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Buenos Dias Argentina: WM zwischen Triumph und Folter

Ronny Blaschke

/ 10 Minuten zu lesen

Die Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien fand in einer Militärdiktatur statt, die 30.000 Leben kostete. Die Gleichgültigkeit von Verbänden wie dem DFB stärkte das Selbstbewusstsein des Folterregimes, doch inzwischen hat Argentinien die wohl lebendigste Zivilgesellschaft Lateinamerikas.

Mitglieder der Menschenrechtsorganisation "Großmütter des Platzes der Mairevolution" und "Mütter des Platzes der Mairevolution" halten ein Banner mit den Bildern von Verschwundenen. (© picture-alliance/AP)

An einer Ausfallstraße im Norden von Buenos Aires hatte die Esma, die Escuela de Mecánica de la Armada, ihren Platz, die Mechaniker-Schule der Marine. Ein 17 Hektar großes Gelände mit 34 Gebäuden. Während der Militärdiktatur war hier das größte Folterzentrum untergebracht. Häftlinge wurden betäubt und später lebendig über dem Río de la Plata abgeworfen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen fielen der Diktatur zwischen 1976 und 1983 rund 30.000 Menschen zum Opfer, die meisten gelten als "Desaparecidos", Verschwundene. Die Politikwissenschaftlerin Luciana Bertoia kann dort zu jeder Stelle eine traurige Geschichte erzählen.

Seit 2005 beherbergt das Areal ein Kulturzentrum mit Museen, Gedenkstätten und neun Menschenrechtsbüros. "Die Aussagen von 950 Zeitzeugen helfen uns, um die Vergangenheit besser zu verstehen", erzählt Bertoia mit leiser Stimme. Sie arbeitet für die NGO "Memoria Abierta", die offene Erinnerung. Insgesamt wurden in der Esma 5.000 Menschen gefangen gehalten. Vielen Frauen wurden Säuglinge geraubt, die dann bei Militärfamilien aufwuchsen. Erst vor wenigen Jahren hat eine der Aktivistinnen ihren Enkelsohn kennengelernt, er war während der WM 1978 in der Esma geboren worden.

Im Obergeschoss führt Luciana Bertoia durch eine Ausstellung über den Sport in der Diktatur. Zwischen weißen, rissigen Wänden sind schwarze, klobige Stelen aufgebaut, dazwischen kleine Bildschirme, Zeitleisten und Jubelfotos des Fußballs, auch Kurzbiografien von "verschwundenen" Sportlern. Eine Karikatur zeigt elf muskelbepackte Spieler, die Soldatenhelme und Gasmasken tragen. Eine andere porträtiert Fußballfunktionäre in dunklen Anzügen, die sich mit beiden Händen ihre Augen verdecken. Aus den Lautsprechern tönt die WM-Eröffnungsrede von Jorge Rafael Videla, damals General und Vorsitzender der Militärjunta. Salbungsvolle Worte, begleitet von Applaus und Friedenstauben. Luciana Bertoia und ihre Kollegen haben Forschungen im Fußball angestoßen. Sie sagt, dass Sport in der Erinnerungskultur keine große Rolle spiele. Das möchte "Memoria Abierta" mit Dokumenten und Erzählungen ändern. "Der Fußball kann bei jungen Menschen eine emotionale Bindung zum Thema herstellen."

Die Fifa schaute über Staatsstreiche hinweg

Als Argentinien am 25. Juni 1978 Weltmeister wurde, glaubte das Regime fest an seine Macht. Das Monumental Stadion, in dem das Finale stattfand, lag wenige hundert Meter von der Esma entfernt. Hinweise auf das Folterzentrum waren beseitigt worden. Zehntausende Menschen feierten ausgelassen auf den Straßen. "Ein Wachmann fuhr mit Häftlingen durch die Straßen, er wollte sie demütigen", berichtet Luciana Bertoia. "Niemand traute sich, um Hilfe zu rufen. Vermutlich hätte ihnen ohnehin niemand geglaubt." Die Aktivisten möchten solche Geschichten jungen Menschen erzählen, die in demokratischen Verhältnissen aufgewachsen sind, sie wollen auf Schulen und Vereine zugehen. "Sie sollen wissen: der Preis für den WM-Triumph war hoch."

Es gibt wenige Sportereignisse, die so intensive politische Debatten ausgelöst haben wie die WM 1978. Das Turnier war bereits zwölf Jahre zuvor nach Argentinien vergeben worden, am 6. Juli 1966. Nahezu alle politischen Parteien freuten sich darüber, auch linke und rechte Extremisten, eine Seltenheit in Argentinien. Zwei Wochen nach der Vergabe wurde der demokratisch gewählte Präsident Arturo Illia von bewaffneten Polizisten zum Rücktritt gezwungen. Fast jede demokratische Regierung Argentiniens musste im 20. Jahrhundert gewaltsam einem Militärregime weichen. Die Fifa schaute über diese brüchigen Verhältnisse hinweg, auch nach dem Putsch gegen Präsidentin Isabel Perón am 24. März 1976, zwei Jahre vor der WM. Doch das Militär hatte schon vor dem Putsch einen Schattenstaat aufgebaut. Ihre 340 Folterzentren trugen verschleiernde Namen: "Athletischer Klub", "Olymp" oder "Vesuv".

1976 wurden laut Dokumenten und Zeugenbefragungen 3525 Menschen verschleppt, 1977 waren es 2746. Im Jahr der WM hatte die Junta die meisten Kritiker bereits aus dem Weg geräumt, 797 Menschen wurden noch inhaftiert, 63 während des Turniers.

Heute sind die Schicksale gut dokumentiert, in den Buchhandlungen von Buenos Aires füllt die Literatur über die Diktatur meterlange Regale. "Doch bis 1978 hat sich Europa nicht für Argentinien interessiert", sagt der Autor Matías Bauso. "Als Problemland Südamerikas galt Chile unter Pinochet." Bauso hat in den vergangenen fünf Jahren die politischen Umstände der WM recherchiert, seine 1000 Seiten starke Oral History des Tuniers ("78. Historia oral del Mundial") ist im Frühjahr 2018 in Argentinien erschienen.

Vor allem in Frankreich, Schweden und in den Niederlanden wurde gegen die Weltmeisterschaft protestiert. Bei Auswärtsspielen wurde das argentinische Team mit kritischen Transparenten empfangen. Amnesty International verfasste eine Broschüre: "Fußball ja – Folter nein". Der Schriftsteller Walter Jens empfahl "keine Anbiederei beim Regime". (https://www.zeit.de/1978/18/buenos-dias-argentina/komplettansicht) Auch von Boykott wurde gesprochen. Doch dieses Druckmittel kam erst zwei Jahre später zum Tragen: 42 Nationen blieben den Olympischen Sommerspielen 1980 Moskau fern, aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan.

Für den DFB-Präsidenten bot der Putsch "nur Vorteile"

Und wie reagierten die Deutschen? Die WDR-Dokumentation "WM-Sieg unter Folter" aus dem Jahr 2014 bündelte Zitate von Nationalspielern zur Politik in Argentinien. Rüdiger Abramczik sagte: "Wenn ich spielen sollte, habe ich mit mir selber Probleme. Und dann kann ich mich um diese Angelegenheiten nicht kümmern." Ronnie Worm: "Das ist eine Sache der Regierung. Da haben wir überhaupt nichts mit zu tun." Klaus Fischer: "Die politischen Zustände in Argentinien interessieren mich überhaupt nicht." Quasi als Begleitmusik dazu sang Udo Jürgens: "Buenos Dias Argentina. Komm’, wir reichen uns die Hand. So heißt meine Melodie, und sie soll uns zwei verbinden mit dem Band der Harmonie." Das Lied stand in der deutschen Hitliste vier Wochen auf Platz eins.

Argentinien war in den 1970er Jahren ein geachteter Partner der Bundesrepublik, viele deutsche Firmen waren mit Niederlassungen in Buenos Aires vertreten. Am 5. Juni 1977 sollte ein Freundschaftsspiel des deutschen Nationalteams gegen Argentinien diese Beziehungen in Buenos Aires unterstreichen. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Spitzen aus der deutschen Botschaft und dem DFB bereits, dass die deutsche Staatsbürgerin Elisabeth Käsemann am 24. Mai 1977 von Militärs getötet worden war. Das Spiel ging nach einem Schweigeabkommen über die Bühne. Die ARD-Dokumentation "Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.?" des Filmemachers Eric Friedler von 2014 zeichnete nach, dass Käsemann durch stärkeren diplomatischen Einsatz auch hätte gerettet werden können.

Als Symbolfigur der Seilschaften wirkte Hermann Neuberger, zwischen 1975 und 1992 Präsident des DFB. Der Fernsehkommentator Erich Laaser, seit 1999 Präsident des Verbandes Deutscher Sportjournalisten, zitierte Neuberger in seiner Politik-Diplomarbeit von 1978/79 so: "Ganz gleich, wie man ihn (den Putsch) bewertet, für uns hat er nur Vorteile gebracht. Wir jedenfalls haben dadurch Partner mit Durchsetzungsvermögen bekommen, die auch über die notwendigen Mittel verfügen."

Während der WM 1978 diente dem deutschen Team als Quartier ein abgeschotteter Komplex der argentinischen Luftwaffe in Ascochinga. Zu Besuch war hier auch Hans-Ulrich Rudel. Der frühere Wehrmachtsoffizier hatte sich 1948 nach Argentinien abgesetzt, wo die NSDAP in den 1930er Jahren ihre größte Auslandsorganisation gehabt hatte. Rudel baute nun eine Hilfsorganisation für NS-Angehörige auf.

Es gab auch vereinzelte kritische Töne, zum Beispiel vom deutschen Nationalspieler Paul Breitner, von dem die Forderung "Verweigert den Generälen den Handschlag" überliefert ist. Doch alles in allem wertete die Gleichgültigkeit der deutschen Delegation die Militärjunta auf. Sie drohte einem kritischen ARD-Reporter sogar mit der Ausweisung. In Argentinien selbst gab es während der WM keine nennenswerten Proteste. Mit wenigen Ausnahmen.

Siebzig Prozent der Argentinier feierten auf den Straßen

Die Plaza de Mayo, der zentrale Platz in Buenos Aires, wird von der Casa Rosada gesäumt, dem rosafarbenen Präsidentenpalast. Zwischen hetzenden Geschäftsleuten und Touristen bauen Aktivisten eine kleine Bühne auf, davor zwei Lautsprecher und Klapptische mit Broschüren. Langsam füllt sich der Platz mit Menschen aus allen Altersgruppen. Sie tragen Transparente mit Friedensbotschaften, verteilen Flugzettel und Broschüren. Und sie jubeln, als von der Westseite ein Kleinbus auf den Platz einbiegt, darin sitzen Frauen mit weißen Kopftüchern, sie sind zwischen achtzig und neunzig Jahre alt.

Noch immer treffen sich an jedem Donnerstagnachmittag die Madres de Plaza de Mayo, eine der bekanntesten Menschenrechtsorganisationen Lateinamerikas. Der Applaus und die Sprechchöre ihrer Anhänger übertönen den Lärm der knatternden Busse. Im April 1977 hatten die Mütter erstmals öffentlich Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder gefordert, viele von ihnen hatten keine politische Vorbildung. Da Proteste im Stehen verboten waren, drehten sie einige Runden auf dem Platz. So auch am 1. Juni 1978, als Weltmeister Deutschland gegen Polen in Buenos Aires die WM eröffnete.

Der Autor Matías Bauso hat jenen Tag in seinem Buch rekonstruiert: Die Stadt war wie leergefegt, alle saßen vor dem Fernseher. Doch auf der Plaza de Mayo trafen sich zwanzig Frauen mit den Fotos ihrer verschleppten Söhne. Mit dabei war ein holländisches Kamerateam, das einen kritischen Fernsehbericht drehte. Das sprach sich herum, und so schickten eine Woche später alle großen europäischen Fernsehsender Kamerateams auf die Plaza de Mayo. "Aber dieses Mal kamen keine Frauen auf den Platz", schildert Bauso. "Sie wurden von der Polizei vorher aufgehalten."

Die WM 1978 hat Mythen hervorgebracht. So sollen europäische Spieler aus Solidarität auf der Plaza de Mayo gewesen sein, doch dafür hat Bauso keine Belege gefunden. Besonders umstritten ist das entscheidende Zwischenrundenspiel Argentiniens gegen Peru. Die Partie wurde auf den Abend verlegt. Da wusste der Gastgeber, dass für den Finaleinzug ein Sieg mit vier Toren Unterschied nötig war, sonst hätte der große Rivale Brasilien das Endspiel erreicht. Argentinien schlug Peru 6:0. Nach dem Einzug ins Finale feierten schätzungsweise siebzig Prozent der argentinischen Bevölkerung auf den Straßen, auch im Süden des Landes, wo die Temperaturen im Wintermonat Juni auf sechs Grad gefallen waren. "So etwas hatte es noch nicht gegeben", sagt Bauso. "Als einige Mitglieder der Junta diese hemmungslosen Menschenmassen sahen, wuchs ihre Sorge vor dem Machtverlust, aber das stellte sich bald als unbegründet heraus."

Neue Kommentare und Dokumente rücken die WM in ein anderes Licht

Der damalige militärische Präsident General Jorge Rafael Videla im Jahr 1978. (© AP)

General Videla hatte bis 1978 nie Interesse an Fußball gezeigt. Zur WM wurde in Argentinien das Farbfernsehen eingeführt. Videla verfolgte alle Spiele Argentiniens auf der Ehrentribüne. Ob Militär oder Bevölkerung, alle jubelten über das 3:1 nach Verlängerung im Finale gegen die Niederlande. Selbst viele der 500.000 argentinischen Exilanten in Paris, London oder Mexiko hielten sich nun mit Kritik zurück. Historiker mutmaßen, dass Videla eine freie Präsidentschaftswahl am Tag nach dem Endspiel hätte gewinnen können. Was zu einer wichtigen Frage führt, die bis in die Gegenwart reicht: Haben Sportereignisse langfristig den Propagandaeffekt, den sich Autokraten und Diktatoren erhoffen?

Am 7. September 1979 gewann Argentinien mit Diego Maradona die Junioren-WM in Japan. Zur gleichen Zeit traf eine internationale Kommission in Buenos Aires Opfer der Diktatur. Ein bekannter Sportjournalist rief im Radio feiernde Fußballfans dazu auf, die "Verschwundenen" anzuprangern. Matías Bauso fand aber sonst nur wenige Belege dafür, dass der Fußball den Nationalismus stärkte: "Die Propaganda hat innenpolitisch nicht lange funktioniert. Die WM war für viele ein schönes Fest, aber nicht mehr. Und außenpolitisch haben die Täuschungsversuche der Junta nichts gebracht. Die Madres de Plaza de Maya waren plötzlich in ganz Europa auf den Titelseiten." Die Mütter erhielten viele Spenden, gründeten eine eigene Zeitung, bauten eine Akademie auf.

Die WM dauerte 24 Tage, doch bis heute scheint ist sie nicht wirklich beendet zu sein. Neue Kommentare, Fotos, Dokumente rücken einige Spiele und Gesten in ein anderes Licht. Ein Beispiel ist das Zwischenrundenspiel: Wurden die Peruaner in der Kabine von General Videla beeinflusst? Vielleicht sogar von dessen Ehrengast Henry Kissinger, dem ehemaligen US-Außenminister? Ließ Argentinien für einen hohen Sieg peruanische Oppositionelle beseitigen? Es gibt Anhaltspunkte, aber keine stichhaltigen Beweise.

Der renommierte argentinische Sportjournalist Ezequiel Fernández Moores hat lange Interviews mit den argentinischen Weltmeistern geführt, er sagt über Trainer César Luis Menotti: "Ich habe seine Haltung lange kritisch gesehen und mich gefragt: Hätte er die Junta deutlicher kritisieren müssen? Aber mit der Zeit bin ich verständnisvoller geworden. In den vergangenen Jahren wirkt seine Haltung auf mich etwas negativer. Auch die meisten Spieler möchten nicht mehr über die Diktatur sprechen. Sie sagen, sie mussten ihren Job erfüllen – und sie wussten nichts von den Folterzentren."

Argentinien möchte die WM 2030 ausrichten

César Luis Menotti war 1978 Anhänger der kommunistischen Partei, ein Querkopf von nicht einmal 40 Jahren. Er unterschrieb Appelle in Zeitungen, die nach dem Schicksal der Verschwundenen fragten. Er betonte bei der WM: Wir spielen für die Menschen. Er sagte nie: Wir spielen für das Militär. Nach dem Finale verweigerte Menotti angeblich den Handschlag mit Diktator Videla. Andere Beobachter sagen, das Gedränge auf dem Rasen habe das unmöglich gemacht. Endspielgegner Holland blieb dem feierlichen Bankett fern, angeblich aus Protest. Oder doch, weil der Bus im Verkehr stecken blieb?

Das Militärregime in Argentinien konnte nach dem verlorenen Krieg um die Falklandinseln 1982 gegen Großbritannien seine Macht nicht mehr halten. Der 1983 frei gewählte Präsident Raúl Alfonsín ging die juristische Aufarbeitung an. Doch schon 1986 verabschiedete das Parlament das "Schlussstrichgesetz", das weitere Anklagen ausschloss. Alfonsíns Nachfolger, Carlos Menem, begnadigte sogar verurteilte Junta-Mitglieder. Er paktierte mit dem Militär, aus Sorge vor einem sechsten Putsch seit 1930. In den 1980er Jahren wurde wenig über die WM 1978 gesprochen. Die Generation der Weltmeister 1986 um Diego Maradona galt als Ablenkung von der Wirtschaftskrise. Von aktuellen Stars wie Lionel Messi hat man zur WM 1978 noch nichts gehört. Argentinien möchte die WM 2030 ausrichten, gemeinsam mit Paraguay und Uruguay. Es wäre eine Chance, sich auch im Fußball kritisch der Geschichte zu stellen. Denn es hängt auch von der künftigen Generation in Politik und Zivilgesellschaft ab, wie man die WM 1978 bewertet.

freier Autor und Journalist, schreibt u.a. für die Süddeutsche Zeitung und verfasste das Buch "Angriff von Rechtsaußen - Wie Neonazis den Fußball missbrauchen."