetzt. So wurden Jüdinnen und Juden gezwungen, einen sogenannten Judenstern zu tragen. Von der „Arisierung“ bzw. der Enteignung jüdischen Besitzes profitierten die Ustasche ebenso wie „einfache“ nichtjüdische Bürgerinnen und Bürger.

Seit April 1941 wurden Menschen sowohl aus politischen als auch aus rassistischen Motiven verhaftet und in ein Gefängnis bzw. Lager deportiert. Das größte Konzentrations- und Vernichtungslager, das von den Ustasche verwaltet und geführt wurde, befand sich in Jasenovac. Dort wurden auf sehr brutale Weise vor allem Serbinnen und Serben, Jüdinnen und Juden, Romnja und Roma sowie politisch missliebige Kroatinnen und Kroaten ermordet. In Jasenovac wurden ungefähr 83 145 Menschen, Frauen, Männer und Kinder, umgebracht. Tausende weitere Jüdinnen und Juden wurden in Konzentrations- und Vernichtungslager im Deutschen Reich verschleppt, unter anderem nach Auschwitz-Birkenau, wo sie nach der „Selektion“ bei der Ankunft entweder Zwangsarbeit leisten mussten oder direkt ermordet wurden. Viele Menschen starben allerdings bereits während des strapaziösen Transports in Viehwaggons. Die Deportation der Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager außerhalb des Unabhängigen Staates Kroatien war ein Resultat der Kollaboration zwischen den Ustasche und den Nationalsozialisten.

In Serbien, das unter deutscher Militärverwaltung stand, etablierte sich ein kollaborierendes Regime unter Führung des Generals Milan Nedić. Infolgedessen beteiligte sich auch die serbische Polizei an der Judenverfolgung. Bereits im April 1941 erließen die deutschen Besatzer antijüdische Verordnungen zur Erfassung und Einschränkung jüdischen Lebens. Im September 1941 wurde Franz Böhme zum Bevollmächtigten Kommandierenden General in Serbien ernannt. Er war für die Massenverbrechen und „Sühneerschießungen“ an der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung verantwortlich. Auf seine Anordnung hin mussten für einen getöteten deutschen Soldaten oder Volksdeutschen 100 Geiseln erschossen werden. In den Ortschaften Kraljevo und Kragujevac bzw. in deren Umgebung verübte die Wehrmacht schwere Massaker an der Zivilbevölkerung. Das brutale Vorgehen der Wehrmacht führte bis zum Herbst 1941 zur Ermordung fast sämtlicher jüdischer Männer in Serbien. Die verbliebene jüdische Bevölkerung, also Frauen, Kinder und ältere Menschen, wurden in das Lager Sajmište (Semlin) im heutigen Belgrad deportiert, einem ehemaligen Messegelände mit verschiedenen Pavillons, das sich formal auf dem Territorium des Unabhängigen Staates Kroatien befand. In Sajmište gab es ungefähr 7000 Internierte, die bis Mai 1942 in einem aus Berlin angeschafften Gaswagen ermordet wurden.

Im Sommer 1942 wurde Serbien von den Nationalsozialisten als „judenfrei“ erklärt. Infolge der antisemitischen Vernichtungspolitik waren die Opferzahlen auf dem ehemals jugoslawischen Territorium enorm: Über 80 Prozent der Jüdinnen und Juden überlebten dort den Holocaust nicht.

QuellentextBrief von Hilda Dajč aus dem Lager Semlin (Sajmište), 7. Februar 1942

Die Krankenschwester Hilda Dajč (1922–1942) schildert am 7. Februar 1942 in ihrem Brief aus dem Lager Semlin (Sajmište) ihre Emotionen, Ängste und den Zustand der internierten Menschen. Der Brief ist an ihre Freundin Mirjana Petrović gerichtet. Im gleichen Jahr wurde Hilda Dajč im Gaswagen ermordet. Der Originalbrief befindet sich im Jüdischen Historischen Museum in Belgrad.

Meine Liebe,

ich hätte mir nicht vorstellen können, dass unsere Begegnung – obwohl ich Dich erwartet hatte – einen derartigen Sturm der Gefühle in mir auslösen und noch mehr Unruhe in meinen ohnehin chaotischen seelischen Zustand bringen würde. [Eine Seele], die überhaupt nicht zur Ruhe kommen kann. Am Stacheldraht endet alles Philosophieren, und die Wirklichkeit, die Ihr Euch außerhalb nicht im Entferntesten vorstellen könnt, weil Ihr vor Schmerz aufheulen würdet, präsentiert sich in vollem Umfang. Diese Wirklichkeit ist jenseits jeder Vorstellungskraft, unser Elend unermesslich. All die Phrasen von der Kraft des Geistes klingen hohl angesichts der Tränen vor Hunger und Kälte. Alle Hoffnungen auf eine baldige Entlassung lösen sich auf angesichts des passiven Dahinvegetierens, das mit Leben überhaupt nichts zu tun hat. Das ist nicht einmal die Ironie des Lebens. Es ist tiefste Tragödie. Wir können es aushalten, nicht etwa, weil wir stark wären, sondern weil wir uns nicht jeden Augenblick das unendliche Elend bewusst machen, das unser Leben ausmacht.

Wir sind schon fast neun Wochen hier, und ich bin gerade nicht fähig, etwas zu schreiben, kann noch ein klein wenig denken. Ausnahmslos jeden Abend lese ich Deine und Nadas* Briefe, und das ist der einzige Moment, wo ich etwas anderes bin als nur Lagerinsasse.** Das Zuchthaus ist ein Paradies im Vergleich hierzu. Wir wissen weder weshalb noch wozu oder für wie lange wir verurteilt worden sind. Alles auf Erden ist wunderbar, auch die elendigste Existenz außerhalb des Lagers, aber dies hier ist die Inkarnation allen Übels. Wir werden alle böse, weil wir hungrig sind, wir werden aggressiv und zählen die Bissen der Nachbarn, alle sind verzweifelt – und dennoch bringt sich niemand um, weil wir alle einer Masse von Tieren gleichen, die ich verachte. Ich hasse uns, weil wir alle gleichermaßen zugrunde gehen.

Wir sind der Welt nahe – und doch so fern von ihr. Wir haben zu keinem Menschen Verbindung, doch das Leben jedes Einzelnen draußen geht einfach weiter, als ob sich einen halben Kilometer weiter nicht die Abschlachtung von sechstausend Unschuldigen abspielen würde. In unserer Feigheit sind wir alle gleich – Ihr und wir. Genug!

Ich bin dennoch kein solcher Feigling, wie Du aus meinen Zeilen schließen könntest. Ich ertrage alles, was mich betrifft, leicht und schmerzlos. Aber diese Umgebung. Das ist es, was mir so auf die Nerven geht. Es sind die Leute. Weder der Hunger, der einen weinen macht, noch die Kälte, die dir das Wasser im Glas und das Blut in den Adern gefrieren lässt, noch der Gestank der Latrinen oder der Ostwind – nichts ist so abscheulich wie dieser Haufen Menschen, der Mitleid verdient. Du aber kannst ihm nicht helfen, sondern musst dich über ihn aufschwingen und ihn verachten. Warum sprechen diese Leute immer nur darüber, was ihre Gedärme und die übrigen Organe dieses sehr geschätzten Kadavers beleidigen? Apropos, vor ein paar Tagen haben wir die Leichen hergerichtet, es waren 27, im türkischen Pavillon, und zwar alle in einer Reihe und von Angesicht zu Angesicht. Für mich gibt es nichts Ekelerregendes mehr, auch meine dreckige Arbeit nicht. Man könnte alles, wenn man bloß das wüsste, was einem vorenthalten bleibt – wenn nämlich die Gnade ihre Tore öffnet. Was haben sie mit uns vor? Wir sind in ständiger Anspannung: Werden sie uns erschießen? Uns in die Luft sprengen, nach Polen deportieren? Das ist alles nebensächlich! Man muss die Gegenwart einfach überspringen, sie ist überhaupt nicht angenehm. Überhaupt nicht.

Jetzt ist es halb drei. Ich habe Nachtschicht in der Ambulanz (jede vierte Nacht), im Pavillon husten sie im Chor, und man hört, wie die Regentropfen aufs Dach herunterprasseln. In der Ambulanz raucht der Ofen auf Teufel komm raus, aber wer sich bekanntlich nicht einräuchert…

Heute ist mein aufregendster Tag im Lager. Es ist mehr als Glück, dass etwas in Erfüllung geht, das man sich so sehr gewünscht hat. Vielleicht werden wir lebend davonkommen, in ein glücklicheres Leben, weil wir uns das so schrecklich, wenn auch schon sehr blutarm wünschen.

Mirjana, meine Liebe, wir sind mieses Sklavenpack, ja noch weniger: Nicht einmal Aussätzige, eine verachtete und hungrige Horde sind wir. Und wenn ein Mensch trotz alledem etwas Leben sieht – wie Dich –, fühlt er auf einmal ganz neue Lebenssäfte durch sich strömen. Nur – ja, dieses ewige „Nur“ – sich danach wieder vom Leben losreißen [zu müssen], ist so schmerzhaft und bitter, dass auch ein Meer vergossener Tränen dafür kein Maßstab wäre. Wie schwer es jetzt erst für mich ist. Ich weine und alle lachen: „Du schuftest wie ein Mann und weinst wie eine sentimentale Göre?!“

Aber was soll ich denn tun, wenn meine Seele schmerzt? Das ist der Refrain, den ich schon die ganze Nacht wiederhole. Ich weiß, dass es keine Chance gibt, bald von hier wegzukommen, und draußen seid Ihr, Du und Nada, das Einzige, was mich mit Belgrad verbindet und das ich in unerklärlicher Widersprüchlichkeit gleichzeitig schrecklich hasse und liebe. Du weißt nicht – ebenso wenig wie ich das wusste –, was es bedeutet, hier zu sein. Ich wünsche Dir, dass Du es nie erfahren musst. Ich habe mich schon als Kind davor gefürchtet, bei lebendigem Leib begraben zu werden. Auch das hier ist eine Art Scheintod. Gibt es nach ihm eine Auferstehung? Ich habe nie so viel an Euch beide gedacht wie jetzt. Ich unterhalte mich ständig mich Euch und möchte Euch sehen, weil Ihr für mich jenes „verlorene Paradies“ seid.

In Liebe, Eure Lagerinsassin

Quelle wurde zitiert aus: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 14, Besetztes Südosteuropa und Italien, Hrsg. von Sara Berger, Erwin Lewin, Sanela Schmid und Maria Vassilikou, Berlin/Boston 2017, Dokument 144, S. 427–429.

* Nada Novak.
** Im Original deutsch.

Jüdinnen und Juden im Widerstand während des Zweiten Weltkriegs

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion begann auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens der nationsübergreifende und kommunistisch geführte Widerstandskampf, an dessen Spitze Marschall Josip Broz Tito stand. Dem „Volksbefreiungskampf“ schlossen sich Menschen aller südslawischen Nationen an, die sich während des Krieges gegen die Besatzer und einheimischen Kollaborierenden auflehnten. Rund 5000 Jüdinnen und Juden beteiligten sich am Widerstandskampf, zum einen, weil sie bereits vor dem Krieg Mitglieder der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) waren, zum anderen, da sie hofften, als Partisaninnen und Partisanen der Verfolgung und Deportation entgehen zu können. Der passive und aktive jüdische Widerstand im Zweiten Weltkrieg drückte sich auf verschiedene Weise aus: Jüdinnen und Juden kämpften in der „Volksbefreiungsarmee“, waren Ärztinnen und Ärzte bzw. Sanitätskräfte, die in provisorischen Krankenhäusern im Wald Operationen an Verwundeten durchführten, oder waren für die Verbreitung von antifaschistischer Kriegspropaganda zuständig. Weitere Jüdinnen und Juden leisteten Widerstand, indem sie flüchteten, oder sie hielten sich bei nichtjüdischen Personen versteckt und nahmen eine falsche Identität an.

Der Belgrader Maler Moša Pijade (1890–1957) war wohl das berühmteste KPJ-Mitglied jüdischer Herkunft und engster Berater von Josip Broz Tito; er lebte seine Religion als überzeugter Kommunist allerdings nicht aus. Weitere berühmte Partisaninnen und Partisanen mit jüdischen Wurzeln waren beispielsweise die Kriegsfotografin Elvira Kohn (1914–2003) aus Rijeka, die Ärztin Roza Papo (1914–1984) aus Sarajevo und Ilija Engel (1912–1944) aus Jajce, der wie weitere zehn Personen jüdischer Herkunft im sozialistischen Jugoslawien zum Nationalhelden ernannt wurde.

Zwischen Auswanderung und Wiederaufbau: Jüdisches Leben in der unmittelbaren Nachkriegszeit

Nach dem von der Volksbefreiungsarmee bzw. der Jugoslawischen Volksarmee gewonnenen Kampf gegen kroatische, serbische, deutsche, italienische und bulgarische Truppen bzw. gegen die einheimischen Kollaborierenden begann die intensive staatlich unter¬stützte Verfolgung aller ehemaliger Gegnerinnen und Gegner des Einparteiensystems. In der 1945 gegründeten Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien herrschte von Anfang an große Skepsis gegenüber allen Personen, die nicht mit der Kommunistischen Partei Jugoslawiens unter Josip Broz Tito sympathisierten. Paradoxerweise wurden sogar ehemalige jüdische KZ-Häftlinge verdächtigt, da man ihnen vorwarf, den Krieg nur als Kollaborierende der Deutschen überlebt zu haben. Einige Jüdinnen und Juden wurden infolgedessen sogar Opfer beider Regime: So wurde die jüdisch-serbische Intellektuelle und Holocaust-Überlebende Ženi Lebl (1927–2009) wegen eines antikommunistischen Witzes über Josip Broz Tito 1949 verhaftet und für mehrere Jahre interniert.

In der Nachkriegszeit sahen sich die wenigen Holocaustüberlebenden mit dem Problem der Rückgabe ihrer Wohnungen, Unternehmen oder ihres beweglichen Eigentums konfrontiert. Im Zuge des Wiederaufbaus des Landes wurden Unternehmen sowie Räumlichkeiten jüdischer Organisationen, Vereine und Gemeinden verstaatlicht. Dies führte dazu, dass viele Gemeinden und Vereine, insbesondere die zionistischen, die in der Zwischenkriegszeit eine Blütezeit erlebten, nun erst gar nicht mehr neu gegründet wurden. In den vom Krieg nicht zerstörten Privatwohnungen und -häusern, die vor dem Holocaust in jüdischem Besitz gewesen waren, lebten inzwischen andere Menschen. Antisemitismus war zweifellos auch in der Nachkriegsgesellschaft präsent. Aus diesen und anderen, vor allem politisch motivierten Gründen kam es im Jahre 1948 zur Auswanderung von Jüdinnen und Juden nach Israel. Diese Lebensentscheidung hatte schließlich zur Folge, dass die Betroffenen ihre jugoslawische Staatsangehörigkeit verloren und somit auch ihren in Jugoslawien verbliebenen Besitz.

Quellen / Literatur

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Miović, Vesna: The Jewish Ghetto in the Dubrovnik Republic (1546–1808), Zagreb/Dubrovnik 2005, S. 41 ff.

  2. Ebd., S. 75 f.

  3. Dazu Bitunjac, Martina: Von Saraj (de la) Bosna nach Belogrado: Das städtische Leben sephardischer Juden im osmanischen Kulturraum des Balkans, in: Dies. (Hrsg.): Jüdische Lebenswelten im Osmanischen Reich, Berlin/Boston 2024, S. 155–190.

  4. Siehe die Internetseite der Gedenkstätte Jasenovac unter Externer Link: https://www.jusp-jasenovac.hr/default.aspx?sid=6711 (Letzter Aufruf: 02.01.25).

  5. Bundesarchiv et al. (Hrsg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 14, Besetztes Südosteuropa und Italien, bearb. von Sara Berger, Erwin Lewin, Sanela Schmid und Maria Vassilikou, Berlin/Boston 2017, S. 43 ff.

  6. Brandl, Naida-Michal: Židovi u Hrvatskoj nakon Holokausta [Juden in Kroatien nach dem Holocaust], Zagreb 2023, S. 256 ff.

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Dr. Martina Bitunjac ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Sie promovierte an der Humboldt Universität zu Berlin und an der Universität La Sapienza in Rom zum Thema "Frauen und die Ustascha-Bewegung". Seit 2014 lehrt sie am Historischen Institut der Universität Potsdam. Sie ist zudem geschäftsführende Redakteurin der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. Forschungsschwerpunkte bilden derzeit jüdische Geschichte und der Holocaust auf dem Balkan, insbesondere in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien. Zu ihren Publikationen zählen: Jüdische Lebenswelten im Osmanischen Reich, Berlin/Boston 2024 (Hrsg.); Verwicklung. Beteiligung. Unrecht. Frauen und die Ustaša-Bewegung Berlin 2023; Complicated Complicity. European Collaboration with Nazi Germany during World War II, Berlin/Boston 2021 (Hrsg. zusammen mit Julius H. Schoeps); Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes Berlin/Leipzig 2019.