In Südosteuropa arbeiten schätzungsweise eine Million Menschen an der Produktion der Mode, die wir in Westeuropa und Nordamerika kaufen und tragen. Genaue Zahlen lassen sich schwer erheben, denn besonders in der Bekleidungsindustrie arbeiten viele Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Arbeitsvertrag, ohne Sozialversicherung oder ohne Arbeitsrechtsschutz. Sie tauchen somit in offiziellen Statistiken nicht auf. Die Beschäftigten schneiden Stoffe und Materialien zu, nähen, sticken, prüfen, ob irgendwo noch Fäden abzuschneiden sind und ob die Qualität stimmt, und verpacken schließlich die Produkte. Dieser Prozess nennt sich "Cut, Make and Trim"-Produktion und ist Teil des globalen Fast-Fashion-Geschäftsmodells.
Auf welche Entwicklung blickt die Textilbranche in Südosteuropa zurück?
Die postsozialistischen Länder Südosteuropas teilen eine ähnliche politische und sozio-ökonomische Geschichte. Viele wurden nach 1945 als vorrangig landwirtschaftlich geprägte Länder durch die sozialistischen Regime rasant industrialisiert. Bis zu den politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen und Revolutionen 1989/90 entwickelten sie jeweils eigene Textil-, Bekleidungs- und Schuhbranchen. Es gab etablierte nationale Modemarken, die vom Faden bis zum fertigen Bekleidungsstück alles herstellten.
Mit den Umbrüchen 1989/1990 brachen die Wirtschaftsregion, deren Währungssysteme und Absatzmärkte zusammen. Die Textilbranche zerfiel wie alle anderen Industriesektoren sehr schnell. Südosteuropa erlebte eine flächendeckende De-Industrialisierung. Überleben konnten Nähereien, die billig für den Export produzierten. Alle anderen Teilsektoren der Textilindustrie – wie Spinnereien, Webereien, Textilmaschinenbau – starben. Die Textilfertigungsbetriebe mussten über Nacht mit den Zehntausenden von Bekleidungsfabriken weltweit um Aufträge von Modehändlern und Marken konkurrieren. Sie stürzten abrupt von ihrer sicheren Position als Lieferanten des COMECON-Marktes (Wirtschaftsregion der damaligen sozialistischen Staaten) in die globale Konkurrenz.
Zudem bedeutete der schnelle Zusammenbruch der Binnen- und COMECON-Märkte, dass viele Unternehmen vom Export nach Westeuropa abhängig wurden. Der eigene Binnenmarkt wurde fast nicht mehr beliefert, da die eigenen Märkte sehr schnell von den globalen Modemarken beherrscht wurden. Die südosteuropäischen Nähfabriken konnten nur auf das während des Sozialismus eher nebenbei laufende Geschäft der sogenannten "Passiven Lohnveredelung" für westeuropäische Kunden zurückgreifen. Dieses bildet seit den 1990ern und bis heute das dominierende Geschäftsmodell der südosteuropäischen Textilbranche.
Was heißt "passive Lohnveredelung"?
"Passive Lohnveredelung" bezeichnet ein Produktions- und Handelssystem in der EU, das insbesondere in der Bekleidungsindustrie angewandt wird und in den 1970er Jahren hauptsächlich von der Bundesrepublik Deutschland und Italien initiiert wurde. Bei diesem System werden Produktionsstufen ins lohnkostengünstige Ausland ausgelagert. Zugeschnittene Stoffe werden in Drittländer exportiert, dort zusammengenäht, fertig konfektioniert wieder re-importiert. Ziel dieser Transaktion ist es, für die arbeitsintensiven Teile der textilen Kette von den billigeren Löhnen in nahen europäischen Staaten zu profitieren und gleichzeitig die eigene, kapitalintensive Textilindustrie zu schützen. Dieses Re-Import-Verfahren ist für EU-Textilunternehmen profitabel, weil die Kosten für die Näherei günstig sind und Zollfreiheit für den Export wie auch Re-Import der veredelten Waren besteht. Die EWG gewährte Zollfreiheit für Re-Importe von Textilwaren aus Ländern wie Polen, der DDR und Jugoslawien bereits seit 1982.
Da die Löhne den hauptsächlichen Kostenfaktor darstellen, wird dieses Produktions- und Handelssystem auf dem Balkan noch heute mit dem deutschen Wort "Lohn" benannt. Die sogenannten "Lohn"-Fabriken sind stark von den Einkaufsentscheiden der Auftraggeber abhängig. Selbst kleine Abweichungen in den Produktionskosten können einen Produzenten aus dem Markt drängen. Wegen der niedrigen Preise für ihre Produkte generiert die sogenannte Lohnveredelung zudem kaum Profit für die Fabriken. Um sich gegenüber den Kunden flexibel zu zeigen, arbeiten die Produzenten oft mit Unterlieferanten und HeimarbeiterInnen. Das "Lohn"-System ist deshalb eine äußerst prekäre Form der Produktion auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Mit der flächendeckenden Umstellung der Nähfabriken auf die "passive Lohnveredelung" einher ging eine Entwertung und Prekarisierung weiblicher Arbeitskraft
UNDP, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, bezeichnete die soziale Krise in den postsozialistischen Ländern in den 90er Jahren als "den weltweit heftigsten sozialen Rückfall" ("the most acute poverty and welfare reversal in the world", UNDP 1999). Die Internationale Arbeitsorganisation IAO registrierte in ihrem Bericht von 1999 zur Internationalen Arbeitskonferenz (ILC) eine drastische soziale Desintegration und Armutsexplosion. Als Konsequenz daraus erlebt die Region seit drei Jahrzehnten von eine dramatische Auswanderungswelle. Dieser Exodus trägt wesentlich dazu bei, dass die Modefabriken inzwischen über Arbeitskräftemangel klagen.
Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts nahm die Beschäftigtenzahl in der Modeproduktion zu. Schätzungsweise waren um 2005 etwa zwei Millionen Menschen in dieser Branche in Südosteuropa tätig, also doppelt so viele wie heute. Bis zur globalen Finanz- und Produktionskrise 2008/2009 hielt sich das Beschäftigungsniveau. Seitdem gibt es einen langsamen, aber stetigen Abwärtstrend in den Beschäftigtenzahlen. Dieser hängt auch mit den Arbeitsbedingungen in dieser Branche zusammen. Die Arbeitslosigkeit in der Region geht langsam zurück, sodass es Alternativen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Allein in Rumänien, dem größten Bekleidungsproduktionsland Europas (ohne Türkei), arbeiteten zu Anfang des Jahrhunderts etwa eine Million Menschen in der Modeindustrie. 2016 waren es nur noch etwa 500.000. 2019 schätzt die "Clean Clothes Campaign" ihre Zahl auf rund 400.000
Was bedeutet Fast Fashion?
Seit den 80er und 90er Jahren entwickelte sich die Modebranche zum Paradebeispiel von "buyer-driven value chains", also käufergesteuerten Wertschöpfungsketten bzw. Lieferketten. Die Käufer ("buyer") sind die auftraggebenden Modemarken und -händler. Sie kontrollieren, wie die Wertschöpfung in Lieferketten und Produktionsnetzwerken verteilt ist
Die Verlagerung von Produktion ist umso leichter, je weniger Wertschöpfung passiert, also je billiger die Arbeit eingekauft werden kann und je arbeitsintensiver der Prozess ist. Bei ihren Standortentscheidungen für die Auftragsvergabe orientieren sich die Modemarken und -händler in erster Linie an der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in dem jeweiligen Land, denn dieser bestimmt ganz wesentlich die Höhe der Arbeitskosten, also des Wertes, mit dem die Arbeitskraft eingepreist wird.
Die Produktionsnetzwerke und Lieferketten der globalen Modeproduktion verteilen sich über die ganze Welt. Die Region Südosteuropa bildet einen Teil dieser globalen Produktionsorganisation. Die gesetzlichen Mindestlöhne – ein Hauptkriterium der Produktionsansiedlung – liegen in einigen Staaten Südosteuropas nicht wesentlich höher als beispielsweise in Südost- oder Südasien und meist niedriger als in China. Beispielsweise lagen 2018 die gesetzlichen Mindestlöhne (netto) in Bulgarien umgerechnet 202 Euro, in Nordmazedonien 198 Euro und in Albanien 167 Euro.
Warum produzieren Modemarken ihre Aufträge gern innerhalb Europas?
Die postsozialistischen Länder Europas bieten den Modefirmen infolge ihrer Industriegeschichte branchenspezifisches Know-how, ausgebaute Infrastrukturen und extrem niedrige Arbeitskosten. Im Vergleich zu Asien schätzen die Modefirmen in den Textilbranchen Südosteuropas zudem die Nähe zum westeuropäischen Markt, was Geschäftsbeziehungen wesentlich erleichtert. Besonders kleinere Aufträge, beispielsweise für Arbeitsbekleidung, werden bevorzugt innerhalb Europas vergeben. Darüber hinaus fördern die Regierungen in Südosteuropa die Modeproduktion für den Export durch Anreize wie Freihandelszonen und Steuererleichterungen.
Zusätzlich wird die Durchsetzung der Arbeitsgesetze und des Arbeitsschutzes durch die Regierungen in den meisten dieser Länder oft vernachlässigt, während die Rechtssicherheit für Firmen und Geschäftsbeziehungen weit oben auf der Prioritätenliste sowohl der nationalen Regierungen als auch der EU stehen. Während beispielsweise die Arbeitgeberverbände einen großen Einfluss auf die Festlegung des gesetzlichen Mindestlohnes ausüben, können Gewerkschaften nur defensiv agieren. Hinzu kommt für die Bekleidungsindustrie, dass es kaum gewerkschaftlich organisierte Textilbetriebe gibt und deshalb nur sehr wenige Tarifverträge.
Diese Beobachtung trifft auf EU- wie auch Nicht-EU-Mitgliedsländer der Region zu. In Bulgarien wie in Nordmazedonien beispielsweise sind unter den tausenden Textilbetrieben nur sehr wenige gewerkschaftlich organisiert – und für keinen einzigen gibt es Tarifverträge. Laut eines Berichts der "Clean Clothes Campaign" schildern viele Beschäftigte, dass Arbeitgeber repressiv auf gewerkschaftliche Aktivitäten reagieren oder aus Gewerkschaftsverbänden austreten. Diese erschwert das Zustandekommen von Tarifverhandlungen zunehmend und das unabhängig davon, ob ein Land Mitglied der EU ist oder nicht.
Die internationale Menschenrechtsinitiative "Clean Clothes" hat systematische Recherchen in Südosteuropa über die Lieferketten westeuropäischer Modemarken sowie die Bedingungen für die Beschäftigten angestellt. Sie stieß bei ihren Untersuchungen auf hunderte Modemarken und -händler meist mit Sitz in Westeuropa. Sie kommen sowohl aus dem Niedrigpreissegment, als auch aus dem Premium- und Luxus-Bereich. Besonders stark vertreten sind Arbeitsbekleidungs-, Unterwäsche- und Fair-Fashion-Marken.
Italienische und deutsche Unternehmen sind die wichtigsten Auftraggeber südosteuropäischer Bekleidungs- und Schuhindustrien. Mehr als 80 Prozent der Bekleidung und der Schuhe, die Albanien exportiert, gehen nach Italien. Für Rumänien, Kroatien und Serbien sind es etwa 35 bis 50 Prozent ihres Modeexports. Deutschland nimmt in der Regel den zweiten Platz mit oft 10 bis 30 Prozent Anteil am Bekleidungs- und Schuhexportvolumen ein. Andere europäische Länder folgen oft mit bis zu 10 Prozent.
Ausblick
Eine Veränderung der Situation in der südosteuropäischen Bekleidungsindustrie muss von beiden Enden der Lieferketten herrühren. Eine große Verantwortung liegt bei den Modemarken und -händlern. Sie engagieren sich bereits in sogenannten Multistakeholder-Initiativen wie dem deutschen "Bündnis für nachhaltige Textilien" oder der holländischen "Fair Wear Foundation". Diese Engagements haben zum Problembewusstsein bei den Markenfirmen selbst beigetragen. Die Situation der Beschäftigten konnten sie bislang jedoch nicht verbessern. Dazu bedarf es verbindlicher und haftungs-bewährter Regeln für die Umsetzung von Menschenrechten in Lieferketten. Das 2021 beschlossene deutsche Lieferkettengesetz ist ein erster Schritt. Viele Kommunen und Bundesländer haben sich bereits Regeln für eine verantwortliche öffentliche Auftragsvergabe gegeben, um die Einhaltung von Menschenrechten in die Vergabe mit einzubeziehen.
Ebenso wichtig ist die Stärkung von Selbstorganisationen der Beschäftigten vor Ort. Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen vertreten und unterstützen die Arbeiterinnen und Arbeiter, damit sie selbst ihre Bedingungen und Löhne aushandeln können.