Wirtschaftseliten und Politik in Russland
Mit Blick auf den rasanten Aufstieg von Großunternehmern mit politischen Verbindungen wurde für Russland in den 1990er-Jahren von der "Kaperung des Staates" gesprochen. Nach seinem Amtsantritt ging Präsident Putin massiv gegen den politischen Einfluss der Oligarchen vor. Seilschaften mit der Politik waren aber weiterhin der beste Weg für wirtschaftlichen Erfolg.
Wirtschaftseliten in der russischen Geschichte
Wirtschaftseliten, verstanden als Großunternehmer, entwickeln sich als eigenständige soziale Gruppe in Europe im Zuge der Industriellen Revolution. Im russischen Zarenreich begann dieser Prozess erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und blieb in seiner gesellschaftlichen Reichweite begrenzt. Zum Ende des Jahrhunderts lebten in Russland immer noch über 85 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande, in Deutschland weniger als die Hälfte.
Mit dem Ende des Zarenreichs, dem folgenden Bürgerkrieg und der Einführung der Planwirtschaft wurde privates Unternehmertum in der Sowjetunion zum Ende der 1920er-Jahre komplett abgeschafft. Die Wirtschaftseliten der Sowjetunion waren Manager großer staatlicher Betriebe. Sie schlossen sich nach Branchen zu informellen Einflussgruppen zusammen. Sie waren aber fest in das sowjetische System integriert. Ihre Posten erhielten – und verloren - sie im Rahmen der von der Kommunistischen Partei organisierten staatlichen Personalpolitik.
Erst mit den Wirtschaftsreformen Ende der 1980er-Jahre wurde privates Unternehmertum wieder legalisiert. Erste Folge war ein Boom von Kleinunternehmern, die vor allem im Handel, aber auch im Baugewerbe und der Industrie aktiv waren. Bis 1993 wurden in Russland fast eine Millionen Unternehmen gegründet. Aufgrund widriger Wirtschaftsbedingungen blieb ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft aber vergleichsweise gering.
Deutlich erfolgreicher waren die Unternehmer, die im Zuge der Privatisierung in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre große Staatsbetriebe übernehmen konnten. Dies waren einerseits die sogenannten roten Direktoren - Manager sowjetischer Betriebe, denen es gelang, den von ihnen geleiteten Betrieb "in die eigene Tasche" zu privatisieren. Andererseits begann Mitte der 1990er-Jahre der Aufstieg der sogenannten Oligarchen, einer kleinen Gruppe Unternehmer vor allem aus dem Finanzbereich, die ihre liquiden Mittel und ihre politischen Verbindungen nutzten, um zu unglaublichen Vorzugspreisen staatliche Unternehmen zu übernehmen. Zwei Jahrzehnte später war die Zahl der russischen Milliardäre auf über 100 gestiegen.
Der Staat wird gekapert
Grundlage für den Aufstieg der Oligarchen in den 1990er-Jahren war die Schwäche des Staates. Neu geschaffene Regulierungen waren oft unvollständig und widersprüchlich. Staatliche Regulierungsbehörden und Gerichte ließen sich regelmäßig von Unternehmern kaufen. Eine Gruppe von Analysten der Weltbank um Joel Hellman hat dieses Szenario, für das Russland nur ein Beispiel unter mehreren ist, als "Kaperung des Staates" (state capture) bezeichnet. Sie beschreiben einen Teufelskreis: Einmal zu Einfluss gelangt, verhindern die Oligarchen marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Reformen, dadurch behalten sie ihren Einfluss und bewirken einen dauerhaften Reformstau.
Sinnbild für die Abhängigkeit der Politik von den Oligarchen wurde in Russland die Präsidentenwahl 1996, die Boris Jelzin gewann, obwohl seine Zustimmung in Umfragen in den zwei Jahren vor der Wahl in der Regel deutlich unter 25 Prozent lag. Oligarchen halfen Jelzins Wahlkampf durch finanzielle Unterstützung und Einflussnahme auf große Massenmedien unter ihrer Kontrolle. Sie wurden seitdem als "Königsmacher" gesehen. Bereits im Vorfeld der Wahl waren sie durch die Bevorzugung in Privatisierungsauktionen für ihre Unterstützung "belohnt" worden. Sie gewannen durch Verfahrenstricks obwohl sie oft das niedrigste Gebot abgaben. Die Gebote besaßen dabei in der Regel nicht einmal den anteiligen Wert von zwei Jahresgewinnen der Unternehmen.
Da zum Ende der Amtszeit Jelzins über ein Viertel der russischen Bevölkerung in Armut lebte, war der auch offen zur Schau gestellte Reichtum der Oligarchen eine schwere Belastung nicht nur für das Image von Jelzin, sondern auch für die öffentliche Wahrnehmung demokratischer Reformen.
Klientelismus unter Putin
Als Jelzins Nachfolger Wladimir Putin direkt nach seinem Amtsantritt im Jahre 2000 begann, die Oligarchen unter Druck zu setzen, war dieses Vorgehen in Russland populär auch wenn rechtsstaatliche Prinzipien massiv verletzt wurden. Exemplarisch zeigen sich alle Aspekte von Putins Vorgehen gegen die Oligarchen in der "Jukos-Affäre", die 2003 begann. Der Unternehmer Michail Chodorkowskij, dessen Bank 1995 die Auktion der Mehrheit am Erdölunternehmen Jukos organisierte und gewann, und der anschließend für seinen rücksichtslosen Umgang mit Minderheitsaktionären bekannt wurde, profitierte eindeutig von korrupten Netzwerken. Die Zerschlagung seines Unternehmens und seine langjährige Inhaftierung wurden aber allgemein nicht als Strafe für seine fragwürdigen Geschäftspraktiken gesehen, die andere Oligarchen noch viel dreister betrieben, sondern als Reaktion auf seine Unterstützung der politischen Opposition gegen Putin.
Entgegen vieler öffentlicher Stellungnahmen Putins ging es bei der Vertikale der Macht aber nicht um die Herstellung von Recht und Ordnung, sondern um die Einordnung in ein klientelistisches System. Dabei wird die Loyalität (nicht die Rechtstreue) der Unternehmer durch staatliche Förderung für ihre Geschäftstätigkeit belohnt. Die Loyalität zeigt sich in Unterstützung für Putin etwa durch Wahlkampfspenden, Medienberichterstattung oder die Garantie, dass alle Angestellten in den eigenen Betrieben für Putin stimmen werden. In Zeiten der Wirtschaftskrise kann Loyalität auch durch Beschäftigungsgarantien auf Anweisung Putins demonstriert werden. Umgekehrt zeigen Analysen der Kosten von Großprojekten, dass Putin nahestehende Unternehmer dem Staat extrem hohe Ausgaben in Rechnung stellen dürfen. Dadurch wird gleichzeitig die Effizienz staatlicher Politik untergraben.
Gesellschaftliche Auswirkungen
Der Aufstieg der Oligarchen seit den 1990er-Jahren hat immense Auswirkungen auf die russische Gesellschaft. Am offensichtlichsten ist der Beitrag zu sozialer Ungleichheit. Nach Berechnungen von Thomas Piketty, einem der prominentesten Wissenschaftler zum Thema, erhalten die reichsten 10 Prozent in Russland seit Mitte der 1990er fast die Hälfte der gesamten Einnahmen der Bevölkerung. Bis zur aktuellen Wirtschaftskrise übertraf Russland damit sogar die USA. In Pikettys Heimatland Frankreich beträgt der Anteil der reichsten 10 Prozent ein Drittel.
Vor allem die Kombination des schnellen Aufstiegs der russischen Oligarchen mit offensichtlicher und umfangreicher politischer Korruption belastet auch die politische Kultur des Landes. Dabei geht es nicht nur darum, dass Politiker allgemein als korrupt angesehen werden, sondern auch darum, dass Demokratie als Russlands politisches System der 1990er-Jahre mit der engen Kombination von Reichtum und politischer Macht und damit fehlender Kontrolle und fehlender Gerechtigkeit verbunden wird.