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Staat und Kultur in Russland | Russland | bpb.de

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Staat und Kultur in Russland

Ulrich Schmid

/ 10 Minuten zu lesen

In Russlands Geschichte sind Staat und Kultur eng miteinander verwoben. Von der ersten Staatsideologie über die Zensur des "Roten Terror" bis hin zur Presse- und Meinungsfreiheit in den 1990ern war die Kulturpolitik tiefgreifenden Veränderungen unterworfen.

Besucher betrachten ein Bild in einer Moskauer Ausstellung zu Alexander Solschenizyn, dessen berühmte Lagererzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" während des kulturpolitischen Tauwetters in den 1960er Jahren erschien. (© picture-alliance/dpa)

In der russischen Kulturgeschichte nimmt der Staat eine besondere Stellung ein. Für den Großteil des russischen Herrschaftsgebiets wurde ein Grundgesetz erst 1905 und eine richtige Verfassung erst 1918 eingeführt. Die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und mithin auch die Definition der Rahmenbedingungen für kulturelles Schaffen erfolgte im europäischen Vergleich sehr spät und erreichte zunächst nur formale, nicht faktische Geltung.

Die erste Staatsideologie unter Iwan dem Schrecklichen

Die erste Staatsideologie in Russland wurde von Abt Joseph Sanin von Wolokolamsk (1440-1515) entworfen. Joseph anerkannte zwar die Menschennatur des Zaren, die Macht des Zaren war aber aus seiner Sicht göttlich. Für die Ausübung der Herrschaft gab es keine Grenzen. Sogar Intrigen und Täuschungen waren explizit erlaubt, um die Orthodoxie im Zarenreich zu schützen. Iwan der Schreckliche (1530-1584) übernahm Josephs Konzeption und erhob sie in den Rang einer Staatsideologie. Iwans josephitische Ansichten treten in der Korrespondenz zwischen dem Zaren und dem abtrünnigen Fürsten Andrej Kurbski (1528-1583) am deutlichsten zutage. Der ehemalige russische Heerführer Kurbski hatte sich aus Angst vor Verfolgung nach Litauen abgesetzt und prangerte im Exil das Terrorregime des Zaren an. Iwan wiederum berief sich in seinen Antworten an den "Hund" Kurbski auf seine absolute Herrschaft. Er verstand seine Regentschaft nicht als "Amt", sondern als göttlichen Auftrag. Der Disput zwischen den Briefschreibern verfügte nicht nur über eine ideologische, sondern auch über eine stilistische Dimension. Andrej Kurbski verwendete eine lateinisch imprägnierte Syntax, während Ivan einen byzantinischen Prunkstil wählte.

Die Grenzen des aufgeklärten Absolutismus

Peter der Große (1672-1725) verwandelte das Zarenreich in ein Imperium. Seine Herrschaft etablierte auch eine Staatskultur, in der das Herrscherlob eine wichtige Rolle spielte. Diese Panegyrik gipfelte in der Regierungszeit Katharinas der Großen (1729-1796), die in den Oden von Michail Lomonossow (1711-1765) und Gawriil Derzhawin (1743-1816) besungen wurde. Katharina vertrat einen aufgeklärten Absolutismus und korrespondierte mit den führenden französischen Intellektuellen ihrer Zeit wie Voltaire, D’Alembert oder Diderot. Außerdem bemühte sie sich um die Schaffung einer literarischen Öffentlichkeit in Russland. Allerdings stieß ihre intellektuelle Neugier bei der Französischen Revolution an eine schroffe Grenze. Katharina ging in ihren letzten Lebensjahren rabiat gegen allzu liberale Geister vor und ließ private Druckereien schließen.

Das 19. Jahrhundert war von einer adligen Regelkultur geprägt, die sich zu Beginn noch ganz auf den Zarenhof ausrichtete. Napoleons Russlandfeldzug führte zu einer grundsätzlichen Besinnung auf die eigene, russische Nationalkultur. Nikolaj Karamsin (1766-1826) hatte sich lange mit dem Gedanken getragen, eine Geschichte Russlands zu verfassen, wagte sich aber als Privatmann nicht an ein solches Unternehmen. Erst die Ernennung zum Hofhistoriographen ermächtigte ihn zu seinem Projekt, das in eine zwölfbändige Geschichte des russischen Staates mündete (1818-1829).

Auch im Bereich der Lyrik dominierte der Hof als wichtigster Bezugspunkt. Wassili Zhukowski (1783-1852) hatte in verschiedenen Gedichten militärische Erfolge Russlands besungen und erwarb sich damit den Ruf eines loyalen Dichters, der das offizielle Literaturideal würdig vertreten konnte. Welch staatstragende Funktion der schriftstellerischen Produktion innewohnte, zeigt sich deutlich in der Tatsache, dass Zhukowski in erster Linie aufgrund seiner literarischen Leistungen zum Erzieher des Thronfolgers ernannt wurde. Damit hatte Zhukowski im Kulturbetrieb eine monopolähnliche Position erreicht. Noch 1845 bat der Chef der Geheimpolizei den alternden Zhukowski um ein Gutachten über die politische Zuverlässigkeit von Nikolaj Gogol, dem eine Unterstützungszahlung ausgerichtet werden sollte.

Dekabristenaufstand und das Buturlin-Komitee

Der Dekabristenaufstand von 1825 markierte eine tiefe Zäsur im Verhältnis zwischen dem Zarentum und den aristokratischen Kulturträgern. Zum ersten Mal zeigte sich, dass die junge Kulturelite nicht selbstverständlich die Autokratie als Staatsform unterstützte. Der Aufstand wurde zwar von Zar Nikolaus I. (1796-1855) niedergeschlagen und fünf adlige Anführer gehängt. Die für die Dekabristen charakteristische Kombination von literarischer Produktion und politischer Unzuverlässigkeit bestimmte aber als Menetekel die Grundsätze der staatlichen Kulturpolitik bis in die 1860er Jahre. Bezeichnend ist der Umstand, dass Nikolaus I. die politische Lyrik der Dekabristen nicht einmal als Beweismaterial aufbewahren wollte: Auf den allerhöchsten Befehl hin wurden die Gedichte aus den Untersuchungsakten entfernt und vernichtet.

Der Staatsdienst verlor nach dem Dekabristenaufstand in den Augen der Kulturträger stark an Attraktivität. Außerdem führte Nikolaj bereits 1826 ein strenges Zensurgesetz ein. Auch die Geheimpolizei begann, die Literaten stärker zu überwachen. Von 1848 bis 1855 gab es mit dem sogenannten Buturlin-Komitee sogar eine Zensur der Zensur: Wenn ein Zensor literarische Texte zu milde urteilte, wurde er bestraft. Eine Entspannung der Situation war erst unter dem "Befreier-Zaren" Alexander II. (1818-1881) möglich. Ganz abgeschafft wurde die Zensur nicht, aber die Verleger mussten ihre Texte nicht mehr im Manuskript den Behörden vorlegen, sondern erst nach dem Druck. Nach der Ermordung des Zaren im Jahr 1881 wurden die Schrauben erneut angezogen. 1882 wurde ein mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattetes Pressekomitee gebildet, in dem neben den Ministern für Inneres, Bildung und Justiz auch der reaktionäre Oberprokuror des Heiligen Synods, Konstantin Pobedonoszew (1827-1907), Einsitz nahm. Der einflussreiche Pobedonoszew war ein enger Vertrauter des autoritären Zaren Alexander III. (1845-1894) und bestimmte nach 1880 für ein Vierteljahrhundert die zaristische Kulturpolitik.

Autonome Prestigeräume

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich immer deutlicher, dass die russische Öffentlichkeit sich autonome Prestigeräume geschaffen hatte. Als prominentestes Beispiel darf Lew Tolstoj (1828-1910) gelten. Seine künstlerische und moralische Autorität stellte die traditionelle, ja anachronistische Zarenherrschaft in den Schatten. Bereits 1886 hatte er einen scharfen Artikel gegen Nikolaus I. verfasst, den er als "Prügelnikolaus" angriff. Noch radikaler äußerte er sich während der Hungersnot von 1891: "Das Volk hungert, weil wir satt sind. Alle Paläste, Theater, Museen, all dieser Tand, alle diese Reichtümer – all dies wurde von dem hungernden Volk erarbeitet. Das Volk wird von uns immer am Hungern gehalten. Das ist unser Mittel, um es für uns arbeiten zu lassen." Selbstverständlich wurde dieser Artikel sofort als "sozialistisch" gebrandmarkt und von der Zensur verboten. Nach der Jahrhundertwende erfolgten Tolstois Interventionen immer häufiger. Unter dem Eindruck von Studentenunruhen, Terrorismus und sozialem Elend griff er wiederholt zur Feder und schickte dem Zaren lange Briefe, in denen er die Aufhebung des Landeigentums, die Abschaffung der Zensur, bessere Bildung für alle und Religionsfreiheit forderte.

Zur offenen Spaltung zwischen der russischen Gesellschaft und dem Zaren kam es im Jahr 1905. Am Petersburger Blutsonntag wurde eine friedliche Demonstration vor dem Winterpalast von der Armee blutig unterdrückt. Mehrere Hundert Menschen kamen dabei ums Leben. Dieses Ereignis beschädigte auch in gemäßigten Kreisen die Reputation des Zaren nachhaltig. Als Folge durchzog eine Interner Link: Streik- und Protestwelle das Land, die erst nach der Einführung von bürgerlichen Grundrechten und der Einrichtung der Duma verebbte. Allerdings handelte es sich bei den Neuerungen des Oktobermanifests von 1905 nur um eine Scheindemokratie: Der Zar löste das Parlament bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf und machte so eine kontinuierliche Gesetzgebungsarbeit unmöglich.

Zensur des "Roten Terror"

Zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution 1917 war die russische Kultur frei von allen Vorschriften. Allerdings waren die Schaffensbedingungen in den Kriegs- und Protestwirren miserabel. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki wurde die Zensur im Rahmen des "Roten Terrors" schnell wieder eingeführt. Lenin selbst hielt sich in kulturpolitischen Fragen zurück, weil er sich mit seinem konservativen Geschmack in diesem Bereich für wenig kompetent hielt. Verbindlich für die ganze Sowjetzeit wurde Lenins Artikel aus dem Jahr 1905 "Parteiorganisation und Parteiliteratur", in dem er das Prinzip der Parteilichkeit der Literatur verankerte. Lenin vertrat damit einen sehr engen Begriff von Pressefreiheit: Alles, was nicht auf der Parteilinie lag, galt als Lüge und Falschinformation. Besonders vehement wandte sich Lenin gegen die bürgerliche Presse, die von den ökonomischen Imperativen des Markts beherrscht werde und deshalb keineswegs als frei gelten könne. Lenin gelangte zum Schluss, dass die literarische Tätigkeit wie ein "Rädchen und Schräubchen" im großen Mechanismus der sozialistischen Gesellschaft funktionieren müsse und sich ganz in die allgemeine Parteiarbeit einordnen solle.

Eine liberalere Position als Lenin vertrat Trotzki. In seinem Buch Literatur und Revolution aus dem Jahr 1923 hielt er fest, dass die Partei "keine festen Positionen in Fragen der Versform, der Evolution des Theaters, der Erneuerung der literarischen Sprache, des Architekturstils hat und auch keine haben kann, genauso wie sie – auf anderem Gebiet – keine festen Positionen über die beste Düngung, die richtige Organisation des Verkehrs und den besten Maschinengewehrmechanismus hat."

Ein wichtiger ZK-Beschluss vom Juni 1925 griff den von Trotzki geprägten Begriff der "Mitläufer" auf. In diese Kategorie fielen jene Autoren, die sich weder positiv noch negativ zur bolschewistischen Regierung positioniert hatten. Die ZK-Resolution forderte zu Toleranz gegenüber den "Mitläufern" auf, die innerhalb der proletarischen "Kulturrevolution" eine qualitätssichernde Rolle spielen sollten.

Sozialistischer Realismus

Mit der Konsolidierung von Interner Link: Stalins Macht in den späten Zwanziger-Jahren zeichnete sich immer deutlicher ab, dass der Diktator den Kulturbetrieb enger an den Staat binden wollte. Stalin war bekannt dafür, dass er immer wieder aktiv in den Kulturbetrieb eingriff und Drehbücher, Theaterstücke und Prosatexte begutachtete. 1932 wurden alle literarischen Vereinigungen zwangsweise aufgelöst und in den neugegründeten sowjetischen Schriftstellerverband überführt. Wenig später wurde auf dem ersten Schriftstellerkongress 1934 das verbindliche ästhetische Programm des "sozialistischen Realismus" definiert. Unter den Dienstschriftstellern gab es auch Intellektuelle, die einen vorsichtigen Kurs zwischen Linientreue und eigener Überzeugung hielten. Ilja Ehrenburg (1891-1967) verfügte während der ganzen Stalinzeit über ausgedehnte Reiseprivilegien und galt als offiziöser Kulturbotschafter der Sowjetunion. Der Preis, den er für diese Rolle zu zahlen hatte, bestand im bewussten Schweigen über Stalins Verbrechen. In seinen Memoiren aus den sechziger Jahren verglich Ehrenburg sein Verhältnis zu Stalin mit dem Verhältnis der Juden zu Gott: "Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass ich Stalin mochte, aber lange Zeit glaubte ich an ihn und fürchtete ihn. Wie alle anderen auch sprach ich von ihm nur als vom Führer."

Kurzes kulturpolitisches Tauwetter

Nach Stalins Tod kam es zu einer kurzen Phase eines kulturpolitischen Interner Link: Tauwetters. Im Jahr 1962 konnte sogar Alexander Solschenizyns Lagererzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch in der größten Literaturzeitschrift des Landes erscheinen. Das heikle Manuskript passierte unter dem Etikett "das Lager aus der Sicht eines Bauern, ein sehr volksnahes Stück" alle internen Barrieren der Sowjetbürokratie und wurde von Nikita Chruschtschow persönlich genehmigt. Allerdings war der Generalsekretär sehr darauf bedacht, die Zügel nicht aus der Hand zu geben: Auch die von den sowjetischen Kulturbehörden orchestrierte Hetze gegen den Nobelpreisträger Boris Pasternak im Jahr 1958 fällt in die Ära Chruschtschow.

Die zunehmende Repression unter Breschnjew wich in den Jahren der Interner Link: Perestrojka einer liberaleren Kulturpolitik. Allerdings sprach sich auch Gorbatschow noch lange gegen die Publikation von Solschenizyns Lagerenzyklopädie Archipel Gulag aus, die er als "antisowjetisch" bezeichnete. Allerdings erodierte die kulturpolitische Disziplin von den Rändern des Sowjetimperiums her. Die ersten Solschenizyn-Ausgaben erschienen im Baltikum. 1990 kam es bei der von der Zensur zurückgehaltenen Literatur zu einem Dammbruch. Die Werke der verbotenen Autoren wurden in den führenden Zeitschriften gedruckt und erreichten Millionenauflagen.

Presse- und Meinungsfreiheit in den 1990ern

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems herrschte in den neunziger Jahren absolute Presse- und Meinungsfreiheit in Russland. Oligarchen bauten einflussreiche Fernsehkanäle auf, in denen sehr kritisch über die Regierung berichtet wurde. Nach dem Amtsantritt von Präsident Putin änderte sich die Situation rasch. Als die Besatzung des U-Boots "Kursk" im Sommer 2000 nach einem Unfall ums Leben kam, reagierte Putin sehr ungeschickt und zu spät. Die Medien kritisierten den Präsidenten als gefühllos und passiv. Der Kreml reagierte umgehend mit der Gleichschaltung der unabhängigen Fernsehkanäle. Der Eigentümer von NTV, Wladimir Gusinski, wurde unter einem Vorwand verhaftet und im Gefängnis gezwungen, seinen Sender an den Energieriesen Gasprom zu verkaufen. Heute sind alle russischen Fernsehkanäle entweder staatlich oder gehören staatsnahen Holdings. Der ehemals kritische Sender NTV hat sich zum Propaganda-Sprachrohr der Regierung gewandelt.

Konstruktion eines konservativen Kulturideals als "Nationale Sicherheitsstrategie"

Mit der dritten Amtszeit von Präsident Putin hat sich die kulturpolitische Linie noch einmal verschärft. Die politische Aktionskunst von "Interner Link: Pussy Riot" und Pjotr Pawlenski wurde mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt. Die Polittechnologen schwören die Gesellschaft auf ein konservatives Kulturideal ein. Seit 2013 ist die Propagierung von Homosexualität gegenüber Minderjährigen verboten. Das neue Gesetz führt dazu, dass Homosexualität in Kulturproduktionen nicht mehr thematisiert werden darf. Auch die Interner Link: Verhaftung des homosexuellen Regisseurs Kirill Serebrennikow ist vor diesem Hintergrund zu sehen. 2014 untersagte die Duma die Verwendung von Schimpfwörtern in Kunstwerken. Andrej Swjaginzews preisgekrönter Film Leviathan musste darauf für die russischen Kinos nachsynchronisiert werden. In aktuellen Fernsehserien wird nicht-normative Sprache konsequent durch Piepstöne gelöscht. Die "Nationale Sicherheitsstrategie" vom 31. Dezember 2015 widmet der Kultur ein ganzes Kapitel. Als Sicherheitsziel wird darin die Bewahrung und Verstärkung der "traditionellen russischen geistig-moralischen Werte" genannt. Darunter fallen unter anderem der "Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen", die "schöpferische Arbeit" und der "Dienst am Vaterland". Diese Werte bilden die Grundlage der Gesellschaft. Kinder und Jugendliche sollen in diesem Sinn zu Staatsbürgern erzogen werden.

Auch das Internet, das lange Zeit als Raum relativer Freiheit galt, ist in der letzten Zeit stärker ins Visier der russischen Behörden geraten. Der Straftatbestand des "Extremismus" wird sehr weit ausgelegt und kann bereits für das Liken von regierungskritischen Inhalten zur Anwendung gelangen. Mittlerweile sind auch Anonymisierungstechologien verboten. Wer seine Spuren in den russischen Social Media zu verdecken versucht, macht sich strafbar. Überhaupt sind alle Anbieter von Webservices verpflichtet, ihre Kundendaten auch physisch in der Russischen Föderation zu hosten. Damit soll der Zugriff der Geheimdienste auf den gesamten Internetverkehr gewährleistet werden.

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen, Schweiz. Zudem ist er Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung.