1. Wie frei können Medien in Russland berichten?
Die Berichterstattung in Russland ist nicht frei, sondern stark vom Staat kontrolliert. Dabei bedeutete der Beginn des großflächigen russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar 2022 in der russischen Medienlandschaft eine Zäsur: Unabhängige Medien und Journalisten, die schon vorher zunehmend unter Druck geraten waren, mussten in großen Teilen das Land verlassen.
Fast alle Websites unabhängiger Medienwurden durch die russische Medieaufsichtsbehörde Roskomnadsor blockiert
Außerdem verabschiedete die Duma Anfang März 2022 ein neues Zensurgesetz, wonach nur noch gemäß “offizieller Quellen”, also staatlicher Angaben, berichtet werden darf – andernfalls drohen bis zu 15 Jahre Haft. Dazu gehört auch, dass der Krieg nicht als Krieg benannt werden darf, sondern als „militärische Spezialoperation“, wie es offiziell heißt. Grundsätzlich ist das Gesetz, wie auch andere Mediengesetze in Russland, bewusst schwammig formuliert und wenig spezifiziert – dies ermöglicht einen eher willkürlichen Gebrauch seitens der Behörden und fördert die Selbstzensur.
Diese Gesetze richten sich außerdem auch gegen Privatpersonen: So berichtet die russische Menschenrechtsorganisation OVD-Info, dass allein in den ersten 9 Monaten nach Beginn des Angriffskriegs 117 Personen wegen “Fakes” und 30 Personen wegen “Diskreditierung der Armee” strafrechtlich verfolgt wurden. Die Organisation zählt außerdem mindestens 1500 administrative Verfahren, die eröffnet wurden wegen Postings, die sich gegen den Krieg aussprachen.
Mit solchen Maßnahmen, die unmittelbar nach Beginn des Angriffskriegs ergriffen wurden, sicherte sich die russische Staatsführung die Kontrolle über den Medien- und Informationsraum. Dabei setzt der Kreml auf starke Propaganda.
2. Welche Rolle spielt dabei das Staatsfernsehen?
Das staatliche und staatsnahe Fernsehen dominiert die russische Medienlandschaft. Es erreicht nahezu alle Haushalte und ist ein wichtiges Instrument der Propaganda auch im Krieg Russlands gegen die Ukraine. 64 Prozent der Bevölkerung informieren sich über das Fernsehen, unter den über 55-Jährigen sind es sogar 84 Prozent. Dies ergab eine Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum.
Perwy Kanal (dt. Erster Kanal), Rossija 1 und NTW – so heißen die drei größten Kanäle, die die politische Meinungsbildung in Russland maßgeblich beeinflussen. Sie sind direkt dem Staat oder staatsnahen Unternehmen unterstellt.
Das Fernsehen hat keinerlei Kontrollfunktion gegenüber den politischen Eliten. Stattdessen wirkt es in nahezu allen politischen Fragen als Sprachrohr des Kremls. Außerdem dringen immer wieder Informationen darüber nach außen, die Präsidialadministration schicke regelmäßig Themenpläne an die einzelnen Sender.
3. Wie wird in staatlichen und staatsnahen Medien berichtet?
Schon nach den Protesten der Opposition im Winter 2011/2012 und nach der sogenannten Ukraine-Krise 2014 verschärfte sich die staatliche Kontrolle der Medien. Die Berichterstattung der Staatssender entsprach schon damals fast immer der offiziellen Rhetorik. Dazu gehörte auch, dass die staatlichen und staatsnahen Kanäle Teile der russischen Opposition immer wieder als "fünfte Kolonne"
4. In Polittalkshows des Staatsfernsehens wird immer wieder mit Atomschlägen gedroht – wie tragen solche Sendungen zur öffentlichen Meinungsbildung bei?
In den Polittalkshows geht es nicht um Meinungsaustausch unter politischen Entscheidungsträgern – sondern vor allem darum, aufzuhetzen, Feindbilder zu schärfen und eventuell die Reaktion der Zuschauer auf solche Atomschlag-Szenarien zu testen.
Der hetzerische Charakter solcher Shows wird auch an der Rolle der Moderatoren deutlich, die ihre moderierende Rolle meist gar nicht wahrnehmen, sondern sich mitunter mit heftigen Wutausbrüchen in die Debatten einmischen.
Die Polittalkshows im russischen Staatsfernsehen – sie heißen etwa “60 Minut”, “Wetscher s Wladimirom Solowjowym” (“Abend mit Wladimir Solowjow”) oder “Wremja pokaschet” (Die Zeit wird es zeigen) – machen Stimmung auch mittels heftiger Verbalattacken und derber Lexik.
Dabei werden schon seit 2014, als Russland die Krim annektierte und der Krieg im Osten der Ukraine begann, auf drastische und plakative Art und Weise klare Feindbilder bedient: die Opposition im Inneren, der Westen und die Ukraine.
Bekannt ist außerdem auch Dmitri Kisseljow – der als Generaldirektor der staatlichen Auslandsnachrichtenagentur Rossija Sewodnja auch als “Chefpropagandist des Kreml” bezeichnet wird. Er moderiert keine Talkshow, sondern den quotenstarken Nachrichtenrückblick “Westi nedeli” (“Nachrichten der Woche”) im Staatssender Rossija 1. Seine Rhetorik ist ähnlich hetzerisch: Im März 2014 sagte Kisseljow in der Sendung, dass Russland der einzige Staat sei, der die USA “jederzeit in radioaktive Asche verwandeln” könne. 2022 zeigte er in der gleichen Sendung in einer Videoanimation, wie Russland Großbritannien mittels einer nuklearen Torpedorakete “auf den Meeresgrund schicken“ könnte.
Als "Sombirowanje", Zombie-sierung, beschreiben Kritiker schon seit 2014 den Effekt, den das Fernsehen nicht nur als Informations-, sondern auch Manipulationsmedium in der russischen Gesellschaft hat. Den Fernseher selbst nennen sie sarkastisch "Zombie-Kiste".
5. Glauben die Menschen diese Propaganda tatsächlich?
Laut Umfragen des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitutes Lewada vertrauen auch nach Beginn des Angriffskriegs 49 Prozent dem Fernsehen als Informationsquelle am meisten.
Noch aus der Sowjet-Zeit stammt außerdem ein besonderes Verständnis eines Journalismus, der dazu diene, die Regierung in ihrer Arbeit zu unterstützen und deren Entscheidungen mitzutragen. Diese Einschätzung teilen sowohl staatliche Journalisten als auch ein Großteil deren Publikums.
6. Gibt es denn überhaupt noch unabhängige russische Medien?
Es gibt sie – wenn auch die meisten von ihnen inzwischen aus dem Exil berichten. Nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des großflächigen russischen Angriffskriegs, sind die meisten russischen unabhängigen JournalistInnen und Medien ins Exil gegangen – aus Sorge um ihre Sicherheit. Von dort machen viele weiter: Das sind zum Beispiel bekannte und vergleichsweise reichweitenstarke Medien wie der unabhängige TV-Sender Doschd, das Online-Medium Meduza (das bereits seit 2014 aus dem Exil in Riga berichtet) oder die Nowaja Gaseta Ewropa (die juristisch unabhängig von der renommierten Nowaja Gaseta in Russland agiert). Die meisten unabhängigen Medien sind in Russland blockiert – und häufig nur noch über spezielle Apps (wie bei Meduza), VPN-Anbieter oder auf sogenannten “gespiegelten Seiten” zu lesen. Da YouTube in Russland (noch) nicht gesperrt ist
Einzelne unabhängige Medien gründeten sich nach Beginn des Angriffskriegs sogar neu: so etwa das Medium Wjorstka (verstka.media), das die Journalistin Lola Tagajewa ins Leben rief, die zuvor u.a. bei der Nowaja Gaseta und für Doschd gearbeitet hatte. Auf Wjorstka finden sich zahlreiche Reportagen, auch aus Russland selbst.
Der unabhängige und kritische Mediendiskurs jedenfalls wurde in großen Teilen auch aus dem Exil heraus ziemlich nahtlos fortgeführt. Dies ist durchaus als Ausdruck der hohen Professionalität und des hohen journalistischen Anspruchs der JournalistInnen zu werten. Es ist aber auch dem Umstand zu verdanken, dass im Exil schnell Hilfsgelder zur Verfügung standen – etwa über den Ende März 2022 neu gegründeten “JX Fund – European Fund for Journalism in Exile”, der russische, belarusische und mittelfristig weitere Journalisten und Medien im Exil schnell und unbürokratisch unterstützt. Allein 2022 konnte der JX Fund eigenen Angaben zufolge mehr als 1000 Exil-JournalistInnen und Mitarbeitende unterschiedlicher Exil-Redaktionen in mehr als 25 verschiedenen Ländern unterstützen.
Anders als in staatlichen oder staatsnahen russischen Medien wird der Krieg in den unabhängigen Medien als Krieg benannt. Er ist dominierendes Thema ihrer Berichterstattung – sei es in Analysen, Interviews oder Reportagen. Auch Berichte aus Russland selbst finden sich – etwa in Form von Reportagen über Beerdigungen, traumatisierte Kriegsheimkehrer oder auch Straßenumfragen. All dies ist nur möglich, da sich viele unabhängige Medien im Exil schnell neu organisierten und es außerdem mutige JournalistInnen gibt, die weiterhin vor Ort sind und (meist anonym) weiter aus Russland berichten. Die Sorge um ihre Sicherheit und die sichere Kommunikation mit ihnen hat für die Redaktionen im Exil oberste Priorität und bleibt eine ständige Herausforderung.
Das Publikum in Russland selbst zu erreichen und durch den offiziellen Propagandateppich zu dringen ist für unabhängige Medien wichtiges Ziel und große Herausforderung zugleich. Dabei gilt es genauso technische wie psychologische Hürden zu überwinden:
Technische Hürden Technische Barrieren gibt es vor allem aufgrund der Blockaden im Web (siehe Frage 6). Darauf reagieren viele Medien, indem sie mehrere Plattformen gleichzeitig bedienen: neben der eigenen Seite auch Mailinglisten, Kanäle auf Facebook, Instagram und TikTok. Besondere Bedeutung kommt auch Telegram und YouTube zu, da diese in Russland (noch) nicht gesperrt sind.
Einzelne Medien gründeten sich gleich auf YouTube oder Telegram, wie etwa Govorit ne Moskwa (“Hier spricht nicht Moskau”
Ähnlich gehen im Übrigen auch andere unabhängige Medien vor, die dafür mitunter Allianzen bilden: Die Website Kedr (“Zeder”; kedr.media), die auf Umweltthemen in Sibirien spezialisiert ist, druckt ihre Recherche immer wieder auch in der Nowaja Gaseta Ewropa ab, in der Hoffnung, ökologisch interessierte Leser aus Sibirien so an kriegs- und kremlkritischen Content heranzuführen.
Unterdessen machen sich viele unabhängige Medien darauf gefasst, dass ihr Content auch auf YouTube und Telegram in Russland blockiert wird – spätestens 2024, wenn in Russland wieder Präsidentschaftswahlen anstehen. Es gilt, möglichst kreative, technische Antworten darauf zu finden – die nicht nur in Umgehung der Blockaden durch VPN oder Links zu gespiegelten Seiten liegen können.
Psychologische Hürden Doch das alles betrifft nur technische Hürden. Darüber hinaus weisen unabhängige russische Medienschaffende immer wieder auch auf psychologische Momente hin: So sind viele unabhängige Medien und Journalisten auf die Liste der sogenannten “ausländischen Agenten” gesetzt oder sogar als “unerwünschte Organisation” gelabelt. Derart diffamiert ist es für sie schwer in der russischen Gesellschaft überhaupt Gehör zu finden – auch weil viele Menschen angesichts von Propaganda und zunehmender Repression nicht mehr zuhören wollen, sei es aus Angst oder Überzeugung. Auch zwischen Exilierten und denen, die im Land geblieben sind, kommt es zu Konflikten: Wenn die Exilierten Kritik daran üben, dass einzelne Medien oder JournalistInnen in ihrer Arbeit zu viele Kompromisse eingehen würden, klingt das in den Ohren derer, die im Land geblieben sind, mitunter arrogant und sie verweisen auf den besonderen Druck, dem sie ausgesetzt sind. So trennte sich nach über 18 Jahren im Februar 2023 etwa auch ein beliebtes Moderatorinnen-Duo von Echo Moskwy, die gemeinsame Sendung hatte die eine aus dem Exil, die andere aus Russland heraus moderiert. Es gebe „zu viele verbotene Themen für einen freien Kanal“, informierte auf Facebook die im Exil lebende Xenia Larina, die die Sendung nun allein weiterführt.
8. Was bedeutet der Status “ausländischer Agent” oder “unerwünschte Organisation”, mit dem auch viele unabhängige russische Journalisten und Medien gelabelt sind?
In seiner Ursprungsform sanktionierte das sogenannte “Agentengesetz”, das vor dem Hintergrund der letzten großen Protestwelle 2011/2012 verabschiedet wurde, gezielt NGOs, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhielten. Seit 2017 ist es aber auch auf Medien und seit 2020 auf Einzelpersonen anwendbar. Wer von dem Status betroffen ist, erfährt davon über eine Liste, die das russische Justizministerium zumeist freitags aktualisiert. Der Status bringt für Personen und Organisationen im Land hohe bürokratische Hürden mit sich und soll diffamierend wirken. Für Medien und Journalisten und andere unabhängige Akteure spitzte sich die Situation zunächst 2021 zu, nach den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Von April bis Ende November 2021 wurden insgesamt mehr als 80 Medienorganisationen und Journalisten auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt. Zunächst traf es das reichweitenstarke Exilmedium Meduza, das daraufhin zahlreiche russische Werbekunden und damit wesentliche Teile seiner Finanzierung verlor, aber auch Investigativmedien wie VTimes, The Insider und Istories. Die Entwicklung ist also nicht neu – sie steigerte sich nach dem 24. Februar 2022 aber deutlich. Nahezu wöchentlich werden weitere Personen, auch Journalisten, auf die Liste gesetzt, auch wenn sie sich bereits im Exil befinden. Meduza etwa ist unterdessen zur „unerwünschten Organisation“ erklärt worden. Dieser Status betrifft Organisationen, die vermeintlich eine Bedrohung etwa für „die Sicherheit des Staates“ darstellen. Eine solche Organisation darf in Russland nicht mehr aktiv sein. Zudem macht sich theoretisch jeder russische Staatsbürger strafbar, der mit einer solchen Organisation in irgendeiner Form zusammenarbeitet.
9. Warum publizieren einzelne russische Exilmedien auch auf Deutsch oder Englisch?
Für diese Medien, die sich traditionell stark mit Russland und weniger mit Auslandsthemen beschäftigen, liegt im Exil auch die Chance, vermehrt externe Perspektiven abzubilden oder sich selbst in die Diskurse des Exillandes einzumischen. So veröffentlicht das Internetportal Meduza beispielsweise auch Beiträge zu einzelnen EU-Ländern und übersetzt auf meduza.io/en deutlich mehr Texte ins Englische.
10. Wie ist die Situation der russischen Exiljournalisten – und sind sie nicht auch Teil eines russischen, imperialen Diskurses?
Die Redaktionen arbeiten oftmals dezentral, das heißt, die JournalistInnen eines einzelnen Mediums sind in der Regel über unterschiedliche Länder verstreut. Da viele von ihnen Russland sehr kurzfristig verlassen mussten, gingen sie in Länder, für die sie ein (meist zeitlich befristetes Visum) hatten oder in solche, für die kein Visum nötig war, und an Orte, in denen es zumeist bereits eine Exilcommunity gab. Eine umfangreiche Studie zu russischen Exilmedien, die im Auftrag des JX Fund durchgeführt wurde, zeigt eine breite Spanne von Aufnahmeländern, sieht Knotenpunkte aber vor allem in Tbilissi (Georgien), Berlin und Riga (Lettland).
Aus der Studie geht außerdem hervor, wie instabil die Lage für die exilierten JournalistInnen generell ist: Der mittel- wie langfristige Aufenthaltsstatus ist oftmals ungeklärt, die finanzielle Lage unsicher (auch weil ausländische Banken in Russland ausgegeben Karten sperren). Von solch bürokratischen Problemen abgesehen, von denen sehr existenzielle Fragen abhängen, treten im Exil oftmals psychologische Probleme auf.
Die komplexe Situation für russische Exilmedien zeigt sich besonders deutlich am Fall des unabhängigen TV-Senders Doschd, der zunächst in Lettland eine Lizenz bekommen hatte. Anfang Dezember 2022 hatte Alexej Korosteljow, bekannter Moderator des russischen Exilsenders, bei einer Live-Sendung den Eindruck erweckt, der Sender unterstütze russische Soldaten in der Ukraine mit Hilfsgütern. Seine Äußerung provozierte einen Skandal, mitunter schossen Verschwörungstheorien ins Feld, der unabhängige Fernsehsender sei vom Kreml oder dem russischen Geheimdienst finanziert. Der Sender Doschd sah sich schließlich gezwungen, Korosteljow zu kündigen. Dies wiederum löste einen Sturm der Entrüstung in der russischen Exilmedienszene aus, vielfach wurde kritisiert, es werde zu hart verfahren mit einem Journalisten, der eine Livesendung im Exil unter großem psychischen Stress moderiere. Die lettischen Behörden leiteten eine Überprüfung ein und entzogen Doschd schließlich die Lizenz. Diese Entscheidung kritisieren zahlreiche andere EU-Länder und auch Organisationen wie Reporter ohne Grenzen als “Geschenk für den Kreml”. Doschd erhielt schließlich eine neue Lizenz in den Niederlanden.