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Serbien

Thomas Roser

/ 10 Minuten zu lesen

Serbien ist seit 2012 EU-Beitrittskandidat und betont gleichzeitig freundschaftliche Beziehungen zu Russland und China. Der festgefahrene Dialog mit Kosovo und rechtsstaatliche Defizite bremsen die EU-Beitrittsverhandlungen. Thomas Roser gibt einen Überblick über Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

SerbienAuf einen Blick

Hauptstadt: Belgrad

Amtssprache: Serbisch; regional: anerkannte Minderheitensprachen

Einwohnerzahl: 7 Millionen (2019)

Bevölkerung im Ausland: 950.500 (2019)

Ethnische Gruppen: 83,3 Prozent Serben, 3,5 Prozent Ungarn, 2,0 Prozent Roma, 2,0 Prozent Bosniaken, 0,8 Prozent Kroaten, 0,7 Prozent Slowaken, weitere Minderheiten (Volkszählung 2011)

Religionen: 84,6 Prozent orthodox, 5,0 Prozent katholisch, 3,1 Prozent muslimisch, 0,1 Prozent protestantisch (Volkszählung 2011)

Mitgliedschaften in internationalen Organisationen (Auswahl): OSZE, Europarat (seit 2003)

Verwaltungsgliederung: 24 Bezirke (okrug) und Hauptstadt Belgrad

Anteil der Stadtbevölkerung: 56,1 Prozent (2018)

BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt): 19.013 US-Dollar (Deutschland: 56.278; 2019)

Währung: Dinar (1 EUR = 117,56 RSD; 2021)

Arbeitslosigkeit: 13,1 Prozent (2019)

Jugendarbeitslosigkeit: 31,3 Prozent (2019)

Quellen: UN, UN DESA, IOM, World Bank, ILO

Geschichte

Die Eigenstaatlichkeit Serbiens reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück, als die Nemanjiden-Dynastie unter Stefan Nemanja damit begann, erste Fürstentümer zu vereinen. 1217 sagte sich sein Sohn Stefan Nemanjić von Byzanz los und ließ sich zu Serbiens erstem König krönen. Ab Ende des 14. Jahrhunderts Interner Link: expandierte das Osmanische Reich zunehmend in der Region und eroberte nach und nach die Balkanhalbinsel. Die Schlacht an der Mariza im Jahr 1371 läutete den Anfang vom Ende von Serbiens Eigenstaatlichkeit im Mittelalter ein. Die osmanische Herrschaft in Serbiens Kerngebieten währte über vier Jahrhunderte.

Infolge von zwei Aufständen gegen das Osmanische Reich erkämpfte sich Serbien ab 1815 weitgehende Autonomierechte. Die Souveränität Serbiens erkannten die europäischen Großmächte und das Osmanische Reich allerdings erst im Jahr 1878 auf dem Interner Link: Berliner Kongress an. Interner Link: Zwei Balkankriege, blutige Machtkämpfe und nationalistische Spannungen ließen das junge Königreich in den nächsten Jahrzehnten kaum zur Ruhe kommen. Nach dem Interner Link: Attentat des bosnischen Serben Gavrilo Princip auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg – der Auslöser des Interner Link: Ersten Weltkriegs. Serbien verlor während des Krieges je nach Quelle bis zu einem Viertel seiner Bevölkerung.

Im Dezember 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, gründeten die südslawischen Völker mit dem "Staat der Serben, Kroaten und Slowenen" (SHS) das "Interner Link: Erste Jugoslawien". Das Königreich wurde auf der Interner Link: Pariser Friedenskonferenz 1919 völkerrechtlich anerkannt. In den Zwischenkriegsjahren prägten den Vielvölkerstaat – der 1929 in "Königreich Jugoslawien" umbenannt wurde – autoritäre Tendenzen und wachsender Widerstand gegen die serbische Dominanz. 1941 marschierte die Interner Link: Wehrmacht in Jugoslawien ein. Deutschland besetzte Slowenien, Serbien, Ungarn, Teile der heutigen Vojvodina. Italien besetzte Montenegro, Teile des heutigen Sloweniens, Dalmatien, und kontrollierte ein Großalbanien mit dem heutigen Kosovo und Westmazedonien, während Bulgarien den Großteil des heutigen Nordmazedoniens und Teile Südserbiens besetzte. Mit dem Segen Hitlers errichtete die faschistische Ustascha den "Unabhängigen Staat Kroatien" (NDH).

Nach dem Krieg und dem Sieg der kommunistischen Partisanen unter Interner Link: Josip Broz Tito wurde Serbien zu einer von sechs Republiken des neu gegründeten sozialistischen Jugoslawiens ("Interner Link: Zweites Jugoslawien"). Die Partisanen errichteten zunächst ein kommunistisches System nach sowjetischem Vorbild. 1948 kam es jedoch zum Bruch mit der Sowjetunion, und Jugoslawien gründete die Bewegung der Interner Link: Blockfreien Staaten, die sich weder der Interner Link: NATO noch dem Warschauer Pakt anschließen wollten. Politisch war der neue Vielvölkerstaat stark föderalisiert, wirtschaftlich setzte der militärisch neutrale Staat auf das System der "Arbeiterselbstverwaltung", dessen Großbetriebe sowohl für den Westen als auch für den Osten fertigten. Im Gegensatz zu den Bürgerinnen und Bürgern des sowjetisch dominierten "Interner Link: Ostblocks" genossen Jugoslawinnen und Jugoslawen bereits seit den 1960er Jahren Reisefreiheit. Innerhalb der Republik Serbien wurden mit der jugoslawischen Verfassung von 1974 zwei autonome Provinzen geschaffen: Kosovo und die Vojvodina.

Der ehemalige Präsident Josip Broz Tito (1892-1980) wird bis heute Interner Link: von vielen Menschen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens verehrt. Hier wird ihm anlässlich seines Todestages mit einer Gedenkfeier in Belgrad gedacht. (© Mark Rupena, Kamerades)

Nach Titos Tod 1980 erstarkten die nationalistischen Zentrifugalkräfte im Vielvölkerstaat. Die Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatien im Sommer 1991 lösten die Jugoslawienkriege aus. Serbien versuchte unter Führung seines autoritären Präsidenten Slobodan Milošević zunächst den Erhalt Jugoslawiens und dann den Zusammenhalt der serbischen Siedlungsgebiete zu erzwingen. Unterstützt von der jugoslawischen Armee (JNA) und serbischen Freiwilligenmilizen riefen die Serben in Kroatien und in Bosnien autonome Parastaaten aus. Kriegsverbrechen und massenhafte Vertreibungen prägten die Kriege in Kroatien (1991-1995), Bosnien (1992-1995) und Kosovo (1998-1999). Serbien selbst wurde erst Ende der 1990er Jahre zum Kriegsschauplatz. Um Milošević zum Rückzug der serbischen Truppen aus Kosovo zu zwingen, bombardierte die Nato ohne UN-Mandat im Frühjahr 1999 drei Monate lang das sogenannte Restjugoslawien (Serbien und Montenegro).

Nachdem Milošević seine Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im September 2000 nicht anerkennen wollte, wurde er am 5. Oktober 2000 durch einen Volksaufstand gestürzt. Die demokratische Aufbruchstimmung währte nur kurz. Die Spannungen zwischen dem im Januar 2001 gewählten Reformpremier Zoran Đinđić und dem russlandfreundlichen Präsidenten Vojislav Koštunica stiegen, und die nationalistische Opposition um den SRS-Chef Vojislav Šešelj erlebte neuen Zulauf. Gleichzeitig blieben in der Verwaltung, den Staatsbetrieben und den Sicherheitsdiensten weitgehend die Kräfte des alten Regimes am Ruder. 2003 wurde Zoran Đinđić ermordet. Das stark geschrumpfte Jugoslawien benannte sich 2003 in Serbien und Montenegro um. 2006 verließ Montenegro nach einer Volksabstimmung den Staatenbund. 2008 erklärte sich auch die seit 1999 unter internationaler Verwaltung stehende südserbische Provinz Kosovo für unabhängig. Interner Link: Die Eigenstaatlichkeit Kosovos wird von Serbien bis heute nicht anerkannt.

Die gewaltsame Vertreibung und der Mord an tausenden Menschen im Verlauf der Kriege auf dem Balkan ist immer noch nicht restlos aufgearbeitet. Hier ist eine serbische Mitarbeiterin eines forensischen Teams bei Ausgrabungsarbeiten Ende 2020 in einer ehemaligen Mine auf serbischem Territorium nahe der albanischen Grenze zu sehen. Die gefundenen menschlichen Überreste stammen aller Wahrscheinlichkeit nach von Kosovo-Albanern, die einem Kriegsverbrechen während des Kosovo-Krieges zum Opfer fielen. (© Marko Risović, Kamerades)

Politisches System

Ende 2006 trat in Serbien nach einer Volksabstimmung eine neue Verfassung in Kraft. Serbien ist nach dieser eine parlamentarische Demokratie, die auf den Prinzipien des Rechtsstaats, der sozialen Gerechtigkeit, Menschen- und Minderheitenrechten sowie den europäischen Werten fußt. Die Verfassung bezeichnet Serbien zudem als säkularen Staat, in dem Kirchen und Staat getrennt sind. In der Präambel wird Kosovo – seit 2008 unabhängig – als "Teil des Territoriums Serbiens" bezeichnet. Die Vojvodina hat den Status einer autonomen Provinz.

Serbiens Parlament zählt 250 Abgeordnete, die für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt werden. Die Sitze werden in einem landesweiten Wahlkreis nach einem Verhältniswahlrecht vergeben. Es gilt eine Sperrklausel (seit 2020 drei Prozent), von der nationale Minderheiten ausgenommen sind. Die wichtigsten Aufgaben des Parlaments sind die Gesetzgebung, die Wahl der Regierung, die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts und des Nationalbankchefs. Zuständig ist das Parlament für den Haushalt, Verfassungsänderungen, die Ausschreibung von Volksabstimmungen, die Überwachung der Geheimdienste, Kriegserklärungen und die Verhängung des Ausnahmezustands.

Serbiens Präsident wird in direkten Wahlen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Laut Verfassung hat er die Republik im Ausland zu vertreten und dem Parlament nach Konsultationen mit den Fraktionen einen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vorzuschlagen. Der Staatschef ist zudem Oberbefehlshaber der Armee und ernennt die Botschafterinnen und Botschafter des Landes im Ausland.

Innenpolitik

Nach dem Sturz Miloševićs prägten zunächst zwei Parteien die serbische Politik: die prowestliche Demokratische Partei (DS) des 2003 ermordeten Premiers Zoran Đinđić sowie die ultranationalistische Radikale Partei (SRS) des Kriegsverbrechers Vojislav Šešelj. Während sich die aus der Oppositionsbewegung gegen Milošević entstandene DS für eine EU-Integration einsetzte, machte sich die SRS für eine Anlehnung an Russland stark. 2008 spaltete sich der moderatere Parteiflügel der SRS um Tomislav Nikolić ab. Gemeinsam mit dem langjährigen Generalsekretär Aleksandar Vučić gründete er die rechtspopulistische Fortschrittspartei (SNS). Diese setzte zwar weiter auf nationalistische Töne, verfolgte aber eine pragmatische Außenpolitik mit dem Ziel des EU-Beitritts.

Durch die Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), der Partei des Ex-Autokraten und 2006 verstorbenen Milošević, kam die SNS nach der Parlamentswahl 2012 an die Regierung. Vučić stieg zu Serbiens mächtigstem Politiker auf – zunächst als Vize-Premier, später als Regierungschef und seit 2017 als Staatspräsident: Seit 2012 regiert der SNS-Chef praktisch in Alleinherrschaft und hat die Dominanz seiner Partei immer stärker ausgebaut. Mehr als zehn Prozent der rund 6,9 Millionen Einwohner/-innen Serbiens sind Mitglied der SNS. Bei der Parlamentswahl im Juni 2020, die von den wichtigsten Oppositionsparteien boykottiert wurden, weil es diesen zufolge keine Voraussetzungen für freie und faire Wahlen gab, kam die SNS bei der niedrigsten Wahlbeteiligung seit 30 Jahren auf 60,65 Prozent der Stimmen und 188 der 250 Sitze – und verfügt damit selbst ohne Koalitionspartner über eine Dreiviertelmehrheit. Neben den Minderheiten und der SPS (10,38 Prozent) kam nur noch der nationalkonservative Parteineuling SPAS (3,8 Prozent) in die Volksvertretung: Erstmals ist im Parlament keine klar pro-westlich orientierte Partei mehr vertreten.

Immer wieder gibt es Proteste gegen die Einschränkung der Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit unter der Regierung von Präsident Aleksandar Vučić, wie hier vor dem Parlament in Belgrad im Februar 2019. Die Proteste unter dem Titel "Einer von fünf Millionen" begannen, nachdem der Oppositionspolitiker Borko Stefanović im Dezember 2018 nach verbalen Angriffen der Regierungspartei auch physisch attackiert und schwer verletzt wurde. (© Nemanja Jovanović, Kamerades)

Während Vučić seine Macht mit jeder Wahl weiter gefestigt hat, ist Serbiens Opposition zerstritten und zersplittert. Die DS hat nach endlosen Abspaltungen und Machtkämpfen deutlich an Größe eingebüßt. Die wichtigsten Oppositionsparteien, die die Parlamentswahl boykottierten, sind neben der DS die Mitte-Links-Partei SSP, die konservative Nationale Partei sowie die rechtsklerikalen Dveri. Die ultranationalistische SRS scheiterte bei der letzten Wahl genauso an der Dreiprozenthürde wie die ehemalige Regierungspartei DSS oder die liberale PSG. Bürgerrechtler zeigen sich über rechtsstaatliche Mängel, autoritäre Tendenzen und die Bedrohung der Pressefreiheit besorgt. Oppositionspolitiker und kritische Publizisten sehen sich publizistischen Hetzkampagnen der regierungsnahen Boulevardpresse, tätlichen Übergriffen und Brandstiftungen ausgesetzt. Über ihr nahestehende Geschäftsleute hat sich die SNS die Kontrolle über alle landesweit empfangbaren TV-Sender gesichert. Die Opposition wird selbst in den Programmen des öffentlich-rechtlichen RTS weitgehend ignoriert. Von der US-amerikanischen NGO "Freedom House" wird Serbien seit 2019 nur noch als "teilweise frei" eingestuft. Im Pressefreiheitsindex von "Reporter ohne Grenzen" ist Serbien von Platz 54 (2014) auf 93 (2020) gefallen.

Außenpolitik

Bereits 2003 sicherte die EU den sogenannten Interner Link: Westbalkanstaaten – und damit auch Serbien – die Beitrittsperspektive zu (EU-Gipfel in Thessaloniki). Die mangelnde Kooperation Belgrads mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal verzögerte zunächst die EU-Integration. Erst die Verhaftung und Auslieferung von Radovan Karadžić (2008) und Ratko Mladić (2011) machten den Weg für die im Januar 2014 aufgenommen Beitrittsverhandlungen frei. Der Beitrittsprozess geht jedoch nur schleppend voran. In sechs Jahren hat Serbien nur etwas mehr als die Hälfte der 35 Verhandlungskapitel eröffnet: Ein konkreter Beitrittstermin ist nicht in Sicht. Einerseits bremst der festgefahrene Dialog mit Kosovo die Verhandlungen: Die EU macht ein Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen mit Kosovo zur Bedingung für Serbiens Beitritt. Andererseits hat Serbien bei der Schaffung rechtsstaatlicher Verhältnisse, der Pressefreiheit und der Angleichung an die EU-Außenpolitik in den letzten Jahren eher Rück- als Fortschritte gemacht.

Ähnlich wie einst Tito versucht sich auch Staatspräsident Vučić im außenpolitischen Spagat zwischen Ost und West. Ein Beitritt zur NATO wird von der serbischen Regierung entschieden abgelehnt. Stattdessen hegt der militärisch neutrale Balkanstaat betont freundschaftliche Beziehungen zu Russland und China, die sich seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos 2008 noch intensiviert haben: Die beiden Mitglieder des Interner Link: UN-Sicherheitsrats unterstützen Serbiens Kosovo-Ansprüche. Für China hat sich Serbien in den letzten Jahren zum südosteuropäischen Schlüsselpartner für das Prestigeprojekt der "Neuen Seidenstraße" entwickelt. Außer als Kreditgeber für meist von chinesischen Baukonzernen realisierte Infrastrukturvorhaben wie den Bau von Autobahnen, Donaubrücken oder der Schnellbahntrasse nach Budapest tritt Peking in Serbien vermehrt auch als Direktinvestor auf: So haben chinesische Unternehmen die Kupferbergwerke in Bor und Majdanpek sowie das Stahlwerk in Smederevo übernommen.

Sehr schwierig bleibt das Verhältnis zu den einstigen Kriegsgegnern Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo: Von einer echten Aussöhnung mit den ex-jugoslawischen Bruderstaaten ist Serbien auch wegen dem fehlenden Eingeständnis oder dem Herunterspielen von im Namen der eigenen Nation begangenen Kriegsverbrechen weit entfernt.

Wirtschaft und Soziales

Das Kriegsjahrzehnt der 1990er Jahre hat Serbiens Wirtschaft hart getroffen. Die Folgen der UN-Sanktionen und des Wegfalls angestammter Absatzmärkte machten dem Land ebenso zu schaffen wie missglückte Privatisierungen und die NATO-Bombardierung von 1999.

Die ersten Jahre nach der Wende im Jahr 2000 waren durch hohe Zuwachsraten zwischen fünf und zehn Prozent geprägt. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 2008 trafen Serbien jedoch hart. Erst 2018 erreichte das Interner Link: Bruttoinlandsprodukt wieder das Vorkrisenniveau. Das Wachstum kletterte dank angezogener Auslandsinvestitionen, dem boomenden Bau-Gewerbe und vermehrter Konsumausgaben wieder über die vier Prozent-Marke. Die Coronakrise wird Serbien jedoch voraussichtlich erneut ein Negativwachstum sowie steigende Staatsschulden bescheren.

Der Einfluss Chinas wächst in Serbien, gerade die wirtschaftlichen Investitionen steigen. Hier ist ein Schriftzug in der Nähe des Sitzes einer chinesischen Eisenbahnfirma in Novi Beograd ("Neu-Belgrad") zu sehen. Dort heißt es: "Die Konstruktion der Serbisch-Ungarischen Eisenbahn und Vertiefung der Serbisch-Chinesischen Freundschaft". Die Firma baut in Zusammenarbeit mit russischen Firmen eine Schnellzug-Verbindung von Belgrad nach Budapest. (© Marko Risović, Kamerades)

60 Prozent der serbischen Exporte gehen in die EU. Die wichtigsten Ausfuhrgüter sind elektronische Produkte, Fahrzeuge, Stahl, Metalle und Agrarprodukte. Das chinesisch geführte Stahlwerk in Smederevo hat das Fiat-Werk in Kragujevac als größten Exporteur abgelöst. Auslandsinvestoren sehen in Serbien weniger einen lukrativen Absatzmarkt als eine verlängerte Werkbank. Für den Standort sprechen die verfügbare Arbeitskraft und das geringe Lohnniveau.

Serbiens Arbeitslosenrate beträgt offiziell rund zehn Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent. Der Nettodurchschnittslohn ist zwar auf ca. 500 Euro geklettert. Über ein Viertel der Bevölkerung Serbiens gilt jedoch weiterhin als armutsgefährdet. Dabei ist das Lohn- und Lebensniveau der ländlichen Gebiete im strukturschwachen Süd- und Ostserbien wesentlich geringer als in den relativ wohlhabenden Metropolen Belgrad oder Novi Sad. Eine wichtige Einkommensquelle bleiben für viele Serbinnen und Serben die Überweisungen ihrer Angehörigen in Westeuropa. 2019 machten die Rücküberweisungen über acht Prozent von Serbiens Bruttoinlandsprodukt aus.

Gesellschaft und Minderheiten

Serbiens Gesellschaft wird durch einen andauernden Bevölkerungsschwund geprägt. Seit 2005 ist die Einwohnerzahl von 7,4 auf 6,9 Millionen geschrumpft. Neben der rückläufigen Geburtenrate macht dem Land die Emigration zu schaffen: Jährlich wandern Schätzungen zufolge 30.000 meist junge und gut ausgebildete Fachkräfte ins Ausland ab.

Größte Minderheit sind laut der Volkszählung von 2011 Ungarinnen und Ungarn (rund 254.000) vor den Romnija und Roma (148.000), Bosniakinnen und Bosniaken (145.000), Kroatinnen und Kroaten (58.000), Montenegrinerinnen und Montenegrinern (39.000), Vlachinnen und Vlachen (35.000) und Rumänen (29.000). Insgesamt erklärten sich knapp 6 Millionen von 7,1 Millionen erfassten Bewohner als ethnische Serben.

Serbien ist ein orthodoxes Land, im Süden Serbiens nahe der Grenzen zu Kosovo und Nordmazedonien gibt es aber eine Mehrheit von Menschen muslimischen Glaubens. Es kommt immer wieder zu Spannungen mit der Regierung in Belgrad, das Zusammenleben vor Ort funktioniert trotzdem. Das Bild zeigt ein Fußballturnier in der Stadt Preševo. (© Marko Risović, Kamerades)

Die wegen Boykotts in der Volkszählung kaum erfasste albanische Minderheit stellt im sogenannten Preševo-Tal im Grenzgebiet zu Kosovo und Nordmazedonien die Bevölkerungsmehrheit. Bei der Volkszählung im Jahr 2002 wurde die Zahl der Albanerinnen und Albanern noch mit rund 62.000 angegeben. Zwischen 1999 und 2001 hatte die Untergrundarmee UCPMB für die Vereinigung Preševos mit Kosovo gestritten. Die Zeiten der bewaffneten Sezessionskämpfe ist in der Rückstandsregion zwar vorbei, aber noch immer machen sich Kosovo-Politiker regelmäßig für den Anschluss des Preševo-Tals an Kosovo stark.

Im Sandžak, einer Region an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina, ist die Minderheit der muslimischen Bosniakinnen und Bosniaken sehr stark, in der multiethnischen Region Vojvodina die der Ungarn. Die Parteien der großen Minderheiten sind meist um gute Beziehungen zur jeweiligen Regierung in Belgrad bemüht – und sitzen dort für gewöhnlich mit am Kabinettstisch. Um die Interner Link: soziale und ökonomische Lage der Romnija und Roma ist es auch in Serbien schlecht bestellt. Doch im Gegensatz zu den Nachbarstaaten Ungarn oder Bulgarien ist noch keine fremdenfeindliche Partei ins Parlament gelangt, die sich mit rassistischen Ausfällen gegenüber Romnija und Roma zu profilieren versucht.

Seit 2003 haben die Angehörigen der Minderheiten das Recht, als ihre Interessenvertretung alle vier Jahre einen eigenen nationalen Minderheitenrat zu wählen. Zuständig sind die 22 Minderheitenräte für kulturelle Fragen, das Schulwesen und Amtssprachenregelungen in den Kommunen. Laut Gesetz können sie darüber entweder selbst entscheiden oder müssen an der Entscheidungsfindung zumindest beteiligt werden.

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Thomas Roser lebt und arbeitet seit 2007 als Südosteuropa-Korrespondent deutschsprachiger Zeitungen in Belgrad, Serbien. Er ist Autor des Buchs "Post vom Balkanspion – Depeschen aus einem verschwundenen Land" (Twentysix, 2017).