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"Eine Geschichte von Klischees und Vorurteilen" | Sinti und Roma in Europa | bpb.de

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"Eine Geschichte von Klischees und Vorurteilen" Ein Gespräch mit Klaus-Michael Bogdal über die Lage der Sinti und Roma in Europa

Tobias Asmuth Klaus-Michael Bogdal

/ 7 Minuten zu lesen

Seit vielen Jahren erforscht Klaus-Michael Bogdal das Bild der Sinti und Roma in Europa. Sein Fazit: Der "Zigeuner" erweist sich als eines der langlebigsten europäischen Klischees. Über die Strukturen des Roma-Hasses, die Mechanismen der Ausgrenzung und die Aktualität diskriminierender Fremdbilder.

(© Paula Bulling)

Warum wurden und werden leider vielerorts immer noch Angehörige der Romvölker reflexartig als Gefahr wahrgenommen, sobald sie irgendwo auftauchen?

Für die europäischen Mehrheitsvölker sind sie das Andere schlechthin. Vor jeder Erfahrung mit einzelnen Menschen steht die Gewissheit, schon alles über "Zigeuner" zu wissen. Gefahr drohe deshalb, weil man sicher ist, zur Zivilisation unfähigen "Wilden" mit einem angeborenen Wandertrieb gegenüber zu stehen, Parasiten und Betrügern zu begegnen, denen man nicht vertrauen darf. Wir haben es mit einem nur schwer zu erschütternden Unwissen zu tun, das darauf hinaus läuft, den Roma die Menschenwürde abzusprechen. Vor dem, der nicht "wie wir ist", sondern in allem ganz anders, müssen wir uns hüten, sobald er uns zu nahe kommt und mit uns kommunizieren, arbeiten und leben möchte.

Wie sehen die Signaturen aus, die ihnen eingeschrieben sind?

Es sind in erster Linie Signaturen der Bedrohung. Wir deuten in der Begegnung ihre Armut, ihre mangelnde Gesundheit, ihre Unbildung ebenso wie ihren familiären Zusammenhalt als potenzielle Gefährdungen "unserer" Lebensweise. Dabei ist die Wahrnehmung durchgängig selektiv und begnügt sich mit wenigen Bildern von den nackten, verwahrlosten Kindern über die aufdringlichen Frauen bis zu den "Sippenchefs" mit den Goldzähnen. Die Tatsache, dass es auch Roma gibt, die Handwerker, Anwälte, Künstler, Berufsfußballspieler sind, wird völlig ausgeblendet. Roma, so die vorherrschende Vorstellung, können gar nicht mitten unter uns leben. Sie kommen stets von außen, obwohl sie seit sechshundert Jahren unter uns leben, aus dem Osten wie die Hunnen und Türken, sind Nomaden, Schmarotzer, Kriminelle, die in "unsere" Gesellschaft eindringen wollen. Ständig ist die Rede von ihrer Liebe zum Schmutz, ihrer fehlenden Moral und von ihrem zerstörerischen Umgang mit materiellen Ressourcen.

Wie kam es dazu, dass ihre Gegenwart und Nähe nicht geduldet werden und ein Zusammenleben undenkbar erschien?

Das ist eine Entwicklung, die sich über einen langen Zeitraum in unterschiedlichen Phasen vollzieht. Am Anfang spielt die Religion eine wichtige Rolle. Roma werden verdächtigt, Spione der Türken zu sein, Ungläubige, Heiden oder gar Abgesandte des Antichristen, die über magische Kräfte verfügen. In der Frühen Neuzeit rücken stärker soziale Aspekte in den Vordergrund. In dieser Zeit entstehen die Bilder bettelnder Betrüger und Kinderräuber. Im Zuge der Herausbildung territorialer Nationalstaaten geraten sie in West- und Zentraleuropa als Minderheit im wahrsten Sinne des Wortes zwischen die Fronten und werden von Territorium zu Territorium gejagt. Nun werden auch sesshafte Familien gezwungenermaßen zu Nomaden.

In diese Phase fällt auch der Rückzug vieler Gruppen in Randgebiete des europäischen Kontinents. Vor allem seit der Aufklärung beginnen die europäischen Gesellschaften ihren zivilisatorischen Fortschritt an den, wie sie meinen, zurückgebliebenen "Zigeunern" zu messen. Das gilt für die zentralen Merkmale moderner Gesellschaften: die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins, die Staatenbildung, die Wissenschaft, Technik und Kultur, die bürgerliche Moral, die städtischen Wohnformen, die Esskultur und die Körperhygiene. Man glaubte, dass die Romvölker diese Standards weder anstreben noch jemals erreichen würden. Die Konsequenz aus all dem ist Ausgrenzung und Distanznahme.

Welche Rolle spielt dabei ihre Mobilität?

Die Frage nach der Mobilität bestimmter Stände, Schichten oder Gruppen lässt sich für die Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Moderne nicht generalisierend beantworten. Sie hängt von sozialen Bedingungen ebenso ab wie von geografischen Gegebenheiten. Die Roma-Sklaven in den moldauischen Fürstentümern hatten andere Spielräume als die Fahrenden in England oder die Gitanos in Andalusien. Allerdings betrachtete man die Romvölker seit der Herausbildung der Nationalstaaten vornehmlich als heimat-, ort- und herrenloses Fremdvolk. Aus heutiger Sicht sind eigene und erzwungene Lebensweise nicht leicht auseinanderzuhalten. Klar ist, dass die Nationalstaaten von ihren Bürgern zunehmend eine territoriale Bindung und eine Identifizierung mit dem verlangten, was wir seit dem 19. Jahrhundert Heimat nennen. Nehmen wir das als Orientierungspunkt, dann galten die Roma als Volk ohne Heimatliebe. Immer wieder wurde herausgestellt, dass sie sich wie die Juden jedem Staat gegenüber gleichgültig und illoyal verhalten würden.

Warum erkannten die europäischen Gesellschaften bei diesem Volk die Selbstbezeichnungen wie "Sinti", "Roma" oder "Kalderasch", die schon seit Jahrhunderten bekannt sind, nicht an und blieben stattdessen bei den abwertenden Fremdbezeichnungen wie "Tatare", "Gypsy" oder "Zigeuner"?

Volksnamen und -bezeichnungen sind für die Sprach- und Literaturwissenschaft ein interessantes, aber auch ein "weites" Feld. Verkürzend würde ich auf das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Mehrheiten und Minderheiten verweisen, das sich auch auf sprachlicher Ebene widerspiegelt. Der Fremdbezeichnung kann Gleichgültigkeit ebenso zugrunde liegen wie Missachtung. Der Begriff "Zigeuner" wurde schon sehr früh abwertend gebraucht. Bei vielen Minderheiten wie den Inuit, Sami oder Afroamerikanern musste die Selbstbezeichnung in langen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden. Die Anerkennung ist für sie ein Zeichen dafür, dass zumindest im öffentlichen Raum – in Behörden, der Politik, den Medien – Herabsetzungen nicht mehr geduldet werden und ein respektvoller Umgang verlangt wird. Wer sich in einer Minderheitenposition befindet, hat es mit der Durchsetzung ungleich schwerer als ein souveräner Staat wie zum Beispiel Ceylon, der die Selbstbezeichnung Sri Lanka erzwingen kann. Über Mazedonien wollen wir jetzt lieber nicht reden.

Bis heute fehlt den Roma oft eine nationale und erst recht eine starke europäische Repräsentanz? Woran liegt das?

Wir haben es in den verschiedenen europäischen Ländern mit sehr unterschiedlichen Romgruppen zu tun. Die in den 1970er-Jahren von einigen Roma-Intellektuellen gehegte Illusion, eine Einheit schaffen zu können, musste inzwischen begraben werden. Dennoch konnten in einigen Ländern in den letzten Jahrzehnten auf verschiedenen Ebenen Organisationen mit Innen- und Außenwirkung aufgebaut werden. In nicht wenigen Ländern Südosteuropas sind fehlende zivilgesellschaftliche Strukturen die Ursache für die Schwäche oder den geringen Einfluss der Selbstvertretungen. Der Überlebenskampf beherrscht den Alltag und verhindert die Entwicklung längerer politischer Perspektiven. Mangelnde Bildung ist ein weiterer Grund. Hinzu kommt, dass sehr viele Roma wohl immer noch die Familie oder Großfamilie als alleinigen Bezugspunkt ihres sozialen Lebens nehmen. Nicht zuletzt herrscht die Auffassung vor, ohnehin nichts erreichen zu können, was angesichts der langen Erfahrungen nicht verwundern muss.

Welche Rolle spielt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma?

Der Zentralrat hat nach innen und außen Anerkennung und Autorität gewonnen, weil er als Interessenvertretung und Bürgerrechtsbewegung in einem sich zunächst beharrlich für die Belange der Holocaustüberlebenden eingesetzt hat und dann konsequent gegen die Diskriminierung der Sinti und Roma, aber auch gegen Rassismus im Allgemeinen vorgegangen ist. Zudem hat er wissenschaftliche und kulturelle Aufgaben übernommen, die zur Identitätsbildung und zur Stärkung des Selbstbewusstseins einen Beitrag leisten. Man muss sich aber fragen, ob er nicht trotz der großen politischen und organisatorischen Erfahrung mit der Repräsentantenrolle für andere europäische Roma überfordert wäre.

Inwieweit unterschied und unterscheidet sich die "Zigeunerfeindschaft" vom Antisemitismus?

Es gibt eine Reihe gravierender Unterschiede. Das gilt für die Frage nach der Herkunft ebenso wie für den Zeitpunkt der Ankunft in Europa. Wichtig ist auch, dass die Gemeinschaft der Juden schon immer für sich selbst gesprochen hat und ihre Identität durch eine eigene Religion gestiftet wird. In meinem Buch sage ich, dass die Juden das Andere repräsentieren, das man niemals sein kann, die Romvölker das, was man auf Dauer niemals sein möchte.

Die Lage der Roma in Ländern wie Ungarn oder Tschechien wird immer ernster. Was kann Europa tun, um die Lage der Roma zu verbessern?

Wir sollten offen von einem latenten und manifesten Rassismus nicht nur in den genannten Ländern sprechen, dem die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft nicht genug entgegentreten – und von Gesellschaften, in denen Apartheit zur Alltagsrealität wird. Diese Länder dürfen sich ihrer Verantwortung für einen Teil ihrer Bevölkerung nicht länger entziehen. In erster Linie geht es um elementare Dinge wie menschenwürdige Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung und Zugang der Kinder zum Bildungssystem. Hinsichtlich der Arbeitsmigration ist panische Abwehr eine falsche Reaktion, die zu keinerlei Lösungen führen wird. Politische Bildung bei den Verantwortlichen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene ist dringend gefragt.

Welche Mechanismen der Geschichte spielen in der Debatte um die Armutseinwanderung in Deutschland eine Rolle? Oder anders formuliert: Welche Fremdbilder erkennen Sie in der Debatte um die sogenannte Armutseinwanderung wieder?

Ich möchte den Begriff der Armutseinwanderung nicht verwenden, sondern das Phänomen sachlich benennen: als Mobilität auf dem Niveau des untersten Arbeitssegments. Auch diese Menschen wollen vor allem arbeiten, auch wenn sie oft über keinerlei Ausbildung verfügen, die sie als Arbeitskräfte attraktiv macht. In meinem Buch spreche ich wie die Historiker von der "Entheiligung" der Armut am Ende des Mittelalters. Man beginnt nun die Armen anstatt der Armut zu bekämpfen. Vor allem die Armut der Roma gilt seit dieser Zeit als direkte Folge ihrer Unfähigkeit zu einem regelmäßigen Broterwerb, ihres Hangs zur Faulheit, ihrer Neigung zur Gewalt und ihrer Zurückgebliebenheit. Die heutigen Vorurteile lassen sich bis in diese Zeit zurückverfolgen. Sie drehen sich um die Vorstellung, dass "Zigeuner" übers Land ziehen, sich überall breitmachen, die fleißigen Menschen bestehlen und betrügen und ihren Dreck hinterlassen anstatt zu "verschwinden".

Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt. Wohin sollen sie aus Sicht der Mehrheitsbevölkerung verschwinden? Dorthin, wo sie herkommen. Aber auch die dortige Mehrheitsbevölkerung ist der Auffassung, dass sie "verschwinden" sollten. Die Nationalsozialisten haben diese Spirale der Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung konsequent zu Ende gedacht: bis zur Vernichtung – dem endgültigen "Verschwinden".

Das Interview führte Tobias Asmuth.

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Als Journalist schreibt Tobias Asmuth Reportagen, Analysen und Essays, berät Verlage und Agenturen, konzipiert Magazine, für Print und das Internet. Seine Texte erscheinen in Zeitungen wie der Neuen Zürcher Zeitung, dem Tagesspiegel, der Berliner Zeitung, der taz, dem Tagesanzeiger und der Wiener Presse. Mehr unter: Externer Link: www.asmuth-journalist.de

Klaus-Michael Bogdal, Jahrgang 1948, ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, davor Professor für Literaturwissenschaft an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. 2012 hat Bogdal für sein Buch "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung" den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten.