Romane Dyvesa
Jedes Jahr, in der Regel am ersten Wochenende im Juli, wird in der kleinen, grauen westpommerschen Stadt Gorzów Wielkopolski, die in deutscher Zeit Landsberg an der Warthe hieß, ein farbenfrohes Fest inszeniert. Die "Romane Dyvesa“, die Tage der Roma, entzünden im kleinen Amphitheater ein Feuerwerk an Musik, Tanz und Poesie, das seinesgleichen in Polen sucht. Im Jahre 2014 wurde das Fest deshalb mit einem Sendeplatz im TV Polonia belohnt und landesweit übertragen. Das Programm enthält viel Tradition, aber auch Flamenco oder Freejazz.
Der gute Geist des Festivals ist seit seinem Beginn ein Rom aus Gorzów, der Akkordeonspieler, Tänzer, Choreograph und Schriftsteller Edward Dębicki mit seinem Roma-Ensemble „Terno“. Er empfängt an einem sonnigen Tag bei Tee und Kuchen, zusammen mit seiner Frau Ewa, auf der Terrasse vor einer weißen Villa am Rande der Stadt. Das Gedächtnis des alten Künstlers reicht im intensiven Gespräch weit über die Grenzen Gorzóws hinaus und tief in die Vergangenheit. In jene dunklen Tage als die Roma in Polen von den Deutschen verfolgt und zu Tode gehetzt wurden.
In Gorzów sind die Roma dagegen offensichtlich angekommen. Es gibt Schulbücher in Romani und die Stadt schmückt sich gerne mit dem Mythos als kulturelles Zentrum der Roma. Dębicki, der Meister ihrer Musik und Hüter ihrer kulturellen Überlieferungen wird von Deutschen und Polen geschätzt und geehrt. Die Stadt war in den letzten beiden Jahrzehnten häufig Veranstaltungsort für Konferenzen, die die prekäre Lage der Roma in Polen und Europa zum Thema hatten.
Internationale Prominenz von Ethnologen, und Kulturwissenschaftlern gibt sich hier bis heute die Klinke in die Hand und doch gab es andere Tage auch im Leben Edward Dębickis. In seinen Erinnerungen hat er sie beschworen unter dem Titel "Totenvogel“, in Romani "muło cirykało“. Der Totenvogel spielt eine dunkle Rolle in der geheimen Mythologie der Roma. Debicki wählte diesen Bezug, weil fast seine ganze Familie von den Deutschen ermordet wurde.
Papusza
Dieser Wille zur tiefen Reflexion kultureller Überlieferungen und der eigenen Geschichte hat mit dem Einfluss einer bedeutenden, in Westeuropa fast unbekannten Frau zu tun. In einem Lager der Polska Roma, im südöstlichen Polen, in Wolhynien, das nach den Grenzverschiebungen der Nachkriegsjahre erst zur Sowjetunion, heute zur Ukraine gehört, wurde zwischen 1908 und 1910 - der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt - die Poetin Bronisława Wajs geboren, deren Roma-Name „Papusza“, die Puppe war.
Sie gehört neben dem französischen Rom Matéo Maximoff (1917-1999) zu den wenigen Schriftstellern der Roma, die mit ihrer Literatur in der Sprache ihrer Heimatländer Anerkennung fanden. Sie wurde, wie damals oft üblich, früh mit dem Harfenspieler Dionizy Wajs verheiratet und begann bald Verse zur Musik, also Lieder zu ersinnen. Bereits als junges Mädchen, versuchte sie, mit der Hilfe einer jüdischen Ladenbesitzerin lesen und schreiben zu lernen. Dies war für eine Romni ungewöhnlich, galt fast als "unanständig“ und wurde auch von ihrer Familie abfällig registriert.
Die Geschichte der Papusza, die zu den in Planwagen umherreisenden und wandernden polnischen Tiefland - Roma gehörte, ist ohne die Geschichte Polens im Guten und im Bösen nicht zu verstehen. Papuszas Lieder wurden in der oralen Kultur am Feuer gesungen und wären wohl genauso vergessen, wie die Melodien, hätte nicht die absurde Politik der polnischen Stalinisten nach dem Zweiten Weltkrieg den Schriftsteller und Ethnologen Jerzy Ficowski (1924-2006) in das Lager der Fahrenden gebracht.
Ficowski hatte im bürgerlichen Widerstand der Armia Krajowa (Heimatarmee) gegen die deutsche Besatzung und ihren Terror gekämpft, er war im Warschauer Aufstand von 1944 aktiv und Kriegsgefangener in Deutschland gewesen. Wie vielen Überlebenden der Kämpfe gegen die Deutschen wurde ihm nach dem Krieg von den kommunistischen Machthabern der Prozess gemacht. Unter dem Druck der Verhöre und angedrohter weiterer Verfolgung, getrieben von der berechtigten Angst in den sowjetischen Gulag deportiert zu werden, vertraute er sich Freunden an, die ihn in Sicherheit brachten.
Ausgerechnet bei den marginalisierten, am Rande der Gesellschaft angesiedelten Roma, in der Sippe Papuszas, fand der Verfolgte in den Jahren 1948-1950 Asyl. Ficowski bedankte sich auf seine Weise. Wir schulden dem polnischen Intellektuellen nicht nur die Transkribierung ihrer Verse und die Übersetzung ins Polnische, er verfasste zugleich eine ausführliche ethnographische Studie zur Kultur der Roma in Polen, die bis heute als Standardwerk gilt.
Papuszas Lieder
In den Sümpfen Wolhyniens, versteckt in Erdlöchern, hatten die Roma die Zeit der Verfolgung überlebt. Zeit des Hungers, ständiger Todesgefahr, lebenslanger Traumatisierung, die Angst nach "Assfiz“ - so Auschwitz in der Sprache der Roma - in die Vernichtung deportiert zu werden, vom "Porajmos“ verschlungen zu werden, wie der Holocaust unter ihnen heißt.
Einige von Papuszas stärksten und wirkungsmächtigsten Versen speisen sich aus dieser Erfahrung und beziehen die verfolgten Juden mit ein:
QuellentextBlutige Tränen, was wir unter den Deutschen in Wolhynien im 43. und 44. Jahr erduldet
Im Wald ohne Wasser und Feuer - ein Hungern.
Wo schlafen die Kinder? Es gibt keine Zelte.
Wir dürfen des Nachts uns kein Feuer entfachen,
bei Tag gäb der Rauch wohl den Deutschen ein Zeichen.
Wir leben mit Kindern in Winterskälte?
Alle sind barfuß...
[…]
Tag und Tag gib's nichts zu essen,
auch schlafen gehen alle hungrig.
Die Augen wollen sich nicht schließen,
schau'n in die Sterne ...
Gott, wie schön ist's zu leben.
Die Deutschen woll'n unser Leben.
Ach, du mein Sternchen!
Wie scheinst Du so mächtig!
Blende die Deutschen!
Greif ihre krummen Wege!
Zeig keinen guten,
weis ihnen den falschen,
damit leben kann das Juden- und Zigeunerkind!
In dieser Frostnacht stirbt die kleine Tochter.
Vier Tage später, vier Söhnchen der Mutter.
Begraben im Schnee.
Quelle: "Papuszas gesprochene Lieder", Karin Wolff, 2011
Aus der Zeit der Wanderungen hat die Romni aber auch ganz andere Erinnerungen an die Natur und die Geborgenheit in den Wäldern und den Flusstälern Polens bewahrt:
QuellentextMeine Erde, ich bin deine Tochter
Meine Erde, mein Wald,
ich bin deine Tochter.
Die Wälder singen, die Erde singt.
Der Fluss und ich fügen diesen Sang
zu einem Zigeunerlied.
Ich geh in die Berge,
die hohen Berge,
leg einen Rock an, einen prächtigen, schönen,
aus Blumen gefertigt
und rufe laut, wie mir Kraft zu Gebote:
Polnische Erde, weiße und rote!
Meine Erde, du schwammst in Tränen,
warst schmerzdurchbohrt,
Erde, du hast im Schlaf geweint
wie ein Zigeunerkleines
im Moos verborgen.
Verzeih mir, Erde,
meine schlechten Lieder,
die Zigeunerzeichen.
Und bette deinen, meinen Leib zusammen,
nach allem, wenn ich sterbe, nimm du mich auf!
Erde schwarzer Wälder,
dir bin ich entsprossen,
in deinem Moos erblickte ich die Welt.
Und was es gab an kleinen Lebewesen –
alle bissen sie und stachen
meinen jungen Leib.
Erde, mit Tränen und Liedern
hast du mich schlafen gelegt.
Erde, in Böses und Gutes hast du mich verschlagen.
Erde, an dich glaub ich fest,
für dich kann ich sterben.
Keiner nimmt dich mir fort,
keinem geb ich dich wieder.
Quelle: "Papuszas gesprochene Lieder", Karin Wolff, 2011
Während Ficowski wieder in die Welt der polnischen Sesshaften zurückkehrte und eine Karriere als Ethnologe, Soziologe und Literaturwissenschaftler begann, steuerte das Leben Papuszas unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu. Die Publikation ihrer Lyrik im Zusammenhang mit einem großen Werk Ficowskis über die polnischen Roma, ihre Geschichte und ihre Bräuche wurden von ihrer Sippe als Verrat verstanden und führten zu ihrem Ausschluss aus der Gemeinschaft und zu einem völligen psychischen Kollaps als Ausdruck eines Kulturkonflikts, den Papusza gleichsam in ihrer Person auszuhalten versuchte, aber der sie zerriss.
Es folgten Aufenthalte in der Psychiatrie, das Verstummen als Dichterin, das 17 Jahre dauerte und es entstand ein tiefer innerer Zweifel am Sinn ihrer Fähigkeit lesen, schreiben und dichten zu können. Sie führte ihr Unglück in schwarzen Stunden eben darauf zurück und fasste doch alles in einer Klage zusammen, die auf der einen Seite eine große Frauenklage ist, aber gleichzeitig eine Kritik an ihren Verächtern unter den Roma:
QuellentextO große, arme Zigeuner Wie sollt ihr leben, hier auf dieser Welt
Lesen könnt ihr nicht und auch nicht schreiben
Nie wird aus euch einmal ‚was werden‘
Einen nach dem Anderen rafft der Tod hinweg
Und gar nichts bleibt von euch
Ich aber schreibe, wie ich kann
Auch wenn ich oftmals Tränen weine
Und hinterlasse ‚was‘ den Menschen
Die Welt erkennt mich und erinnert sich
Daß da einmal eine Zigeunerin war
Unglücklich und arm
Die lesen und schreiben
Und Zigeunerlieder machen wollte.
[…]
Quelle: "Papuszas gesprochene Lieder", Karin Wolff, 2011
Papusza war auch die Chronistin jenes einschneidenden Umbruchs in der Geschichte der Polska Roma, der als der "Große Halt“ bezeichnet wird, d.h. die zwangsweise Sesshaftwerdung der Fahrenden. Wie in anderen Staaten Osteuropas gingen die bald etablierten kommunistischen Diktaturen seit Anfang der 50er Jahre dazu über, ihre rigiden Vorstellungen von gesellschaftlicher Integration und Fortschritt mithilfe staatlicher Gewalt auf die Marginalisierten, die Roma zu projizieren und sie in Häuser, Plattenbauten und Fabriken zu zwingen. In der Sprache der Bürokratie hieß dies 1952 in Polen "Staatshilfe beim Übergang in die sesshafte Lebensweise“.
Obwohl im Prinzip Anhängerin der Ansiedlung, die auch Eingliederung in staatliche Bildung, Erlernen von lesen und schreiben versprach, hat Papusza diesen Abschied von der jahrhundertealten Tradition tieftraurig als Verlust besungen:
QuellentextDas Wasser, das wandert
Längst entschwunden sind die Zeiten
der Zigeuner, die gewandert.
Ich aber seh sie, hurtig wie Wasser,
stark und durchscheinend.
Man kann es hören,
wie's wandert,
wie's Lust hat zu reden.
Aber das Arme – es kennt keine Sprache
außer dem Rauschen und Silbergeplätscher.
Nur das Pferd auf der Weide
hört und versteht sein Geraune.
Doch schaut's nach ihm sich nicht um,
flieht eilends, läuft weiter,
wo niemand es ausspäht,
das Wasser, das wandert.
Quelle: "Papuszas gesprochene Lieder", Karin Wolff, 2011
In diesen Jahren der Repression kommen die Roma aus der Wajs-Sippe nach Gorzów und werden hier in der Tat sesshaft. Dem jungen Edward Dębicki, der mit Papusza verwandt ist, gelingt es, in die dortige Musikschule aufgenommen zu werden, die er fünf Jahre lang besucht und erfolgreich absolviert. Die Dichterin wird hier unterbrochen durch Aufenthalte in der Psychiatrie und staatliche Ehrungen fast dreißig Jahre leben. Dann zieht die völlig vereinsamte Frau zu ihrer Schwester in die Kleinstadt Inowrocław. Sie stirbt 1987 und liegt dort begraben.
Zur sozialen Lage der Roma in Polen: „Unkraut“ im Schrebergarten des Sozialismus
In seinem soziologischen Standardwerk "Moderne und Ambivalenz“ hat der polnische Soziologe Zygmunt Bauman, die Herstellung von Eindeutigkeit, rationaler Ordnung, sowie ethnischer Homogenisierung bzw. Assimilation als Geist der Moderne und der Modernisierung bezeichnet. Der Staat tritt in diesem Kontext mit „Gärtner-Züchter-Chirurgen-Ambitionen“ auf. In der europäischen Moderne richtete sich dieser Trend zur Abschaffung von Mehrdeutigkeit, Vielfalt und Kontingenz zuvörderst gegen zwei Gruppen: Juden und "Zigeuner“.
Der polnische Staat setzte deshalb im März 1964 seine Kampagne zur Einhegung und Disziplinierung der Fahrenden mit Gewalt fort. "Im Frühjahr 1964 wurden die Zigeunerwagen endgültig angehalten: ‚Das sah unterschiedlich aus. Manchmal umzingelte die Miliz das Lager und nahm die ganze Sippe aufs Revier mit. Die Männer mussten sich nackt ausziehen, die Frauen halb. Sie schauten nach besonderen Kennzeichen, guckten in die Zähne, befahlen die Haare anzuheben. Danach wurden sie auf einen Schemel gesetzt und man machte Aufnahmen – von vorn, von den Seiten. Sie nahmen alle mit, nicht nur den, der etwas angerichtet hatte.‘ Die Wagen wurden in Brand gesetzt, die Roma mit Gewalt angesiedelt.“
Viele Roma gerade aus der Gruppe der Polska Roma widersetzen sich dem Zwang, noch bis Anfang der 80er Jahre fuhren Wagen. Jedes Frühjahr, wenn die Zeit der Frühjahrslager begann, kam es zu Konflikten mit der Polizei. Der Arbeit in den Kombinaten verweigerten sich die Meisten und begannen mit Erfolg als Klein- und Zwischenhändler zu arbeiten. Sie verdienten gut, auch in der Zeit des Mangels, was die Spannungen zwischen den Roma und der polnischen Bevölkerung verstärkten. Ausgerechnet in Auschwitz (poln. Oświęcim), wo viele Roma-Familien wohnten kam es 1981 zu schweren Ausschreitungen gegen die Minderheit. Autos und Häuser brannten und am 13.12.1981, am Tag, an dem in Polen die Armee die Macht übernahm, wurden über 100 Roma, polnische Staatsbürger, nach Schweden und in die Bundesrepublik Deutschland zwangsausgesiedelt und viele gleichzeitig ausgebürgert.
Erst nach den freien Wahlen 1989 kehrten einige nach Auschwitz zurück. Aber auch unter den neuen Verhältnisse des freien Polen kam es 1991 in Mława, nordwestlich von Warschau zu einem neuerlichen Angriff auf Villen von Roma im so genannten „Pogrom von Mława“. Diesmal führte jedoch die Attacke unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zur Selbstorganisation der Roma mit der Gründung einer Vereinigung mit Sitz in Auschwitz unter dem Vorsitz von Andrzej Mirga. Weitere Vereinigungen, Zeitungen, Institute und Museen folgten.
Heute leben geschätzt noch ca. 20.000 Roma in Polen. Die Arbeitslosigkeit unter Roma liegt in einigen Regionen fast bei 90 Prozent, ihre schulische Bildung und berufliche Qualifikation ist niedrig. Außerdem existiert häufig ein belastender Generationenkonflikt zwischen den Alten, die noch am Sittengesetz der Roma mit seinen vormodernen, patriarchalischen Festlegungen orientiert sind und einer Jugend, die der Konsumgesellschaft bisher als Verlierer gegenübersteht.
Zwischen Istanbul und Dublin
Edward Dębicki sind diese Widersprüche bewusst, die prekäre Situation seiner Leute, verdrängt der Musiker nicht:
Er unterschreibt deswegen ausdrücklich die Botschaft der Romane Dyvesa in Gorzów Wielkopolski, dass Europa erst dann wirklich zivilisiert ist, wenn Roma ohne Probleme zwischen Istanbul und Dublin umherreisen können.
Das Jahr 2014 war für die Roma in Polen durch zwei denkwürdige Erinnerungsmomente charakterisiert: Die Zwangsmaßnahmen vom Frühjahr 1964 jährten sich zum fünfzigsten Mal und am 2. August 1944 wurde das so genannte "Zigeunerlager“ in Auschwitz "aufgelöst“ und die letzten fast 3000 Gefangenen wurden im Gas ermordet. Der erste Gedenktag wurde im August 2014 mit einer großen wissenschaftlichen Konferenz in Gorzów begangen, der Tag der Vernichtung mit einer Gedenkfeier in Auschwitz genau 70 Jahre nach der Auslöschung der letzten Überlebenden in "Assfiz“.
Europa hat im Verlauf der Moderne die „Zigeuner“ erfunden: Als „Operetten-Zigeuner“, als „dämonische Zigeuner“ und als „kriminelle Zigeuner“, wie Dębicki im Gespräch sarkastisch bemerkt. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Ausdehnung der EU nach Osten, hat Europa mit wenig Erfolg die Roma als Objekt internationaler Sozialarbeit erfunden. Die Konstruktionsversuche der "Gadsche“ folgen dabei in der Regel den von Zygmunt Bauman aufgespürten Regeln der staatlichen Gärtner. Die Geschichte der Papusza kommt darin nicht vor.