Bis heute prägen Stereotype das Bild Südosteuropas in Westeuropa. Wo beginnt der Balkan, was eint und trennt die Staaten und warum gilt die Region immer wieder als gewalttätig, rückständig oder fremd?
Die wichtigsten Merkmale von Südosteuropas zweifelhafter Europäizität seien demnach die angebliche Tendenz zur Kleinstaaterei, was insbesondere in die englische politische Sprache das Schlagwort der "balkanisation" (Balkanisierung) eingeführt hat. Hinzu kommt die Wahrnehmung, dass die Region bestimmt sei durch eine besonders häufige und intensive Gewaltpraxis bei zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen ebenso wie bei inneren Konflikten. Gewalt auf der gesellschaftlichen Ebene träte auf dem Balkan insbesondere zwischen ethnischen Gruppen auf, deren Vielfalt und Unübersichtlichkeit in der französischen politischen Sprache in Gestalt der "macédoine" (ein gemischter Salat oder ein Gemüseauflauf mit besonders vielen Zutaten) sprichwörtlich geworden ist. Schließlich sei der Balkan ein wirtschaftlich zurückgebliebener Raum, was nicht zuletzt einer wenig arbeitsamen, besonders konservativen und Bildung ablehnenden Bauernbevölkerung zu verdanken sei.
Die historische und sozialwissenschaftliche Stereotypenforschung und die kritische Diskursanalyse haben uns gelehrt, dass die Darstellung des "Anderen" meist mehr über den Darstellenden als über den Dargestellten aussagt. Dies ist eines der wichtigsten Argumente in Maria Todorovas Buch "Imagining the Balkans" (1997), in dem sie das Bild des Balkans und seiner Einwohnerinnen und Einwohner als gewalttätig, undiszipliniert und barbarisch, als "Europas bequemes Vorurteil", als Projektion von auch im westlichen Europa aufgetretenen Phänomene auf die europäische Peripherie des Balkans analysiert. Neuere Forschungen – z. B. Diana Mishkovas "Beyond Balkanism" (2019) – weisen jedoch darauf hin, dass das europäische Negativbild des Balkans nicht das einzig verfügbare war und ist. Im selben Zeitraum wie die genannten Negativstereotype entwickelte sich ein positives Balkanbild in den intellektuellen Zentren der Region sowie in manchen Städten des westlichen Europas. Dieses wurde wiederum von den Nationalbewegungen und Nationalstaaten der Region zur Legitimation herangezogen. Das in Deutschland wahrscheinlich bekannteste positive Balkanbild ist das von Interner Link: Griechenland als die Wiege des demokratischen Europas.
Die Verflechtungen zwischen Balkan und Europa werden in diesem Beitrag einerseits als Wechselverhältnis aufeinander bezogener Stereotypen analysiert. Andererseits wird die Funktion von Bildern und Stereotypen im politischen Prozess, für wirtschaftliche Projekte sowie für intellektuelle Positionierungen diskutiert. Dabei sei betont, dass die gesellschaftliche Konstruktion der Realität Balkan und Südosteuropa ein Prozess aus Sprache und Vorstellung ist, der aber nicht losgelöst von räumlichen Realitäten stattfindet, sondern bezogen ist auf diese.
Geschichtsregionen als Konstrukt und Realität
Betrachtet man die Gesamtdarstellungen südosteuropäischer Geschichte im deutschen Sprachraum der letzten 80 Jahre, so offenbart sich eine Entwicklung, in der nur langsam – in den letzten Jahren aber entschieden – die wissenschaftliche Konstruktion der Region selbst reflektiert wird. Die 1950 erschienene "Geschichte Südosteuropas" von Georg Stadtmüller beschäftigte sich ebenso wie die "Geschichte der Balkanländer" (1988) von Edgar Hösch ganz überwiegend direkt mit Charakter und Struktur der Region: Was hält sie zusammen und was unterscheidet sie von anderen Teilen Europas oder anderen Weltregionen?
Maria Todorovas "Imagining the Balkans" war eine dekonstruktivistische Frontalherausforderung dieser Vorgehensweise. Das Buch stellte nicht nur die Raumkonstruktion "Balkan / Südosteuropa" unter Ideologieverdacht, sondern schien die Möglichkeit oder Sinnhaftigkeit jeglicher Raumkonstruktion anzuzweifeln. Seit 1997 wurde diese Herausforderung in allen größeren Publikationen zur Gesamtgeschichte Südosteuropas mehr oder weniger angenommen, wie bereits in den zwei 1999 erschienenen Handbüchern "Südosteuropa" (hg. Magarditsch Hatschikjan / Stefan Troebst) sowie "Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas" (hg. Harald Roth) erkennbar ist.
Es war jedoch Holm Sundhaussen, der Mitte der 1990er Jahre zur Definition des Balkans als historische Geschichtsregion ein Cluster von Merkmalen vorgeschlagen hat, die zusammengenommen intraregional genügend Gemeinsamkeiten und interregional genügend Unterschiede konstituieren: Instabilität der Siedlungsverhältnisse und ethnische Gemengelage auf kleinstem Raum; verschiedene Erbschaften seit der Antike; gesellschaftliche und wirtschaftliche "Rückständigkeit" in der Neuzeit; eine Nationalstaats- und Nationsbildung, die von erbitterter Konkurrenz zueinander charakterisiert waren; durch patriarchale Mentalitäten und Mythen geprägte politische Kultur sowie der Balkan als Objekt der Großmächte.
Da Sundhaussen die Rolle der Religion bzw. der Kirchen bezüglich der Hervorbringung wichtiger Institutionen wie Herrschaft und Gewaltenteilung, Familie und Gesellschaft, Formen des Eigentums usw. als besonders geschichtsmächtig einschätzt, verläuft ihm zufolge die nördliche Grenze der Geschichtsregion entlang der Konfessionsgrenze zwischen orthodoxem Balkan und einem katholisch bzw. evangelisch geprägten Übergangsraum zu West- und Ostmitteleuropa (bestehend z. B. aus Kroatien, Slowenien, Siebenbürgen).
Die Debatte zwischen Todorova und Sundhaussen hat in der Geschichtsschreibung zu Südosteuropa zu der weithin geteilten Überzeugung geführt, dass sich Geschichte nie in starren Grenzen abspielt und dementsprechend weder in nationalen, noch in geschichtsregionalen Containern erzählt werden sollte (Béatrice von Hirschhausen u. a. 2015).
Negative und positive Balkanbilder
Für die Geschichte Südosteuropas und der Balkanbilder mag es symptomatisch erscheinen, dass sie bereits mit einer geographischen Fehlannahme beginnen, nämlich derjenigen bereits in der Antike üblichen, wonach sich das Balkangebirge von den slowenischen Alpen bis zum Schwarzen Meer erstrecke. Während die Balkanhalbinsel von drei Seiten von Meeren klar abgegrenzt erscheint, verweist die irrige Annahme einer ebenso klaren Nordgrenze seit der Frühen Neuzeit auf das problematische Verhältnis des Raumes zu Mittel- und Westeuropa.
Für die politische Geschichte des Raumes ist kennzeichnend, dass nach griechischen, bulgarischen und serbischen Versuchen in der Spätantike und dem Mittelalter, Großreiche mit balkanischem Zentrum zu errichten, später nichts mehr in der Art geschah. Seit mindestens 600 Jahren ist der Balkan und Südosteuropa als Peripherie von politischen Reichsbildungen sowie von wirtschaftlichen Integrationsprojekten einzuschätzen, die ihre Zentren außerhalb der Region haben.
Äußerst folgenreich war die Interner Link: Ablösung des Byzantinischen durch das Osmanische Reich seit dem 14. Jahrhundert mit der symbolischen Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453, das später Istanbul genannt wurde. Die Durchdringung und Überformung der südosteuropäischen Gesellschaften mit osmanischen Herrschafts- und Alltagspraktiken über mehrere hundert Jahre war der Ansatzpunkt, an dem die Zugehörigkeit des Balkans zu Europa angezweifelt wurde. Ihre Gesellschaften hätten unter osmanischer Herrschaft an den wichtigen kulturellen Strömungen der Renaissance, des Barocks und der Aufklärung nicht oder nur am Rande teilgehabt; es habe sich in Ermangelung von autonomen Städten kein nennenswertes Bürgertum herausgebildet; das Bildungsniveau der Bevölkerung sei äußerst gering; die Wirtschaftsentwicklung sei auf dem Stand der primitiven Nahrungsmittelproduktion und -konsumption stehen geblieben; die politischen Kulturen seien durch Klientelismus und Korruption und die Qualität der staatlichen Verwaltungen daher durch Ineffizienz geprägt.
Dieser Defizitgeschichte steht interessanterweise eine Positivgeschichte in der Region selbst gegenüber, deren Zweck es ist, die Europäizität des Balkans und Südosteuropas zu belegen. Das älteste Erzählmuster ist dasjenige der "Verteidiger Europas und der Christenheit" (Antemurale Christianitatis), wonach erst der hinhaltende Widerstand der südosteuropäischen Völker gegen den Vormarsch des Islams Richtung Wien Mittel- und Westeuropa Zeit und Gelegenheit zur Herausbildung der genannten Errungenschaften gegeben habe.
Im Prozess der Staats- und Nationsbildung im 19. Jahrhundert ebenso wie in der Zeit zwischen den Weltkriegen und nach 1989/91 wurde jedoch auch eine Lesart der Beziehungen zu Europa vertreten, die das Eigene positiv herausstellt. Demnach habe die osmanische Fremdherrschaft die orthodoxen Christen des Balkans paradoxerweise vor manchen Fehlentwicklungen der Moderne bewahrt, insbesondere vor einer Entzweiung von Kirche und Staat, einer rein rationalen und materialistischen Lebensauffassung sowie einem entfesselten Urbanismus und Industrialismus. In politischer Hinsicht seien die Völker Südosteuropas von einem intensiven Drang nach Selbständigkeit und eigener Staatlichkeit beseelt, was sich in ihren langen und heroischen Kämpfen insbesondere gegen das Osmanische und das Habsburgische Reich gezeigt habe, die schließlich zur Errichtung von Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg geführt hat. Wenn es dabei und infolgedessen zu militärischer und interethnischer Gewalt gekommen sei, so sei diese im europäischen und globalen Vergleich weder im Ausmaß, noch im Charakter besonders.
Das Bild von der "Rückkehr nach Europa" wird auch nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus gezeichnet, wobei der Sowjetunion die Rolle einer imperialen Hegemonialmacht zukommt, die die Gesellschaften der Region in kommunistischer Gefangenschaft gehalten habe. Paradoxerweise ist mit Jugoslawien in den 1990er Jahren gerade jenes Land zerfallen, dass sich außen- wie innenpolitisch bereits im Kalten Krieg am weitesten von der Sowjetunion emanzipiert hatte.
Bei den negativen wie positiven Balkanbildern ist augenfällig, dass sich Fremd- und Selbstbeschreibungen auf Europa beziehen, genauer auf Vorstellungen, von einer europäischen Normalität. Weniger wird jedoch beachtet, dass nicht erst seit dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens eine Art Wettbewerb der südosteuropäischen Staaten und Gesellschaften untereinander stattfindet. Und zwar zum einen darum, wer näher an dem angenommenen europäischen Normalzustand sei, zum anderen aber auch darum, wer länger, intensiver und erfolgreicher Europa gegen seine Feinde verteidigt habe.
Wie werden Erbschaften vererbt?
In allen Balkandarstellungen kommt dem Osmanischen Reich eine prägende Rolle für die Geschichte des Raumes und der einzelnen Nationen zu. Als "osmanisches Erbe" werden in der Politik zahlreiche gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Defizite, wie Korruption von Politikern, Unfähigkeit der Verwaltung, das Fehlen von Grundbüchern etc. bezeichnet und entschuldigt. Dieses Phänomen ist besonders in Griechenland, Bulgarien, Serbien und Rumänien anzutreffen. In den nördlichen Ländern und Regionen Südosteuropas, wie in Slowenien, Kroatien oder in der serbischen Vojvodina und im rumänischen Siebenbürgen, die für längere Zeit und bis 1918 Teil des Habsburger Reiches gewesen waren, ist eine andere Bezugnahme dominant. Nämlich diejenige auf Wien und das Habsburger Reich bzw. auf den deutschsprachigen Raum sowie auf Mitteleuropa allgemein. Darin schwingt die Behauptung mit, habsburgisches Erbe sei osmanischem Erbe entschieden vorzuziehen, denn es enthalte Werte wie Arbeitsfleiß und Sparsamkeit sowie Ehrlichkeit und Verlässlichkeit.
In den Zuschreibungen bestimmter Phänomene zum habsburgischen und osmanischen Erbe ist ein Kern Wahrheit enthalten, denn in der Tat förderte der Wiener Staatsaufbau mehr eine effiziente Verwaltung, Politik und Justiz ohne Ansehen der Person als dies für Istanbul der Fall war. Bleiben aber einmal aufgebaute Strukturen und Institutionen für immer und ewig prägend für das Verhalten der Menschen? Auch wenn mehr als hundert Jahre ins Land gegangen sind und wenn die politischen Umstände sich nach dem Untergang des Osmanischen und des Habsburgerreiches sich von Nationalstaatlichkeit in der Zeit zwischen den Weltkriegen, zum Staatssozialismus nach 1945 und nun zu europäischer Integration mehrfach gewandelt haben?
Nach dem Untergang des Staatsozialismus bildete das habsburgische Erbe für die nördlichen Regionen Südosteuropas einen räumlich und mental naheliegenden und attraktiven Orientierungspunkt. In dem Sinne, dass der post-kommunistische Wandel zu einem Zustand führen müsse, der einstmals in der eigenen Region bereits erreicht war – eine Rückkehr nach Europa durch eine Rückkehr zu sich selbst. Strukturen vererben sich also nicht ohne weiteres über Zeit und Raum, sie werden vielmehr durch menschliches Handeln weitergegeben oder verändert.
Dies sei mit einem Beispiel aus Rumänien verdeutlicht. Entgegen allen Erwartungen wurde Klaus Johannis Interner Link: 2014 zum rumänischen Präsidenten und Interner Link: 2019 zum zweiten Mal ins höchste Amt gewählt. Gegen ihn sprach vornehmlich, dass er zu der Interner Link: mittlerweile sehr kleinen deutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen im Land gehört, was sein damaliger Gegenkandidat ihm mehr oder minder subtil auch zum Vorwurf machte. Für ihn sprach, dass er seit 2000 als mehrmals mit großen Mehrheiten wiedergewählter Bürgermeister die siebenbürgische Stadt Sibiu (Hermannstadt) weitgehend skandalfrei geführt hatte. In seiner Amtszeit prosperierten die Stadt und das Umland wirtschaftlich wie kulturell, was durch Johannis‘ überparteilichen Politik- und Verwaltungsstil erheblich befördert wurde.
Im Präsidentschaftswahlkampf lautete sein zentraler Slogan "Das Rumänien der gut verrichteten Dinge", womit er erkennbar auf Qualitäten und Eigenschaften anspielte, die in der mentalen Landkarte des Landes vornehmlich der ehemals habsburgischen Region Siebenbürgen und insbesondere den Deutschen (als "deutsche Wertarbeit") zugeschrieben werden. Dass er mit diesem regionalistischem Ansatz zum rumänischen Präsidenten gewählt wurde, deutet auf die Wirkmächtigkeit von Erbschaften hin – als vorliegende Strukturen einerseits, die anderseits erst durch menschliches Denken und Handeln wieder angestrebt und reaktiviert werden.
Wie "rückständig" ist Südosteuropa wirtschaftlich?
Diese Frage überhaupt aufzuwerfen, setzt einen Vergleichsmaßstab voraus. In der wirtschaftshistorischen Forschung aber auch für viele Südosteuropäer besteht dieser in den wirtschaftlichen Erfolgen und dem Lebensstandard im westlichen Europa, wie er insbesondere im Zuge der europäischen Integration nach 1945 erreicht wurde. In langer Perspektive haben Wirtschaftshistoriker wie Holm Sundhaussen und Bogdan Murgescu gezeigt, dass sich der Rückstand südosteuropäischer Staaten wie Serbien und Rumänien zu europäischen Durchschnittswerten bereits seit dem 18. Jahrhundert stark vergrößert hat. Während Länder mit ähnlich landwirtschaftlichem Gepräge wie Dänemark und Irland Prozesse des aufholenden Wachstums starteten, fiel Südosteuropa weiter zurück.
In der älteren Forschung sind die Gründe dafür zuweilen im Verharren der ländlichen Bevölkerung in naturalwirtschaftlicher Produktion gesucht worden, in ihrem Konservatismus bezüglich moderner Anbaumethoden. Demgegenüber haben Untersuchungen in imperial- und globalhistorischer Perspektive darauf hingewiesen, dass Südosteuropa in besonders ungünstiger Weise in die Weltwirtschaft integriert wurde. Nämlich allein als Lieferant von Rohstoffen (Getreide und andere agrarische Produkte, Holz, Rohöl) und in einer Position, in der die Preise von den westeuropäischen Zentren bestimmt werden konnten. Weder die erstgenannte kulturalistische noch die zweite dependenztheoretische Erklärung können jedoch vollständig überzeugen. Denn detaillierte Studien haben nachgewiesen, dass die Bauern keineswegs in Selbstversorgung verharrten, dass sie vielmehr sich bietende Marktchancen ergriffen und ihre Produktion der Nachfrage anpassten. Hinsichtlich der angenommenen vollkommenen Abhängigkeit der Wirtschaft Südosteuropas von wirtschaftlichen Zentren, wie dem Osmanischen Reich oder Westeuropa, ist augenfällig, dass auch in konjunkturell und politischen günstigen Zeiten, keine durchschlagenden Prozesse der aufholenden Modernisierung gelangen.
Auch in der Wirtschaft ist es wichtig, Akteure in nationalen wie internationalen Strukturen zusammen zu betrachten. Und dies muss im ländlichen Raum beginnen, denn bis in die Gegenwart leben in Südosteuropa im europäischen Vergleich sehr viele Menschen von der Landwirtschaft. Auf dem Land hat sich entschieden, ob Modernisierungsanläufe zu stabilem Wachstum führten. Hier ist es geboten, auf die besondere Verantwortung und letztlich das weitgehende Versagen der südosteuropäischen Eliten hinzuweisen. Nur punktuell gelang es ihnen, Rechts- und Erwartungssicherheit für das Handeln der Bauern herzustellen. Entsprechend niedrig war die Neigung von Banken, Kapital zu leistbaren Konditionen zur Verfügung zu stellen. Schließlich wurden weder in die allgemeine, noch in die agronomische Bildung auf dem Land genug investiert. Die Vernachlässigung der Bauern und der Landwirtschaft als Modernisierungsmotoren setzte sich auch in der staatssozialistischen Periode fort. Der Arbeit der Bauern wurde nun ganz intensiv in den Dienst einer staatlich definierten Industrialisierung gestellt.
Heute sind die Gesellschaften der südosteuropäischen Staaten so intensiv wie niemals vorher in einen gesamteuropäischen Rahmen integriert. Die gilt insbesondere für die ländlichen Räume der EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien, von wo erhebliche Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung nach West- und Mitteleuropa migriert sind, wo einige von ihnen schlecht entlohnten und körperlich anstrengenden Tätigkeiten nachgehen.
Wie "gewalttätig" ist der Balkan?
Hätte man Mitte der 1980er Jahre eine Wette abgeschlossen, welcher Konflikt in Südosteuropa bald eskalieren würde, so hätten viele Beobachter auf den ungarisch-rumänischen Streit um Siebenbürgen getippt. Während Budapest Rumänien beschuldigte, die ethnischen Ungarn im Land zu unterdrücken, beschuldigte Bukarest Ungarn, die Minderheitenfrage als Hebel für einen Anschluss Siebenbürgens an Ungarn zu missbrauchen.
Die Lage spitzte sich aber nicht dort, sondern im sozialistischen Jugoslawien derart zu, dass das Land in mehreren Phasen seit den 1990er Jahren in seine bundesstaatlichen Einzelteile zerfiel. Insbesondere die Kämpfe der Serben gegen die Kroaten und muslimischen Bosnier wurden in den Medien und populär-wissenschaftlichen Darstellungen als Wiederkehr einer "typisch balkanischen" Kriegsführung dargestellt. Dabei schwang die Behauptung mit, aufgrund bestimmter kultureller Eigenschaften seien die Balkanbewohner dazu verurteilt, Konflikte immer wieder auf eine besonders grausame und barbarische Art und Weise auszutragen. Prägend dafür war das 1993 erschienene "Balkan Ghosts" des US-amerikanischen Publizisten Robert D. Kaplan.
Diese Berichterstattung nahm Bezug auf die Interner Link: Balkankriege 1912/13, in denen in einer ersten Phase Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland zunächst gemeinsam gegen das Osmanische Reich kämpften. In einer zweiten Phase kämpften dann die Verbündeten sowie Rumänien und der Kriegsverlierer des ersten Balkankriegs, das Osmanische Reich, gemeinsam gegen Bulgarien. Die Balkankriege können einerseits als Kulminationspunkt einer längeren Kette von Aufständen gelten, aber auch als Beginn einer neueren Tradition der balkanischen Nationalstaaten im Umgang mit ethnischen Minderheiten. Maria Todorova betont, dass die Balkankriege darüber hinaus dasjenige Ereignis waren, an dem ein negatives Balkanbild in West- und Mitteleuropa feste Konturen gewann.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gelang Griechenland, Serbien und Bulgarien die Interner Link: Abspaltung vom Osmanischen Reich. Dies erfolgte jedoch nicht auf einen Schlag, vielmehr etappenweise, Region nach Region in mehreren Aufständen. Naturgemäß standen den Aufständischen keine wohlorganisierten Armeen zur Verfügung, so dass ihre Kriegsführung auf Freischärlern basierte. Diese agierten in autonomen Gruppen, mit eigenen Waffen und in Zivilkleidung. Ihre Angriffe richteten sich nicht nur gegen das osmanische Militär und Gendarmerie, sondern auch gegen Verwaltungsangehörige sowie gegen die muslimische Zivilbevölkerung. Aufgrund der etappenweisen Zurückdrängung des Osmanischen Reiches vom Balkan entwickelten sich Freischaren zu einer festen Tradition, die auch fortgeführt wurde, als die Kernnationalstaaten bereits über feste Armeen verfügten. Das Problem dieser Kriegsführung bestand darin, dass eine Verwischung der Grenze zwischen Kämpfern und Zivilisten vorgenommen wurde, und zwar sowohl in den eigenen Verbänden als auch bei den Angriffszielen.
Neben den strategischen Zwängen waren systematische Angriffe auf Zivilbevölkerung jedoch auch Ausdruck spezifischer Identitäts- und Raumvorstellungen. Demnach verdanke sich das Vorhandensein von Muslimen auf dem Balkan allein einer zwangsweisen Islamisierung balkanischer Christen. Die Vorstellung der "Befreiung vom osmanischen Joch" bezog sich also auf das Territorium, aber auch auf die Bevölkerung, die entweder zu ihrer "eigentlichen Identität" zurückkehren konnte oder vertrieben wurde. Diese Praktiken der "ethnischen Säuberung" traten in den Balkankriegen sowie in den jugoslawischen Auflösungskriegen systematisch auf.
Vorstellungen von der Rückkehr zur eigentlichen Identität richteten sich nicht nur gegen muslimische Slawen und sie waren nicht nur kriegs- oder aufstandsbedingte Exzesse. Unter anderem war die Zugehörigkeit der Makedonier zwischen Serbien und Bulgarien, die der Kosovaren zwischen Serbien und Albanien oder die der muslimischen Bosnier zwischen Serbien und Kroatien umstritten. Die rumänischen Fürstentümer waren niemals fester Teil des Osmanischen Reiches gewesen und es wurden keine Muslime angesiedelt. Daher entwickelte sich dort keine Aufstandstradition der Freischärler und auch keine antimuslimische Gewalt. Nach dem Ersten Weltkrieg führte die Vorstellung, wonach die neuen Staaten nun legitimerweise eine Bevölkerungspolitik betreiben dürften, die auf eine ethnische Homogenisierung abzielte, zu einer starken Angleichung der Minderheitenpolitik in Südosteuropa.
Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus sind Vorstellungen von einheitlicher ethnischer Identität als Basis von Staatsvölkern und Staatsgrenzen wieder zu einem wichtigen politischen Argument geworden. Insbesondere die jugoslawischen Auflösungskriege haben zu einer Reihe von gesellschaftlichen und bilateralen Konflikten in und zwischen den neuen Staaten geführt – besonders ausgeprägt ist dies in Interner Link: Bosnien-Herzegowina der Fall, aber auch im Verhältnis Interner Link: Nordmazedoniens zu Interner Link: Griechenland und Interner Link: Bulgarien. Die Europäische Union ist dabei in aller Regel involviert, sei es als direkte Akteurin mit friedensstiftender und staatsaufbauender Mission, sei es dadurch, dass die südosteuropäischen EU-Mitglieder Griechenland und Bulgarien ihre Position missbrauchen, um die Annäherung Nordmazedoniens an die EU zu sabotieren.
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Dr. Dietmar Müller lehrt und forscht an der Universität Leipzig zu Themen der Vergleichenden Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Südosteuropa im europäischen Kontext, zuletzt "Bodeneigentum und Nation. Rumänien, Jugoslawien und Polen im europäischen Vergleich (1918-1948)", Wallstein-Verlag 2020.
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