Jenseits der Projektion und des Empfanges von Fernsehbildern gibt es in der "gelenkten Demokratie" wenig Austausch zwischen Staat und Gesellschaft. Anstelle der für Demokratien typischen Interaktion zwischen kollektiven sozialen Akteuren und staatlichen Organen dominieren in Russland eher archaische Formen politischer Kommunikation. Der Grund dafür ist, dass die bestehenden Parteien und Verbände soziale Interessen nicht repräsentieren und die Menschen sich ihrer völligen Einflusslosigkeit auf die Politik bewusst sind. Das Vertrauen in Parlament und Parteien ist denkbar gering.
Umfragen, TV-Sprechstunden oder Bürgereingaben statt gesellschaftlicher Dialog
Als Ersatz für den Transport der Bürgermeinung von unten nach oben dienen massenhafte Bürgereingaben. Sie stehen in Russlands langer Tradition des Petitionswesens. Tagtäglich gelangt eine große Zahl individueller oder kollektiver Beschwerden und Bitten an die verschiedensten staatlichen Behörden. Ähnlich funktionieren die bei vielen Ämtern eingerichteten "Empfangsbüros" für Anliegen der Bürger. Neben diesen paternalistischen Einrichtungen gibt es weitere Quellen zur unverfänglichen Abschöpfung von Kritik und Wünschen der Bürger. Es sind die Berichte der Sicherheitsbehörden, die regelmäßig von staatlicher Seite in Auftrag gegebenen soziologischen Meinungsumfragen. Auch die von unabhängigen Einrichtungen wie dem renommierten Lewada Institut erhobenen Daten bieten aussagekräftiges Material.
Putin führte eine nationale Bürgersprechstunde ein. Via Fernsehen, SMS oder Telefon teilen interessierte Bürger dem Präsidenten mit, wo sie der Schuh drückt. In den jeweils mehrstündigen Gesprächen Putins mit dem Volk drängen die landesweit typischen Probleme der alltäglichen Versorgung Fragen der großen Politik in den Hintergrund. Insofern dient auch diese archaische Form der Kommunikation zwischen unten und oben nur sehr begrenzt der politischen Rückkopplung im weiteren Sinne. Während Putin seine Bürgersprechstunde auch als Premierminister fortführte, zog es der passionierte Internetnutzer Medwedjew vor, mit den Bürgern über eine eigene Website und einen Blog zu kommunizieren. Er fordert hier Stellungnahmen zur politischen Entwicklung des Landes ein. Ungeachtet des wachsenden Interesses vieler Russen am Internet, ersetzt auch dieses Medium keinen demokratisch organisierten gesellschaftlichen Dialog mit der Obrigkeit.
Aufs Ganze gesehen sind Staat und Gesellschaft nur äußerst dürftig miteinander verkoppelt. Das soziale Nervensystem und die Möglichkeiten politischer Partizipation sind so wenig entwickelt, dass gesellschaftliches Engagement zur Seltenheit wurde oder wenig politische Relevanz besaß. Zu spontanen Protestaktionen aus der Gesellschaft heraus gehörten etwa Proteste von Autofahrern gegen die Privilegien der Blaulichtfahrer in Moskau oder eine Umweltbewegung gegen die Abholzung alter Baumbestände im Wald von Chimki, durch den die Autobahn Petersburg - Moskau gelegt werden sollte. LKW Fahrer protestierten in den letzten Jahren gegen die Einführung einer Maut für LKWs.
Wohlstand, Nationalstolz und Personenkult legitimieren die Macht
Die große Kluft zwischen Staat und Gesellschaft resultierte aus der Unterdrückung jeder 'grass roots democracy'. Dies beraubte das Regime jedoch einer stabilen sozialen Stütze und förderte die Entfremdung von Staat und Gesellschaft immer mehr. Die Kremlregisseure fanden andere Wege und Mittel, um politische Stabilität und Legitimität zu inszenieren. Sie offerierten sowohl materielle als auch ideelle Angebote und Leistungen wie Prosperität, Nationalstolz, Paternalismus und Putinkult.
Tatsächlich ließen die lange Zeit sprudelnden Petrodollars den durchschnittlichen Lebensstandard deutlich ansteigen. Der Nationalstolz wurde durch die erfolgreiche Propagierung der Großmachtidee und der Behauptung angeheizt, Russland sei in die erste Liga der Weltmächte zurückgekehrt. Hinzu kam die Orientierung auf "Glamour" im Sinne einer glanzvollen Inszenierung der Macht mit öffentlichen Shows und Starkult. Diese Zeremonialisierung der Politik förderte den Nationalstolz tatsächlich noch weiter, täuschte aber Stabilität eher vor.
Von Anfang an gehörte der Personenkult um Putin zu einer herausragenden Legitimitätsressource des Regimes. Zweifellos kam Putins hemdsärmelige Art, seine oft vulgäre Wortwahl und der konfrontative außenpolitische Stil beim russischen Publikum gut an. Putin selbst bediente das positive Image damit, dass er seine Leistungen stets ins beste Licht rückte. Er zeigte sich mit Rappern, Künstlern und Kfz-Monteuren. Während der verheerenden Waldbrände im August 2010 bestieg er selbst ein Löschflugzeug. Er schwamm in einem eiskalten sibirischen Fluss, ritt mit nacktem Oberkörper durch die Steppe und erlegte im Fernen Osten einen Grauwal. Die Botschaft war stets: Russlands Geschicke sind bei einem so starken Führer gut aufgehoben.
Allerdings schien die fortgesetzte Vermarktung des 'strongman' Putin als Nachweis politischer Führungsqualität nicht nur die durchschlagend positive Wirkung auszulösen, auf die Putin und seine "Polit-Technologen" wohl gesetzt hatten. Bisweilen verstärkte sich die Kritik an dem populistischen Personenkult. Nichtsdestotrotz ließen die Kremlregisseure nicht davon ab, vermeintlich attraktive Bilder ihrer Führung in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Im Unterschied zur Werbung mit dem Volkshelden Putin wurde Medwedjew als intellektueller Computerfreak und smarter Technokrat präsentiert. Dahinter steckte die Absicht, dem "Tandem" eine breite legitimitätsstiftende Wirkung zuzuerkennen, die für jedermann ein passendes Identifikationsangebot bereithielt.
Proteste und Demonstrationen lassen Zerbrechlichkeit des Systems erahnen
Es war jedoch nicht unbedingt zu erwarten, dass sich die Gesellschaft mit der Projektion immer weiterer attraktiver Fernsehbilder in dauerhafter Passivität und Loyalität halten ließ. Vor dem Hintergrund beträchtlicher sozialer Probleme und schwelender ethnischer Konflikte war eine Zunahme spontaner Proteste keineswegs ausgeschlossen. Davon zeugten etwa die massenhaften Demonstrationen Ende 2009 in Kaliningrad oder die gewalttätigen Jugendkrawalle auf dem Manègeplatz mitten in Moskau im Dezember 2010. Die Führung zeigte sich im Umgang mit diesen Unruhen hilflos und unentschlossen. Dies erklärte sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass Verbindungsglieder zwischen Staat und Gesellschaft fehlen und sich die staatlichen Institutionen durch eine schwerfällige und undurchsichtige Funktionsweise auszeichnen. Politische und soziale Verantwortlichkeit kommt auf keiner Ebene ins Spiel. Unter diesen Bedingungen war es mit der politischen Stabilität des autoritären Systems nicht weit her.
Wie prekär die von Putin als höchste Errungenschaft seiner Präsidentschaft gepriesene politische Stabilität in Wirklichkeit war, wurde im Zuge der "Operation Nachfolger", die sich vom September 2011 bis März 2012 hinzog, überdeutlich. Zunächst löste schon die Ankündigung des geplanten Ämterwechsels einen Aufschrei des Protestes vor allem in der neuen Internetgemeinde aus. Putin wurde hier mit Leonid Breschnew und dessen langjährigem Regiment verglichen. Nach den Dumawahlen vom 4. Dezember, die sich durch eine klare Bevorteilung der Kremlpartei "Einiges Russland" und beträchtliche Verstöße gegen das Wahlrecht auszeichneten, kam es in Moskau und anderen Großstädten zu gewaltigen Massendemonstrationen. Die Bürger protestierten gegen die ihnen bei den Wahlen "gestohlenen Stimmen" und sie forderten den Abgang Putins von der politischen Bühne. Der Protest drückte vorwiegend das moralische Aufbegehren der Gesellschaft gegen das System der systematischen Täuschung, der geheimen Absprachen und vielfältigen Manipulationen aus. Soziologen zufolge war es die neue städtische Mittelklasse, die sich in keiner Partei vertreten fühlte, die die Masse der Demonstranten ausmachte. Nach Putins Wiederwahl am 4. März 2012 ebbte die Protestbewegung als Massenphänomen ab, während Aktivisten unterschiedlicher oppositioneller Gruppierungen in Moskau und in Provinzstädten den Widerstand gegen das System Putin unermüdlich weiterverfolgten. Alle Beobachter waren sich darin einig, dass die Legitimität des Regimes und die Autorität Putins vorübergehend klare Einbußen erlitten hatten. Vor allem wurde offenkundig, dass die vom Kreml angestrebte "Eingipsung der Gesellschaft" (Gleb Pawlowski) das Regime nicht ein für alle Mal gegen jedwede Turbulenzen immun gemacht hatte.
Abkehr vom "Westen" als Methode der Massenmobilisierung
Mit Putins dritter Präsidentschaft brach eine neue Ära an. Manche Autoren sprechen vom "entwickelten" oder vom "späten Putinismus". Charakteristisch dafür wurde fürs erste eine repressive Stabilisierung, die sich in der zunehmenden Unterdrückung oppositioneller Gruppen und Personen sowie in einer stärkeren Kontrolle über zivilgesellschaftliche Initiativen ausdrückte. Hinzu kam ein deutlicher Schulterschluss zwischen Staat und Kirche. Damit gingen eine Hinwendung zu den "traditionalen Werten" wie der Hochhaltung der Familie und der orthodoxen Religion sowie eine deutliche Abkehr von Europa wie vom "Westen" überhaupt einher.
Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Zuge des Ukrainekonflikts. Die "Heimholung" der Krim wurde Putin persönlich wie dem Regime überhaupt in höchstem Maße gutgeschrieben. Die nationale Verzückung darüber und das jetzt vollends wieder gewonnene Bewusstsein davon, dass Russland endlich seinen herkömmlichen Großmachtstatus erreicht hatte, ließen die Zustimmung zur politischen Führung in ungeahnte Höhen hinaufschnellen. Das Engagement im Syrienkrieg tat ein weiteres, um das nationale Selbstbewusstsein zu stärken. Die vom Westen verhängten Sanktionen führten auch nur dazu, das neue patriotische Band zwischen Gesellschaft und politischer Führung noch weiter zu festigen. Selbst der aufgrund zurückgehender Einnahmen aus dem Ölgeschäft sinkende Lebensstandard konnte der anhaltenden Zustimmung der Gesellschaft zum System Putin und zum nationalen Führer überhaupt nicht Abbruch tun. Umfragen förderten weiterhin zu Tage, dass das Bewusstsein der Menschen stärker von Großmachtgefühlen als vom Absinken des Konsums bestimmt war. Dies wurde mit dem Bild veranschaulicht, dass das Fernsehen immer noch über den Kühlschrank siege, das heißt, dass die Propagandatiraden im staatlichen Fernsehen die Oberhand über die persönlichen Sorgen wegen schrumpfender Inhalte des eigenen Kühlschranks behielten.
Das nationalistische Stimmungshoch in der Gesellschaft hat jedoch eine Kehrseite. Denn die so erzielte Legitimierung des Systems verdrängte andere Formen der Loyalitätsbekundung, auf die auch das System Putin angewiesen war. So ging die Teilnahme an Wahlen drastisch zurück. Dies trat vor allem bei den Dumawahlen im September 2016 deutlich zu Tage, als die Wahlbeteiligung generell von 60,1 Prozent im Jahr 2011 auf nur noch 47,7 Prozent absank. In den Großstädten Moskau und St. Petersburg rutschte sie gar auf nur noch 30 bis 35 Prozent. Vor diesem Hintergrund zeigte sich der Kreml im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom März 2018 bestrebt, mit allen Mitteln eine stärkere Wahlbeteiligung sicherzustellen. So wurden die Wähler mit allerlei Festveranstaltungen und billigen Warenangeboten vor Ort zur Wahlurne gelockt. Dies erinnert an ähnliche Rituale zu Wahltagen in der Sowjetzeit.
Das Dilemma hinter dem sinkenden Interesse der Bürger an einer Wahlbeteiligung ist jedoch grundsätzlicher Art, kennt doch die "gelenkte Demokratie" keinen politischen Wettbewerb. Die "Systemparteien" repräsentieren die Gesellschaft nicht. Unter den Bedingungen einer "Scheindemokratie" kann daher eine politische Mobilisierung der Wähler nur schwer gelingen. Hinzu kommt, dass bei der Zulassung der einzelnen Kandidaten für die Bewerbung um die Präsidentschaft streng darauf geachtet wird, dass keine Person dem Wahlwerber Putin ernsthaft die Schau zu stehlen vermöchte. So wurde der Oppositionelle Aleksej Nawalnij von der Zentralen Wahlkommission von einer Teilnahme ausgeschlossen. Hingegen wurde Xenia Sobtschak, deren Vater einst Putins Mentor und politischer Förderer war, zugelassen. Bei allen grundsätzlichen Einlassungen gegen das Regime bekundet sie selbst, dass ihr Kritik an Putin persönlich nicht zustehe.
Präsidentschaftswahlen verkommen zu Referenden über das in Putin personalisierte Regime. Wie nichtig die Rolle politischer Parteien als intermediäre Kräfte zwischen Staat und Gesellschaft in dem System ist, wird etwa daran ersichtlich, dass sich Putin für die anstehenden Präsidentschaftswahlen nicht von der vorgeblich "regierenden Partei" "Einiges Russland" aufstellen ließ, sondern von einer "Aktionsgruppe" aus 600 Personen. Dabei handelte es sich um bekannte Figuren aus Kultur, Wissenschaft und Sport. Gesucht wurden möglichst "medienfreundliche" und junge Personen, auch aus den Provinzen. Organisatorische Hilfestellung bei dem Aufgebot einer für Putins Wahlbotschaften repräsentativen Gefolgschaft leistete das Patriarchat der Russischen Orthodoxen Kirche. Auch dies war ein kleines Indiz für das enge Band von Kirche und Staat und für die ungebrochene Aktualität des konservativen ideologischen Kurses.
Die Präsidentschaftswahlen vom 18. März 2018 - erfolgreiches Plebiszit für Putin
Die Ergebnisse des jüngsten Plebiszits zugunsten Wladimir Putins übertrafen die Erwartungen der Kremlregisseure. Diese hatten als Zielvorstellung eine Zustimmung für Putin von 70 Prozent und eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent vorgegeben. Nach offiziellen Angaben erhielt Putin jedoch eine noch deutlichere Mehrheit von 76,60 Prozent. Die Wahlbeteiligung kam mit 67,54 Prozent zumindest in die Nähe der gewünschten Vorgabe. Noch in den letzten Tagen vor der Wahl war vor allem im staatlichen Fernsehen intensiv um eine starke Wahlbeteiligung geworben worden. Wie die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Ella Pamfilowa, das Ergebnis kommentierte, sei es letztlich dem momentanen westlichen Druck zu danken gewesen, dass sich am Wahltag immerhin über 67 Prozent der Wähler an den Urnen eingefunden hätten. Sie bezog sich dabei auf die laute Kritik, die seit dem Giftanschlag auf den britisch-russischen Doppelagenten Sergej Skripal am 8. März in Salesbury gegen Wladimir Putin als den ‚mutmaßlichen' Anstifter des Anschlags in London und anderen westlichen Metropolen geäußert worden war. Es ging um den bekannten Reflex, jetzt erst recht die Reihen um den so gescholtenen nationalen Führer Putin zu schließen. Die Zuspitzung der Konfrontation mit dem Westen als dem seit 2012 bevorzugten Mittel der politischen Legitimierung und Massenmobilisierung hatte also prompt die gewünschten politischen Dividenden gebracht.
Fazit
Die hauptsächlichen institutionellen Stützen des Regimes bleiben die Kirche, das Militär und die Geheimdienste. Die Medien sorgen dafür, dass die emotionale Affinität der Gesellschaft zu Putins plebiszitärem System nicht abebbt. Eine vertiefte Identifikation der Bürger mit den propagierten "traditionalen Werten" bleibt dabei freilich aus. Dies zeigen etwa Umfragen, denen zufolge sich heute 77 Prozent als gläubige Christen bezeichnen. Allerdings geben 40 Prozent davon an, gar nicht an Gott zu glauben.
Der getünchte Charakter der neuen staatlichen Ideologie ebenso wie die völlige Aushöhlung der demokratischen Einrichtungen garantiert keine politische Stabilität. Hinzu kommt das Problem der Nachfolge des plebiszitären Führers, dessen Lösung die Achillesferse jedes personalistischen politischen Regimes darstellt. In Putins Russland wird das Problem noch dadurch verschärft, dass Land und Führer gleichgesetzt werden, so wie Wjatscheslaw Wolodin dies im Oktober 2014 zum Ausdruck gebracht hat: ""Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Ohne Putin gibt es kein Russland."
Welche Auswege führen aus dem eingefrorenen Verfassungsstaat und der "gelenkten Demokratie" heraus? Erste konkrete Schritte müssten dahin gehen, zur Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie zum Medienpluralismus zurückzukehren. Dies wären grundlegende Voraussetzungen für die Bildung sozial verankerter politischer Parteien, deren freier Wettbewerb den Wahlen und dem Parlament wieder Leben einflößen könnte. Nicht minder wichtig wäre der Versuch, die in der Verfassung niedergelegten Richtwerte für parlamentarische Repräsentation und Gewaltenteilung zu revitalisieren. Schließlich müssten die Ersatzinstitutionen abgeschafft, die Überhöhung des Präsidentialismus zurückgenommen und das verfassungsmäßig verbriefte parlamentarisch-präsidentielle Mischsystem zur Geltung gebracht werden. Ohne derartige Neuansätze erscheint es müßig, eine allgemeine Modernisierung des Landes zu erwarten.