Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Bulgarien | Südosteuropa | bpb.de

Südosteuropa Videoporträts Themen Der Balkan und Europa Grenzen und Grenzziehungen Erinnerungskulturen und -politiken Politische Kulturen Internationale Organisationen Regionale Kooperation Bulgarien und Rumänien in der EU Made in Südosteuropa Länder Albanien Bosnien und Herzegowina Bulgarien Griechenland Kosovo Kroatien Montenegro Nordmazedonien Rumänien Serbien Slowenien Redaktion

Bulgarien

Andreas Kunz

/ 10 Minuten zu lesen

Zu den wichtigsten innenpolitischen Themen in Bulgarien gehören die mangelnde Bekämpfung der Korruption sowie die fehlende Unabhängigkeit der Justiz. Immer wieder gibt es dagegen Proteste im Land. Andreas Kunz gibt einen Überblick über Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

BulgarienAuf einen Blick

Hauptstadt: Sofia

Amtssprache: Bulgarisch

Einwohnerzahl: 7 Millionen (2019)

Bevölkerung im Ausland: 1,5 Millionen (2019)

Ethnische Gruppen: 77,0 Prozent Bulgaren, 8,0 Prozent Türken, 4,4 Prozent Roma, weitere Minderheiten (Volkszählung 2011)

Religionen: 59,4 Prozent orthodox, 7,8 Prozent muslimisch, 0,9 Prozent protestantisch, 0,7 Prozent katholisch (Volkszählung 2011)

Mitgliedschaften in internationalen Organisationen (Auswahl): EU (seit 2007), NATO (seit 2004), OSZE (seit 1973), Europarat (seit 1992)

Verwaltungsgliederung: 28 Bezirke (oblast)

Anteil der Stadtbevölkerung: 75 Prozent (2018)

BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt): 24.789 US-Dollar (Deutschland: 56.278; 2019)

Währung: Lew (1 EUR = 1,96 BGN; fester Wechselkurs)

Arbeitslosigkeit: 4,9 Prozent (2019)

Jugendarbeitslosigkeit: 10,4 Prozent (2019)

Quellen: UN, UN DESA, IOM, World Bank, ILO

Geschichte

Der erste bulgarische Staat wurde 680/681 n. Chr. gegründet. Ab 864/865 erfolgte die Christianisierung des bulgarischen Volkes, als der bulgarische König Boris auf Druck des Byzantinischen Reichs den orthodoxen Glauben angenommen haben soll. Bulgarische Mönche schufen die kyrillische Schrift, dank derer sich das Land zu einem Zentrum slawischer Literatur und klösterlicher Bildung entwickelte. Anfang des 11. Jahrhunderts stand Bulgarien unter byzantinischer Herrschaft, ab Ende des 12. Jahrhunderts entstand ein Zweites Bulgarisches Reich. Ab 1396 geriet das Land für fast 500 Jahre unter Interner Link: osmanische Herrschaft.

Die sogenannte "Nationale Wiedergeburt Bulgariens" begann – ausgehend von den Klöstern – im 18. Jahrhundert. Die brutale Niederschlagung des Aprilaufstandes 1876 durch die osmanische Armee war ein Auslöser für den Russisch-Osmanischen Krieg 1877-1878. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurde die Unabhängigkeit Bulgariens de facto anerkannt, wobei der Südosten noch osmanisches Protektorat blieb bis zur friedlichen Vereinigung beider Landesteile 1885. Erst 1908 Interner Link: löste sich das "Zarentum Bulgarien" auch de jure vom Osmanischen Reich und wurde zu einer konstitutionellen Monarchie.

Aus den Interner Link: Balkankriegen 1912/13 und dem Ersten Weltkrieg ging Bulgarien – nach zeitweiligen Eroberungen – mit großen Gebietsverlusten hervor. Nach dem Krieg konkurrierten in der jungen Demokratie die konservativ-agrarische Bauernvolksunion, Kommunisten und Sozialisten sowie rechtsnationale Kräfte. 1923 putschten rechte Nationalisten. Die Kommunistische Partei wurde verboten und reagierte mit einer Terrorwelle. Nach einem zweiten Putsch 1934 setzten faschistische Kräfte die Verfassung aus und errichteten eine Königsdiktatur unter Zar Boris III. Das Parlament bestand nur noch aus von der Regierung gebilligten Kandidaten, Parteien waren verboten.

Im Interner Link: Zweiten Weltkrieg schloss sich Bulgarien – nach anfänglicher Neutralität – den Achsenmächten Deutschland und Italien an. Im April 1941 griff die deutsche Wehrmacht im Rahmen des "Balkanfeldzugs" unter anderem von Bulgarien aus Griechenland und Jugoslawien an. Teile der eroberten Gebiete (Nordgriechenland, Vardar-Mazedonien) wurden anschließend von bulgarischen Truppen besetzt. Im Inneren ging das Land nach deutschem Vorbild repressiv gegen die etwa 50.000 bulgarischen Jüdinnen und Juden vor. 1943 wurden über 11.000 Jüdinnen und Juden aus den besetzten Gebieten ausgeliefert und im KZ Treblinka getötet. Gegen die drohende Deportation von etwa 8.000 Jüdinnen und Juden aus Sofia formierte sich jedoch breiter Widerstand in Politik und Gesellschaft; auch der bulgarische Metropolit stellte sich schützend vor die bulgarischen Jüdinnen und Juden. Der Zar verschob daraufhin die Deportationspläne im bulgarischen Kernland. Der Krieg endete im September 1944 mit dem kampflosen Einmarsch sowjetischer Truppen.

Das Busludscha-Denkmal befindet sich auf dem Berg Chadschi Dimitar. Es wurde 1981 fertiggestellt und sollte an die Entstehung der Sozialistischen Bewegung Bulgariens erinnern. An dieser Stelle kämpften bereits 1868 bulgarische Aufständische gegen die türkisch-osmanischen Herrscher. Seit dem Sturz der Regierung 1989 gab es lange keine Pläne für die Erhaltung. Das Denkmal wurde durch die Witterung und Vandalismus stark beschädigt. (© picture-alliance, Zoonar | Sergey Kohl)

Nach dem Krieg orientierte sich Bulgarien ideologisch eng an der Sowjetunion. Die Bulgarische Kommunistische Partei etablierte ihre Herrschaft bis 1948 mit Schauprozessen gegen die alte Führungselite und politische Gegner (über 2.700 Todesurteile sind dokumentiert, Schätzungen gehen von bis zu 30.000 Opfern aus) und der Verstaatlichung von Betrieben und Ackerland. Auch nach Interner Link: Stalins Tod herrschte in Bulgarien unter Todor Živkov eines der repressivsten Regime in Osteuropa. Der Geheimdienst hatte rund 250.000 Informanten. An den Grenzen galt ein Schießbefehl, dem nach offiziellen Informationen 339 Menschen zum Opfer fielen. Forscher gehen aber von vielen weiteren undokumentierten Fällen aus.

Die Interner Link: sowjetische Perestroika brachte auch die Bulgarische Kommunistische Partei in Zugzwang. Ende der 1980er Jahre leitete sie wirtschaftliche und politische Reformen ein. Zudem gründeten sich ab 1988 zahlreiche Dissidentenorganisationen. Um von den Reformforderungen abzulenken, forcierte Živkov die gewaltsame Assimilation der muslimischen Minderheiten, was Interner Link: 1989 in der Vertreibung von über 300.000 Menschen in die Türkei gipfelte. Die Živkov-Ära endete durch einen partei-internen Putsch: Am 10. November 1989 wurde Živkov von Reformern im Politbüro zum Rücktritt gezwungen und bis zu seinem Tod 1998 unter Hausarrest gestellt. Die Bevölkerung ging zu Zehntausenden auf die Straße und forderte außerdem das Ende des Einparteienstaats. 1990 fanden die ersten freien Wahlen statt.

Die 1990er Jahre waren geprägt von zahlreichen Regierungswechseln, Massenauswanderung, wachsender organisierter Kriminalität und wirtschaftlichem Niedergang. Bis 1996 brach das BIP um ca. 40 Prozent ein. Die Hyperinflation von über 1.000 Prozent im Jahre 1997 führte zu großen Vermögensverlusten. Erst die Einführung eines festen Wechselkurses und Reformen im Hinblick auf den angestrebten EU-Beitritt führten ab 1997/98 zu politischer Stabilisierung und anhaltendem Wachstum.

Politisches System

Bulgariens Verfassung wurde 1991 verabschiedet und definiert Bulgarien als demokratischen Einheitsstaat und parlamentarische Republik mit Gewaltenteilung, sozialstaatlichen Normen, Menschen- und Bürgerrechten sowie politischem Pluralismus auf einer marktwirtschaftlichen Basis. Die Verwaltung ist stark zentralisiert. Obwohl Bulgarien ein multiethnischer Staat ist, verbietet die Verfassung ethnische Parteien.

Der Präsident hat repräsentative Aufgaben, ist Oberbefehlshaber der bulgarischen Streitkräfte, schlägt den Ministerpräsidenten vor und verfügt über eingeschränkte Vetorechte. So kann er Gesetze an das Parlament zurückverweisen, muss aber dann eine etwaige Neufassung unterzeichnen. Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt. Das Verfassungsgericht entscheidet oft über Fälle mit weitreichender innenpolitischer Bedeutung. Menschenrechtsorganisationen werfen ihm mangelnde politische Unabhängigkeit vor. So lehnte es z. B. 2018 die Interner Link: "Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt" als nicht verfassungskonform ab und folgte damit der Interpretation rechts-populistischer Kräfte, die Konvention diene neben ihrem eigentlichen Ziel auch dazu, ein "drittes Geschlecht" juristisch zu etablieren.

Der Ministerpräsident wird vom Parlament gewählt, steht dem Ministerrat vor und hat weitgehende exekutive Befugnisse. Das Einkammerparlament hat 240 Sitze und wird alle vier Jahre in direkten Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Die Verwalterinnen und Verwalter der Metropolregion Sofia und der 27 Bezirke werden von der Zentralregierung ernannt. Die Wahlen der Bürgermeister und Gemeinderäte in den 265 Kommunen sind ebenfalls Direktwahlen und finden alle vier Jahre statt.

Innenpolitik

Die innenpolitische Landschaft wurde im vergangenen Jahrzehnt von der 2006 gegründeten konservativen Partei GERB ("Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens"“) dominiert. Die Partei stellte mit Boyko Borissov seit 2009 fast ununterbrochen den Premierminister. Von 2017 bis 2021 regierte Borissov zusammen mit den "Vereinten Patrioten", einem rechtspopulistischen Parteienbündnis. Die zweite große Volkspartei war traditionell die sozialdemokratische BSP ("Bulgarische Sozialistische Partei"). Sie ist Rechtsnachfolgerin der Kommunistischen Partei und hat von dieser ihren umfangreichen Parteibesitz und die politische Infrastruktur geerbt. Seit 2017 ist mit Rumen Radev ein der Partei nahestehender Ex-General Präsident Bulgariens, bei der Wahl im November 2021 wurde er im Amt bestätigt. Radev hat wiederholt in die Tagespolitik eingegriffen: So forderte er z. B. während der Anti-Regierungs-Proteste 2020 die GERB-Regierung und den Generalstaatsanwalt zum Rücktritt auf.

Die regulären Parlamentswahlen im April 2021 und Juli 2021 führten zu keiner Regierungsbildung, veränderten die politische Lage tiefgreifend und brachten neue Partei(-bündnisse) ins Parlament. Die Interner Link: Wahl im November 2021, die gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl abgehalten wurde, gewann die neugegründete Anti-Korruptionspartei "Wir setzen den Wandel fort" mit knapp 25,7 Prozent der Stimmen. Sie stellt mit Kiril Petkow seit Dezember 2021 den Ministerpräsidenten.

Die nominell liberale DPS ("Bewegung für Rechte und Freiheit") vertritt seit 1990 vor allem die türkische Minderheit im Land und wird deswegen – trotz des Verbots ethnischer Parteien – als Partei der bulgarischen Türken wahrgenommen. Sie war bisher als Mehrheitsbeschafferin eine gern gesehene Koalitionspartnerin, ist aktuell aber in der Opposition. Aus der DPS kommen zwei der umstrittensten Figuren Bulgariens: Parteigründer Ahmed Dogan, seit 2007 von offizieller Stelle als ehemaliger Agent der Staatssicherheit bestätigt, und Delyan Peevski. Beide gelten als Oligarchen, die mit fragwürdigen Mitteln große Firmenkonglomerate aufgebaut haben.

Auftakt der Proteste im Juni 2013 vor dem ehemaligen Sitz der Bulgarischen Kommunistischen Partei in Sofia. Die Berufung des Oligarchen Delyan Peevski zum Chef des Inlandsgeheimdienstes DANS brachte das Zehntausende Menschen auf die Straße. (© Christian Muhrbeck, n-ost)

Vor dem Hintergrund derartiger Verflechtungen kommt es immer wieder zu politischen Krisen und Skandalen. Nachdem Peevski 2013 zum Chef des Inlandsgeheimdienstes ernannt wurde, musste die GERB-DPS-Regierung nach monatelangen Protesten mit Zehntausenden Teilnehmenden abtreten. 2019 mussten gleich mehrere hochrangige Politiker zurücktreten, darunter der Chef der Anti-Korruptionsbehörde. Ein Baukonzern hatte die Politiker mit luxuriösen Apartments weit unter Marktpreis ausgestattet. Auch der Sommer 2020 stand im Zeichen wochenlanger Proteste gegen die Regierung, die den Boden für die Wahlniederlage Borissovs 2021 bereiteten.

Die wichtigsten innenpolitischen Themen bleiben die mangelnde Bekämpfung der Korruption auf allen Ebenen, die Nähe vieler Politiker zur organisierten Kriminalität sowie die fehlende Unabhängigkeit der Justiz. Häufig kommt es auch zu Protesten mehrerer Tausend Menschen gegen Naturzerstörung und den Ausverkauf von Ressourcen (Abholzung, Goldabbau, Bauprojekte in Naturschutzgebieten). Die wichtigste ideologische Bruchlinie verläuft zwischen dem pro-russischen Lager (große Teile der BSP und die rechtspopulistischen Parteien) und dem pro-europäischen Lager, dem die übrigen Parteien mehrheitlich angehören.

Die Medienlandschaft wird von einigen wenige Unternehmern wie Deyan Peevski kontrolliert. Politiker beeinflussen die Berichterstattung, investigative Journalisten sehen sich Drohungen ausgesetzt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ hat sich Bulgarien seit dem EU-Beitritt kontinuierlich nach unten bewegt und nimmt den schlechtesten Platz von allen EU-Ländern ein (112 von 180 weltweit).

Außenpolitik

Trotz bestehender Bedenken hinsichtlich Korruption, Rechtsstaatlichkeit und organisierter Kriminalität wurde Bulgarien 2007 EU-Mitglied, muss sich zu den genannten Bereichen aber weiterhin einem Monitoring durch die EU unterziehen. Der ursprünglich für 2010 geplante Beitritt zum Schengen-Raum steht noch aus. NATO-Mitglied ist das Land bereits seit 2004.

Die Beziehungen zu Russland sind aus historischen Gründen sehr eng, aber auch ambivalent: Einerseits wird die Sowjetunion als Befreier von den Osmanen und vom Faschismus gesehen, andererseits aber mit der Etablierung des totalitären Systems nach 1944 assoziiert. Zudem hängt Bulgarien im Energiesektor (Gas, Erdöl, Uran) stark von Russland ab. Die Pläne für die von Moskau initiierte Gaspipeline „South Stream“ durch Bulgarien führten zu einem EU-Verfahren und zur Einstellung des Projekts.

Die Beziehungen zur Türkei, dem wichtigsten Absatzmarkt außerhalb der EU, sind offiziell freundschaftlich. Seit der Vertreibung der bulgarischen Türken 1989 haben ca. 380.000 Menschen beide Staatsangehörigkeiten und damit das Wahlrecht in beiden Ländern. Zu Spannungen kam es 2017 nach der Wahlempfehlung eines türkischen Ministers für eine kleine Partei, die sich von der DPS abgespalten hatte. Bulgarien kündigte daraufhin ein Abkommen mit der türkischen Religionsbehörde, das es der Türkei ermöglicht hatte, den muslimischen Klerus in Bulgarien mit etwa einer Million Euro im Jahr zu unterstützen.

Das Verhältnis mit Nordmazedonien wird von einem Streit über die Deutung der Geschichte überschattet. Während Bulgarien den Nachbarn 1992 als erstes Land anerkannte, tut es sich mit der Akzeptanz einer eigenständigen mazedonischen Ethnie und Sprache bis heute schwer. 2017 wurde eine bilaterale Historikerkommission eingesetzt, um die noch strittigen Fragen zu klären.

Die Beziehungen zwischen Bulgarien und Rumänien sind unproblematisch, nach Deutschland ist der nördliche Nachbar wichtigster Exportmarkt. Eine zweite Donaubrücke (neben der in Russe) verbindet seit 2013 mit Vidin und Calafat zwei der wirtschaftlich schwächsten Regionen der EU, hat aber dort bisher noch nicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung gebracht.

Wirtschaft

Die wichtigsten Wirtschaftszweige Bulgariens sind die Energiegewinnung, Lebensmittelproduktion, Metallindustrie, Maschinenbau, Bergbau, Tourismus, Software-Entwicklung und die Pharmaindustrie. Die Landwirtschaft macht weniger als fünf Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Wachstumsbranchen sind Automobilzulieferer und Outsourcing-Unternehmen. Exporte gehen zu zwei Dritteln in die EU, die Importe aus der EU liegen bei über 60 Prozent (Stand 2018). Größter Handelspartner ist Deutschland.

Bulgarien ist für seine touristisch genutzte Küste am Schwarzen Meer bekannt. Hier ist ein Abschnitt bei Sveti Vlas zu sehen. (© Florian Bachmeier, n-ost)

Für alle Einkommen gilt eine Flat Tax (Einheitssteuer) von 10 Prozent. Der Staat verfügt über einen schmalen Haushalt und hält sich mit Investitionen in öffentliche Infrastrukturprojekte zurück. Die Mittel dafür kommen zu 80 Prozent aus EU-Fonds. Ausländische Bewerber beklagen, dass EU-Projekte oft intransparent vergeben werden und mit jahrelangen Verzögerungen anlaufen. Durch den Betritt zum Wechselkursmechanismus II im Juli 2020 ist Bulgarien dem Eintritt in die Eurozone einen Schritt nähergekommen. Die Unterstützung in der Bevölkerung dafür ist allerdings gesunken (von 75 Prozent im Jahre 2004 auf unter 50 Prozent im Jahre 2019).

Trotz weitgehend stabilen Wachstums, niedriger Arbeitslosen- und Inflationsraten seit über zwei Jahrzehnten bleibt Bulgarien nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf das ärmste Land in der EU. 2019 lag das BIP pro Kopf bei 8.750 EUR (EU-Durchschnitt 29.640 EUR). Das durchschnittliche Netto-Monatseinkommen beträgt etwa 500 Euro. Die Kaufkraft liegt bei der Hälfte des EU-Durchschnitts. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Stadt und Land ist extrem. 40 Prozent der Wirtschaftskraft konzentrieren sich in der Hauptstadt Sofia, und während sich in den größeren Städten sogar ein regionaler Arbeitskräftemangel abzeichnet, ist der ländliche Raum geprägt von Altersarmut, schlechten (Aus-)Bildungschancen und einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Dies führt zu Landflucht, Auswanderung und in vielen Fällen zum Aussterben von Dörfern.

Gesellschaft

Bulgarien hat eine der weltweit am schnellsten schrumpfenden Bevölkerungen. Seit 1989 sank die Einwohnerzahl Bulgariens von neun auf knapp sieben Millionen und wird laut UN-Prognosen bis 2050 um weitere 23 Prozent abnehmen. Gründe dafür sind niedrige Geburtenraten und die hohe Mobilität und Abwanderung bulgarischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aktuell sind allein im EU-Ausland ca. 1.070.000 Bulgarinnen und Bulgaren dauerhaft registriert. Weltweit gibt es geschätzt etwa zwei bis zweieinhalb Millionen Auslandsbulgaren.

Die muslimisch geprägte Volksgruppe der Pomaken lebt im Süden Bulgariens. Hier sind festlich gekleidete Einwohnerinnen im 1100 Meter hoch gelegenen Dorf Ribnovo zu sehen. Über die prunkvollen Hochzeitsfeiern, die in den Wintermonaten in dem Bergdorf gefeiert werden, berichten immer wieder auch internationale Medien. (© Dobrin Kashavelov, n-ost)

Mit über acht Prozent der Bevölkerung hat Bulgarien die größte autochthone türkische Minderheit in der EU. Sie gehört mehrheitlich dem sunnitischen Islam an und lebt im Südosten und in Teilen des Nordostens, aber auch in den großen Städten. Sie partizipiert am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben und verfügt mit der DPS über eine starke politische Lobby. Von den ethnischen Bulgaren, die ca. drei Viertel der Bevölkerung ausmachen und meist dem orthodoxen Christentum anhängen, werden die Türken im Alltag heute weitgehend als gleichberechtigte Mitbürgerinnen und Mitbürger akzeptiert. Eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Zwangsassimilierung während des Staatssozialismus hat jedoch kaum stattgefunden.

Marginalisiert sind dagegen die Roma, die Schätzungen zufolge bis zu zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Viele leben in segregierten Vierteln und haben keinen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen. Das schlägt sich in noch tieferer Armut nieder: Fast zwei Drittel der Roma leben unter der Armutsgrenze (Landesdurchschnitt: 22,6 Prozent).

Die dritte große Minderheit der Pomaken (bulgarischsprachige Muslime) wird staatlicherseits nicht anerkannt und deswegen nicht statistisch erfasst. Ca. 160.000 bis 240.000 leben vor allem im gebirgigen Süden des Landes. Daneben gibt es kleine Minderheiten mit einigen Tausend Angehörigen wie z. B. Juden, Armenier, Aromunen, Gagauzen und Karakatschanen.

Mehr zum Thema:

Quellen / Literatur

Stefan Appelius (2006): Bulgarien. Europas Ferner Osten. Bonn: Bouvier.
Kapka Kassabova (2018): Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt. Wien: Zsolnay.
Ilija Trojanow (2006): Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte. München: dtv.

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Andreas Kunz für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Andreas Kunz, geb. 1970, hat Slawische Philologie studiert und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Übersetzer. Seine Themenschwerpunkte sind Bulgarien und der südliche Balkan, Russland, die Ukraine und die Lage der osteuropäischen Roma.