Was ist die Rolle des Islams und der Muslime in Putins Russland? Die Russische Föderation ist laut ihrer Konstitution ein betont multi-ethnischer und multi-religiöser Staat, wobei viele muslimische Minderheitenvölker ihre eigenen territorialen Autonomien haben. Neben der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Judentum ist auch der Islam als Religion anerkannt, die traditionell zu Russland gehört. Selbst der vielbesprochene Eurasianismus, dem ein Teil der russischen Eliten anhängen soll, sieht den Islam teilweise als der russischen Identität verwandt oder als zumindest mit ihren Werten kompatibel. Zudem pflegt Russland gute Kontakte zu vielen muslimisch geprägten Staaten. Faktisch jedoch wurde die Autonomie der Teilrepubliken im Erziehungswesen praktisch beseitigt, wird der Moscheenbau in Russlands Großstädten unmöglich gemacht, unterliegen muslimische Organisationen einer starken Kontrolle durch den Sicherheitsdienst, und hört man viel von Islamophobie und Diskriminierung von muslimischen Arbeitsmigranten im Alltag.
Es wird geschätzt, dass sich– bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 143 Millionen – heute 17 bis 20 Millionen Menschen in Russland dem islamischen Kulturkreis zurechnen, davon vermutlich mehr als 90 Prozent dem sunnitischen Zweig des Islams. Die meisten von ihnen gehören einheimischen Nationalitäten an, deren Islamisierung teilweise im Mittelalter begann. Unter russische Herrschaft gelangten bereits im 15. und 16. Jahrhundert die Wolgaregion (v.a. mit Mischär- und Kasantataren), der Ural und Westsibirien (mit Baschkiren, Kasantataren, Sibirischen Tataren, Kasachen), im 18. Jahrhundert die Krim, Teile der Ukraine und das Kaukasusvorland (mit Krimtataren, Nogajern und Turkmenen), und schließlich der Nordkaukasus, der erst Mitte des 19. Jahrhunderts nach jahrzehntelangen blutigen Kriegen vollends unterworfen wurde. Der Nordkaukasus ist die Heimat der mehr als zwanzig kleinen muslimischen Völker Dagestans (darunter Awaren, Darginer, Kumüken, Lesgier, Laken, Tabassaraner, aber auch schiitische Aserbeidschaner im Süden) sowie der Tschetschenen und Inguschen, der turksprachigen Balkaren und Karatschajer, sowie der Tscherkessen, Kabardiner und Adygejer. Mehrere dieser Völker sind in zaristischer Zeit oder unter Stalin Opfer grauenhafter Vertreibungen und Zwangsdeportationen geworden (Tscherkessen, Krimtataren, Tschetschenen, Inguscheten, Karatschajer und Balkaren). Die nach ihnen benannten „autonomen“ Föderationssubjekte im heutigen Nordkaukasus stimmen nicht unbedingt mit ihren historischen Siedlungsräumen überein. Vor allem seit den 1990er Jahren wurde Russland auch die Heimat von Millionen muslimischer Arbeitsmigranten aus Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan sowie Aserbeidschan. Dazu kommt die interne Migration, etwa vom Nordkaukasus in russische Städte. Zudem treten zunehmend ethnische Russen in die Öffentlichkeit, die den Islam angenommen haben.
Muftiate als regionale Islamverwaltungen und die Beziehungen zur Zentralregierung
Der „offizielle” Islam in Russland manifestiert sich in der Form von zahlreichen Islamverwaltungen (Muftiaten), welche zum Teil überlappende regionale Ansprüche haben und miteinander um staatliche Ressourcen und gesellschaftliche Anerkennung konkurrieren. Praktisch unterhält jede Teilrepublik Russlands mit signifikanter muslimischer Bevölkerung ein eigenes Muftiat, welches den Anspruch erhebt, alle Moscheen auf dem jeweiligen Territorium zu verwalten. Russlands größtes Muftiat (mit angeblich 1.400 Moscheengemeinschaften) ist dasjenige der Republik Tatarstan, geleitet von Mufti Kamil Samigullin (geb. 1985). Weitere wichtige Muftiate gibt es zum Beispiel in den Republiken Baschkortostan und Tschuwaschien, aber auch in Städten und Regionen der Wolgaregion und Sibiriens, welche keinen Republikstatus haben (z.B. Nizhnii Novgorod, Saratov, Astrakhan, Omsk). Die Muftiate der Nordkaukasusrepubliken (darunter Dagestan,
Islamisches Recht
Von der Lehre her gesehen folgen alle Muftiate dem, was sie jeweils als die historisch gewachsene regionale Form des sunnitischen Islams ansehen möchten. In Dagestan und Tschetschenien ist das die schafiitische Schule des Islamischen Rechts, die auch in Syrien und im Irak stark vertreten ist; diese Ausrichtung spiegelt die historische Orientierung der Muslime des Nordostkaukasus an der Arabischen Welt wider sowie die starke Rolle des Arabischen in der muslimischen Literatur der Dagestaner und Tschetschenen vor 1917. In den tatarischen Muftiaten Zentralrusslands vertritt man die hanafitische Rechtsschule, die von alters her bei den meisten Turkvölkern vorherrschend ist, darunter in der modernen Türkei. Zu den Tataren kam die hanafitische Gelehrsamkeit allerdings aus Mittelasien, vermittels der islamischen Medressen (“Seminare”) in Buchara und Samarkand (im heutigen Usbekistan), wo bis zur
Sufismus im Kaukasus
Insbesondere im Nordkaukasus ist der Sufismus bedeutsam, der vor allem mit Mausoleen von Heiligen verbunden ist. Bei den Sufi-Bruderschaften handelt es sich um lokale und regionale Netzwerke von Meistern und Schülern, welche regelmäßig mystische Rituale ausführen, in denen sie Gottes gedenken oder sich ihm sogar zu nähern denken. Diese Gruppen haben teilweise großen Einfluss auf Gesellschaft und Politik, sind aber auch das Angriffsziel der Salafisten und Islamisten, welche den Heiligenkult als Polytheismus verwerfen. Das islamische Establishment in Dagestan gehört zur Bruderschaft der Nakschbandija. Diese spielte im 19. Jahrhundert eine Rolle bei der Mobilisierung zum Dschihad gegen Russland, der vom berühmten Imam Schamil (reg. 1834-59) geleitet wurde; heute positionieren sich die Nakschbandis jedoch als loyal zu Moskau. In Tschetschenien und Inguschetien ist eine andere Bruderschaft dominant, die auf das Netzwerk des tschetschenischen Predigers Kunta-Hadschi zurückgeht (st. 1867). Diese Gruppen – verbunden mit bestimmten Clans – zeichnen sich durch Tanzrituale aus, die teilweise in der Öffentlichkeit stattfinden. In der Literatur findet man oft die Behauptung, der “Kunta-Hadschismus” sei gleichbedeutend mit dem tschetschenischen Islam. Dabei handelt es sich um eine starke Vereinfachung, welche allerdings durch Ramsan Kadyrovs Islampolitik verstärkt wird. Sein Vater und Vorgänger im Amt, Achmat Kadyrov (gestorben 2004), stand in der Tradition der Kunta-Hadschis, und der von Ramsan betriebene Kult um seinen Vater geht einher mit der Renovierung zahlreicher Schreine der Kunta-Hadschis.
Modernismus Während im Nordkaukasus die sufischen Netzwerke und patriarchalischen Strukturen trotz aller Unterdrückung auch in der Sowjetzeit erhalten blieben, war in der Wolgaregion gegen Ende der Sowjetzeit der organisierte Sufismus praktisch erloschen. In Kasan (Republik Tatarstan) berief man sich stattdessen zunächst auf das intellektuelle Erbe des sogenannten Dschadidismus (von usul-i jadid, ‘die neuen Unterrichtsmethoden’), worunter man eine fortschrittliche (modernistische) muslimische Bildungsbewegung versteht, die in den 1880er Jahren entstanden war. Der Dschadidismus umfasste vor allem eine Reform des traditionellen Bildungswesens, wobei das religiöse Kurrikulum durch “weltliche” Fächer ergänzt wurde. Einige dieser Gelehrten, Lehrer und Journalisten forderten auch eine Reform der islamischen Theologie und Praxis, die sie von Elementen befreien wollten, die ihrer Meinung nach nichts mit dem ursprünglichen Islam zu tun hatten. Im Zentrum stand der Versuch, die Vereinbarkeit von Islam und moderner Wissenschaft zu beweisen. Auch die Befreiung der muslimischen Frau stand auf ihrem Programm, und nach der Oktoberrevolution 1917 wurde sogar eine tatarische Lehrerin, Muchlisa Bubi, in ein Kadi-Amt gewählt – was unerhört war für die Islamische Welt. Wie die meisten ihrer männlichen Kollegen kam sie dann aber in Stalins Terror um. Nach dem Ende der UdSSR wurde dieser “progressive” Islam zunächst von Intellektuellen der tatarischen Nationalbewegung aufgegriffen, um einen fortschrittlichen tatarischen Islam zu postulieren, der nicht auf althergebrachten Strukturen, sondern auf liberaler Weltoffenheit und Rationalität beruht. Die meisten Imame und Islamgelehrten konnten solchen Konstrukten jedoch nichts abgewinnen, und wandten sich den konservativen Werten zu, die in der Türkei, Ägypten und der Golfregion dominierten; es kam mithin zu einer Retraditionalisierung. Diese konservative Linie fährt auch der gegenwärtige Mufti der Republik Tatarstan, Samigullin, der bei einer extrem frommen Bewegung in Istanbul studiert hatte. Offen “fortschrittsgesinnte” (d.h. sich als Erben des Dschadidismus präsentierende) islamische Gelehrte und Publizisten bestehen zur Zeit vor allem noch im Umfeld des Vize-Muftis von DUMRF in Moskau, Damir Muchetdinov; auch der syrischstämmige Moskauer Philosoph Tawfik Ibrahim propagiert in seinen zahlreichen russischsprachigen Schriften eine reformistische Theologie des “Koranischen Humanismus“, die allerdings van vielen Traditionalisten angefeindet wird.
Radikalismus
Russlands Muftis wie auch Präsident Putin geben immer wieder an, dass der Islam eine friedliche Religion sei, und dass der „Extremismus“ muslimischer Dschihadisten nichts mit dem Islam zu tun habe. Der mit radikal-islamischer Propaganda einhergehende Terrorismus ist in Russland durch schreckliche Anschläge und Massengeiselnahmen bekannt geworden (v.a. Budjonnowsk, 1995; Nord-Ost Theater in Moskau, 2002; Schule von Beslan, 2004); er hat aber auch einigen dem Kreml gegenüber loyalen Islamgelehrten der Muftiate das Leben gekostet. Dieser Terrorismus erwuchs in den späten 1990er Jahren vor allem aus dem Tschetschenienkonflikt. Während der tschetschenische Separatismus im ersten Tschetschenienkrieg (1994 ˗ 1996) nationalistisch und weitgehend säkular motiviert war, kamen in der Zwischenkriegszeit vor allem tschetschenische Bandenführer ins Rampenlicht, die sich den Kampf für den Islam und für einen islamischen Staat auf die Fahne schrieben. Ein Angriff tschetschenischer Bandenführer auf das benachbarte Dagestan im August 1999 gab dem damaligen Premierminister Vladimir Putin den Anlass für eine erneute Invasion Tschetscheniens (und verhalf ihm zu dem Image eines hart durchgreifenden Retters Russlands, welches ihm im folgenden Jahr half, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen). Der islamische Widerstand ging indes im Untergrund weiter; 2007 führte dies zur Ausrufung des „Emirats Kaukasus“, eines virtuellen Islamstaates, der weite Territorien Russlands in sich vereinen wollte. Es ist dies dieselbe Abkehr vom Nationalstaatsgedanken, die man später beim IS sah, dem Islamischen Staat in Irak und Syrien. Den russischen und tschetschenischen Sicherheitskräften gelang jedoch die Tötung der prominentesten Terrorführer, und seit 2015 schlossen sich viele der überlebenden Dschihad-Kämpfer dem IS in Syrien an, wo sich russischsprachige Einheiten von erprobten Kämpfern bildeten. Der Kreml begründete sein direktes militärisches Eingreifen in den Syrienkrieg 2015 damit, dass man eine Rückkehr dieser Kämpfer nicht zulassen dürfe. Der Vorwand des Kampfes gegen den Extremismus wurden seit der Annexion der Krim 2014 auch benutzt, um die Organisationen der Krimtatarischen Autonomie zu zerschlagen, vor allem den Medschlis, dessen Führungspersönlichkeiten mittlerweile in anderen Teilen der Ukraine operieren. Gleichzeitig fördert der Kreml das krimtatarische Muftiat (unter Mufti Emirali Ablaev), welches heute als Kreml-loyale Vertretung der Krimtataren erscheinen will und damit dem Medschlis das Wasser abgraben soll. Andere islamische Organisationen, die unter ukrainischem Recht nicht verboten waren/sind (z.B. Hizb ut-Tahrir, welche mit friedlichen Mittlen auf einen islamischen Staat hinarbeiten), wurden ebenfalls eliminiert; ehemalische Medschlis- und Hizb ut-Tahrir-Aktivisten arbeiten heute zusammen, um mit ihren verbliebenen Mitteln gegen russische Menschenrechtsschändungen auf der Krim zu protestieren und den Hinterbliebenen von Gefangenen zu helfen. Die großen regionalen Muftiate in ganz Russland arbeiten eng mit den Sicherheitsbehörden zusammen, um durch Predigt und Erziehung „prophylaktische Aufklärung“ in ihren Gemeinden zu betreiben und – gemeinsam mit säkularen Experten – islamische Literatur und Medien auf Spuren von Extremismus hin zu untersuchen. Viele islamische Werke, darunter auch klassische Schriften und selbst Koranübersetzungen, sind ohne überzeugende Expertise von diversen russischen Gerichten verboten worden, was zuweilen Proteste von Gelehrten auslöste. Ein islamischer Aktivismus jenseits der vom Staat kontrollierten Muftiate, wie es ihn noch vor zehn Jahren in der russländischen Öffentlichkeit gab, ist heute nicht mehr zu erkennen; alternative Islam-Prediger haben Russland verlassen oder sind marginalisiert bzw. mundtot gemacht. Gleichzeitig sind Russlands Muslime durch die neuen Medien heute stark mit Trends in der gesamten Islamischen Welt verbunden, und sie zeigen ihre Frömmigkeit auch in der Öffentlichkeit durch Kleidung und Teilnahme an Ritualen. Auch die Halal-Industrie blüht. Zudem ist bekannt, dass gerade auch russische Gefängnisse Orte sind, an denen Menschen zum Islam kommen.
Verkirchlichung?
Die Gleichschaltung und bürokratische Organisation des Islams in Russland dient vorgeblich der Schaffung sozialer Stabilität. Gleichzeitig liefern die vom Staat geförderten Muftis dem Regime eine islamische Legitimation – so etwa, als nach dem Überfall auf die Ukraine im Frühjahr 2022 zahlreiche der genannten Muftis eine fatwa publizierten, der zufolge Muslime Russlands, die in Ukraine auf russischer Seite kämpfen und fallen, direkt als Märtyrer ins Paradies einziehen würden. Diese Formulierungen manipulieren die islamische Tradition, kopieren aber auch die Rhetorik des Moskauer Patriarchats. Unter dem Slogan des “Traditionalismus“ und “traditioneller Werte“ wird offiziell die Harmonie zwischen Orthodoxer Kirche und Islam betont, und in gewisser Hinsicht bewegt sich der organisierte Islam im Fahrwasser der Orthodoxen Kirche. Manche Beobachter sprechen deshalb von einer “Verkirchlichung”