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Bosnien und Herzegowina

Nicolas Moll

/ 10 Minuten zu lesen

Das heutige politische System Bosnien und Herzegowinas ist ein direktes Resultat des Kriegs: Unter internationaler Vermittlung einigten sich die Konfliktparteien auf den Vertrag von Dayton. Der Gesamtstaat wurde stark dezentralisiert. Nicolas Moll gibt einen Überblick über Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Bosnien und HerzegowinaAuf einen Blick

Hauptstadt: Sarajevo

Amtssprachen: Bosnisch, Kroatisch, Serbisch

Einwohnerzahl: 3,3 Millionen (2019)

Bevölkerung im Ausland: 1,7 Millionen (2019)

Mitgliedschaften in internationalen Organisationen (Auswahl): OSZE (seit 1992), Europarat (seit 2002)

Verwaltungsgliederung: Zwei Entitäten (Föderation Bosnien und Herzegowina, Republika Srpska) sowie Distrikt Brčko

Anteil der Stadtbevölkerung: 48,2 Prozent (2018)

BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt): 15.883 US-Dollar (Deutschland: 56.278; 2019)

Währung: Konvertible Mark (1 EUR = 1,96 BAM; fester Wechselkurs)

Arbeitslosigkeit: 26,1 Prozent (2019)

Jugendarbeitslosigkeit: 55,5 Prozent (2019)

Quellen: UN, UN DESA, IOM, World Bank, ILO

Geschichte

Bosnien und Herzegowina (Bosna i Hercegovina, kurz: BiH) gibt es als modernen unabhängigen Staat erst seit 1992, blickt aber gleichzeitig auf eine lange Geschichte zurück: Im späten Mittelalter gab es vor allem auf dem Gebiet des heutigen Zentralbosniens zwei Jahrhunderte lang ein "Königreich Bosnien" – benannt nach dem Fluss Bosna – und im Süden ein Herzogtum, woraus sich der Name "Herzegowina" ableitete.

Diese Staatlichkeit endete im 15. Jahrhundert mit der Interner Link: Eroberung durch das Osmanische Reich. Im ausgehenden 19. Jahrhundert löste dann eine Besatzung die andere ab: Die beiden osmanischen Provinzen – Bosnien und die Herzegowina – wurden von Österreich-Ungarn zuerst besetzt (1878) und dann Interner Link: annektiert (1908) und erhielten innerhalb der Donau-Monarchie ein eigenes "Landesstatut" mit Parlament und Regierung.

"Stari Most" – die alte Brücke – in Mostar wurde 1566 fertiggestellt. Während des Bosnienkriegs wurde sie von kroatischen Truppen gezielt zerstört, dann aber mit Hilfsgeldern aus aller Welt wiederaufgebaut. (© Jasmin Brutus, n-ost)

Nach dem Interner Link: Ersten Weltkrieg und der Auflösung Österreich-Ungarns Interner Link: wurde in Südosteuropa das "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" gegründet, das 1929 in "Königreich Jugoslawien" (deutsch: Südslawien) umbenannt wurde: Dieses umfasste auch das Territorium von BiH, das allerdings keine eigene Verwaltungseinheit bildete.

Auch während des Interner Link: Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung 1941 bis 1945 bestand BiH nicht als eigene Einheit: Es wurde als Teil Kroatiens dem faschistischen "Unabhängigen Staat Kroatien" einverleibt. Mit dem Sieg der kommunistischen Partisanen und der Entstehung des sozialistischen Jugoslawiens wurde BiH zu einer von sechs Republiken Jugoslawiens, mit einer eigenen Verfassung und eigenen politischen Institutionen. BiH war dabei innerhalb des Vielvölkerstaats Jugoslawien die einzige Republik, in der nicht eine nationale Gruppe die absolute Mehrheit stellte. In ihr lebten (orthodoxe) Serben, (katholische) Kroaten und Muslime, wobei letztere in den 1960er Jahren auch als gleichberechtigte nationale Gruppe anerkannt wurden. Zur Zeit des sozialistischen Jugoslawiens wurden in BiH wichtige Industriebetriebe angesiedelt und der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten fiel auf unter 40 Prozent. Gleichzeitig blieb BiH in seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinter Kroatien, Slowenien und Serbien zurück.

Der Bosnien-Krieg begann im April 1992, als nach einem Referendum das unabhängige "Bosnien und Herzegowina" ausgerufen worden war. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Der Bosnien-Krieg begann im April 1992, als nach einem Referendum das unabhängige "Bosnien und Herzegowina" ausgerufen worden war. Als sich 1991 Slowenien und Kroatien von Jugoslawien loslösten und sich zu unabhängigen Staaten erklärten, wurde die staatsrechtliche Zukunft auch zu einer Schicksalsfrage für die jugoslawische Republik BiH. Bei einer Volksabstimmung im Frühjahr 1992 entschied sich die Mehrheit der Bevölkerung für die Schaffung eines unabhängigen Staates. Die führende bosnoserbische Partei hatte allerdings zum Boykott des Referendums aufgerufen.

Die Unabhängigkeit war der Anlass zum Interner Link: Bosnienkrieg, der von April 1992 bis Ende 1995 dauerte. Auf der einen Seite standen diejenigen, die gegen den neuen Staat kämpften: zunächst nationalistische bosnische Serben unterstützt von Serbien, dann auch nationalistische bosnische Kroaten mit Unterstützung Kroatiens. Sie zielten darauf, das Land zu zerstückeln und Gebiete jeweils Serbien bzw. Kroatien zuzuschlagen. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die sich mit der Regierung von BiH für einen multinationalen Gesamtstaat BiH einsetzten: vor allem bosnische Muslime (die seit 1993 offiziell Bosniaken genannt werden), aber auch nichtnationalistische bosnische Serben und Kroaten sowie der Teil der Bevölkerung, der sich nicht ethnisch definierte.

Der Bosnienkrieg mit seinen Kriegsverbrechen wirkt immer noch tief in die Gesellschaft hinein. Immer noch werden neue Opfer der Massaker in Srebenica identifiziert und im Rahmen der jährlichen Gedenkfeiern in Potočari bestattet. (© Michael Biach, n-ost)

Der Krieg gegen den neuen Staat und die multinationale Gesellschaft wurde mit größter Brutalität geführt: Die Politik der "ethnischen Säuberung" der bosnoserbischen und bosnokroatischen Nationalisten beinhaltete Zerstörungen, Vertreibungen und Massenmord. Ziel war es, ethnisch homogene Gebiete zu schaffen. Dazu gehörte auch die Interner Link: systematische Ermordung von über 8.000 bosnischen Muslimen in Srebrenica im Juli 1995 durch bosnoserbische Einheiten, die später von internationalen Gerichten als Völkermord eingestuft wurde.

Politisches System

Das heutige politische System BiHs ist ein direktes Resultat des Kriegs: Die internationale Staatengemeinschaft hatte dem Krieg lange zugeschaut und sich weitgehend auf humanitäre Hilfe beschränkt. Auf Druck der USA einigten sich im November 1995 die Regierung BiHs sowie die Regierungen Serbiens und Kroatiens mit ihren jeweiligen Verbündeten innerhalb von BiH auf ein Externer Link: Friedensabkommen, das auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Dayton (Ohio) unterzeichnet wurde.

BiH blieb dadurch als unabhängiger Staat erhalten. Gleichzeitig wurde der Gesamtstaat jedoch sehr schwach gehalten und stark dezentralisiert, mit zwei ungefähr gleich großen "Entitäten": auf der einen Seite die bosnoserbisch dominierte Republika Srspka, auf der anderen die bosniakisch-kroatisch dominierte Föderation von Bosnien und Herzegowina. Letztere besteht wiederum aus zehn Kantonen: Fünf mit bosniakischer Bevölkerungsmehrheit, drei mit kroatischer Bevölkerungsmehrheit und zwei, die als bosniakisch-kroatisch "gemischt" gelten. Außerdem gibt es im Norden des Landes den kleinen Distrikt Brčko, der offiziell zu beiden Entitäten gehört, de facto aber als eigenes Sonderverwaltungsgebiet funktioniert.

Bosnien und Herzegowina besteht heute aus den zwei Entitäten: der bosniakisch-kroatisch dominierten Föderation von Bosnien und Herzegowina und der bosnoserbisch dominierten Republika Srpska. Im Norden des Landes liegt der selbstverwaltete Distrikt Brčko. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Bosnien und Herzegowina besteht heute aus den zwei Entitäten: der bosniakisch-kroatisch dominierten Föderation von Bosnien und Herzegowina und der bosnoserbisch dominierten Republika Srpska. Im Norden des Landes liegt der selbstverwaltete Distrikt Brčko. BiH ist eine parlamentarische Demokratie, wobei die neue Verfassung, ein Teil des Dayton-Friedensabkommens, den Prinzipien der ethnischen Territorialisierung und der Gruppenrechte verpflichtet ist, mit einem äußerst komplexen Machtverteilungsmodell.

Auf Gesamtstaatsebene gibt es insbesondere eine dreiköpfige Präsidentschaft, den "Ministerrat" als Regierung und ein Zwei-Kammern-Parlament. Die gesamtstaatlichen Institutionen besitzen im Vergleich zu den Entitäten jedoch nur wenige Kompetenzen, darunter die Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik. Und auch bei diesen gesamtstaatlichen Institutionen gibt es Vorgaben zur Beteiligung der beiden Entitäten und der drei "konstitutiven Völker" (Bosniaken, Kroaten, Serben). Während in den Entitäten die Vertreter der jeweils dominierenden ethnonationalen Gruppen die Politik bestimmen, besteht auf Gesamtstaatsebene Konsensprinzip, um zu verhindern, dass eine Gruppe übergangen wird. Das macht es wiederum Vertretern der verschiedenen ethnonationalen Gruppen sehr leicht, Entscheidungsprozesse auf Gesamtstaatsebene zu blockieren.

Eine besondere Rolle im politischen System des Landes spielt auch die internationale Gemeinschaft: Mit dem Dayton-Friedensabkommen wurde das Amt des Hohen Repräsentanten geschaffen (Office of the High Representative, OHR), um die Implementierung des Friedensabkommens zu überwachen. Der OHR wurde 1997 mit Sondervollmachten ausgestattet, um innerbosnische Blockaden zu überwinden. Diese setzte der OHR zunächst auch ausgiebig ein, z. B. um korrupte Politiker abzusetzen oder um die drei Teilarmeen in eine gesamtstaatliche Armee zu überführen. Seit 2008 verzichtet der OHR aber weitgehend auf den Einsatz dieser Sondervollmachten mit der Begründung, nicht weiter in demokratische Entscheidungsprozesse eingreifen zu wollen.

Innenpolitik

Wie vieles im politischen System von BiH wird auch die Parteienlandschaft von sich ethnonational definierenden Parteien geprägt. Seit den 1990er Jahren dominierten bei jeder nationalen Gruppe eine Partei: die SDS (Srpska Demokratska Stranka, dt.: Serbische Demokratische Partei) bei den bosnischen Serben, die SDA (Stranka Demokratske Akcije, dt.: Partei der Demokratischen Aktion) bei den bosnischen Muslimen (Bosniaken), und die HDZ (Hrvatska demokratska zajednica BiH, dt.: Kroatische Demokratische Union in BiH) bei den bosnischen Kroaten. Diese bleiben weiter tonangebend, auch wenn in den letzten 25 Jahren viele neue Parteien hinzugekommen sind. In der mehrheitlich von bosnischen Serben bewohnten Republika Srpska hat die SNSD (Savez nezavisnih socijaldemokrata, dt.: Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten) die SDS seit 2006 als stärkste politische Kraft abgelöst. Programmatisch unterscheiden sich die beiden Parteien nur wenig; im Jahr 2011 wurde die SNSD wegen ihrer nationalistischen Rhetorik aus der Interner Link: Sozialistischen Internationale ausgeschlossen. Auch wenn die Parteinamen dies teilweise nicht erkennen lassen, verstehen sich also auch diese neuen Parteien in erster Linie als Interessenvertreter "ihrer" ethnonationalen Gruppe und des dazugehörigen Territoriums.

Nachdem es Anfang 2014 zu gewaltsamen Protesten in Bosnien und Herzegowina kam, bildeten sich in Tuzla und anderen Städten des Landes Bürgerversammlungen (im Bild: Sarajevo). Dort wurde über viele Missstände wie Korruption und Armut diskutiert und nach Lösungen gesucht. (© Roska Vrgova, n-ost)

Insgesamt ist die politische Kultur in BiH vor allem durch Polarisierung und Fragmentierungen geprägt sowie durch fundamental gegensätzliche Vorstellungen über die Staatlichkeit von BiH. Die dominierenden bosnoserbischen Parteien sprechen dem Staat BiH offen die Legitimität ab und drohen immer wieder mit einer Abtrennung der Republika Srpska vom Gesamtstaat. Die führenden bosnokroatischen Parteien sind ebenfalls nicht an einer Stärkung des Gesamtstaates interessiert: Ihr Ziel ist die Schaffung einer sogenannten "dritten Entität". Anstatt sich die Föderation von BiH mit den Bosniaken zu teilen, wollen sie eine eigene weitgehend autonome bosnokroatische Entität, analog zur Republika Srpska.

Diese Ziele werden von den führenden bosniakischen Parteien abgelehnt, die den Gesamtstaat BiH verteidigen und auch stärken wollen. Mit dem Krieg der 1990er Jahre hat sich allerdings auch ein bosniakischer Nationalismus herausgebildet, deren Vertreter Bosniaken als die einzig "wahren Bosnier" ansehen, die auch die dominierende Gruppe im Staat sein sollten.

Bei solch diametral entgegengesetzten politischen Vorstellungen gibt es kaum Raum für Kompromisse, weshalb das politische Leben vor allem von Stagnation geprägt ist. Zwar gibt es auch Parteien, die sich nicht ethnisch definieren: Die älteste davon ist die SDP (Socijaldemokratska partija BiH, dt.: Sozialdemokratische Partei von BiH), die aus der ehemaligen Kommunistischen Partei entstanden ist und zwischen 2010 und 2014 die stärkste Kraft im Gesamtstaatsparlament war. Aber auch das nicht-nationalistische Parteienspektrum ist zersplittert und konnte bis jetzt den ethnonationalen Parteien die Macht nur punktuell streitig machen.

Nicht zuletzt zeichnet sich die politische Kultur des Landes auch durch starke Formen von "state capture" aus: Hinter der Fassade des ethnischen Prinzips und damit verwoben nutzen die Regierungsparteien ihre Macht in staatlichen Institutionen für parteipolitische Interessen, persönliche Bereicherung und die Schaffung klientelistischer Abhängigkeitsstrukturen aus.

Außenpolitik

Die innenpolitische Fragmentierung und die Dominanz ethnonationaler Politik wirken sich auch auf die Außenpolitik aus. Die NATO-Mitgliedschaft wird von den in der Föderation von BiH dominierenden Parteien befürwortet, aber von den bosnoserbischen Parteien abgelehnt, sodass diese Frage seit Jahren auf Eis liegt. Die EU-Integration ist offiziell erklärtes Ziel aller Parteien. Gleichzeitig tun alle nur sehr wenig, um diesen Prozess konsequent voranzutreiben, u. a. weil die Einführung strengerer rechtsstaatlicher Standards ihre jetzigen Machtpositionen bedrohen und die ethnopolitische Machtverteilung im Land verschieben könnten.

Unter den Beitrittskandidaten des Westlichen Balkans stellt BiH neben Kosovo das Schlusslicht dar: Nach vielen Verzögerungen hat das Land erst 2016 seinen Antrag auf eine EU-Mitgliedschaft gestellt, es gilt aber weiter nur als "potentieller Beitrittskandidat", da der Antrag bis heute (Oktober 2020) nicht positiv beschieden wurde und noch keine Beitrittsverhandlungen aufgenommen wurden. Das erklärt sich durch die Skepsis gegenüber der Reformfähigkeit des Landes sowie durch die allgemeine Erweiterungsmüdigkeit innerhalb der EU. Allerdings ist die EU mit zahlreichen Unterstützungsprogrammen in BiH aktiv und hat auch den OHR als Hauptakteur der internationalen Gemeinschaft abgelöst.

Die Vijećnica in Sarajevo, das ehemalige Rathaus sowie Sitz der Zentralbibliothek, wird zugleich mit der Europa- und der Landesflagge angestrahlt. Unter den EU-Beitrittskandidaten des Westlichen gilt Bosnien neben dem Kosovo als Schlusslicht. / Foto: Imrana Kapetanovic, n-ost (© Imrana Kapetanović, n-ost)

Was andere außenpolitische Akteure betrifft, so pflegen die bosnoserbischen Regierungsparteien vor allem den Kontakt zu Serbien und auch zu Russland, die bosniakischen Regierungspartien teilweise zu arabischen Ländern und vor allem zur Türkei, die bosnokroatischen Regierungsparteien vor allem zu Kroatien. Die Türkei ist kulturpolitisch sehr präsent, und Kroatien und Serbien mischen sich immer wieder in die Innenpolitik von BiH ein, mit dem Argument, die Interessen der Angehörigen "ihrer" Nation verteidigen zu wollen. Insgesamt bleiben die EU und ihre Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, die einflussreichsten Akteure in BiH – politisch, aber auch wirtschaftlich: Über 60 Prozent der bosnisch-herzegowinischen Importe und über 70 Prozent der Exporte erfolgen mit der EU.

Wirtschaft und Gesellschaft

Das Erbe des Sozialismus, die Interner Link: Kriegsfolgen sowie die von Korruption und Interner Link: Klientelismus geprägten Privatisierungen belasten das Wirtschaftsleben bis heute. Bremsend wirken sich auch die Fragmentierung des Landes, politische Unsicherheit, bürokratische Hürden und fehlende Rechtssicherheit aus. Immerhin gibt es keine nennenswerte Inflation, eine im regionalen Vergleich niedrige Staatsverschuldung und immer wieder auch ein bescheidenes Wirtschaftswachstum. Doch davon profitieren vor allem die politischen Eliten, die große Teile der Wirtschaft kontrollieren. Das durchschnittliche Netto-Monatseinkommen beträgt nur knapp 500 Euro, die Arbeitslosenzahl liegt offiziell bei ca. 20 Prozent. Bei der Jugend ist sie mehr als doppelt so hoch.

Mangelnde wirtschaftliche und politische Perspektiven führen dazu, dass jährlich Zehntausende – vor allem gut ausgebildete – Menschen das Land verlassen. Das verstärkt den ohnehin bestehenden Abwärtstrend in der Bevölkerungsentwicklung. Hatte BiH vor Beginn des Krieges 4,4 Millionen Einwohner, so waren es nach der Volkszählung 2013 nur noch 3,5 Millionen. Allein der Krieg hat BiH 100.000 Menschenleben gekostet und über zwei Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung – zu Vertriebenen und Flüchtlingen gemacht, von diesen über ein Drittel außerhalb der Staatsgrenzen. Viele sind nicht nach BiH zurückgekehrt.

BiH definiert sich in seiner Verfassung nicht als Nationalstaat, sondern als Vielvölkerstaat: mit Bosniaken, Serben und Kroaten als den drei "konstitutiven Völkern" des Staates. BiH verfügt über eine multiethnische und multireligiöse Bevölkerung. Laut letzter Volkszählung (2013) bezeichnen sich 50 Prozent als Bosniaken, 31 Prozent als Serben, 15 Prozent als Kroaten und 4 Prozent mit anderen Kategorien. Allerdings haben Krieg und Nachkriegspolitik zu einer starken territorialen Homogenisierung geführt. Lebten vor dem Krieg nach der Volkszählung von 1991 z. B. in Sarajevo 50 Prozent Muslime/Bosniaken, 27 Prozent Serben, 7 Prozent Kroaten und 15 Prozent Jugoslawen, so sind es heute über 80 Prozent Bosniaken. Eine ähnliche Entwicklung hat es fast überall in BiH gegeben. In den meisten Städten gehören heute 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung zu einer der drei Volksgruppen.

Der Kunststudent und Streetart-Künstler Luka Tomić in einem verlassenen Gebäude in Mostar. Von hier aus schossen im Krieg Scharfschützen auf muslimische Zivilistinnen und Zivilisten. Die Grenzen zwischen den Ethnien existieren nach wie vor, sagt Tomić, auch wenn schon vieles besser geworden ist. / Foto: Jasmin Brutus, n-ost (© Jasmin Brutus, n-ost)

Auch in den Städten der beiden "gemischten" Kantone mit bosniakischen und kroatischen Bewohnern leben die meisten Menschen einer Volksgruppe in einem Teil und die anderen in einem anderen, mit zwei parallelen Stadtverwaltungen. Dabei teilen die Menschen der drei Volksgruppen – und auch diejenigen, die sich nicht dazu zählen – weitgehend dieselbe Alltagskultur und auch dieselbe Sprache. Zwar gibt es offiziell drei Landessprachen: Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Sie sind allerdings Varianten einer plurizentrischen Sprache und unterscheiden sich nur geringfügig, verfügen aber über zwei Schriftsysteme: An Schulen in der Republika Srpsksa wird vorwiegend das kyrillische Alphabet gelehrt, in der Föderation vor allem das lateinische.

Gerade weil sich die Alltagskultur und Sprache der Menschen so ähnlich sind, ist es aber umso mehr das Anliegen der dominierenden ethnonationalen Kräfte, das Trennende zu betonen und Räume gemeinsamen Lebens und Handelns so weit wie möglich auszuschalten. So gibt es auch drei parallele Schulsysteme, in denen z. B. im Geschichtsunterricht je nach ethnischer Mehrheit Unterschiedliches unterrichtet wird. Allerdings gibt es auch nach 25 Jahren paralleler Nationalismen und ethnonationaler Trennungspolitik weiter Menschen und Gruppen, die sich dieser Politik verwehren, Brücken schlagen und gegen Korruption und Nationalismus protestieren. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Zivilgesellschaft und der Kultur. Auch wenn dieses Engagement es bis jetzt nicht geschafft hat, die dominierenden ethnonationalen Strukturen in Frage zu stellen, so zeugen sie doch von der Tradition des Zusammenlebens und von der Existenz alternativer Optionen für Bosnien und Herzegowina.

Mehr zum Thema:

Quellen / Literatur

Tobias Flessenkemper / Nicolas Moll (Hg., 2018): Das politische System Bosnien und Herzegowinas. Herausforderungen zwischen Dayton-Friedensabkommen und EU-Annäherung. Wiesbaden: Springer VS.
Damir Banović / Saša Gavrić / Mariña Barreiro Marino (Hg., 2021): The Political System of Bosnia and Herzegovina. Institutions – Actors – Processes. Berlin: Springer International.
Holm Sundhaussen (2014): Sarajevo: Die Geschichte einer Stadt. Wien: Verlag Böhlau.

Fussnoten

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Weitere Inhalte

Dr. Nicolas Moll lebt als freischaffender Historiker seit 2007 in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Er ist Mitherausgeber des Buchs "Das politische System Bosnien und Herzegowinas. Herausforderungen zwischen Dayton-Friedensabkommen und EU-Annäherung" (Springer VS 2018).