Freiheit von Forschung und Lehre
Nach dem Beginn der russischen Vollinvasion im Februar 2022 ist die Wissenschaftsfreiheit ganz erheblich beschnitten worden (siehe Interner Link: Grafik 1). Russland gehört jetzt weltweit zu den 20 Prozent der Länder mit der geringsten Wissenschaftsfreiheit. Der großangelegte Angriffskrieg ging mit einer umfassenden ideologischen Neuausrichtung der Hochschulbildung in Russland einher. Die Unterdrückung andersdenkender Lehrkräfte und Studierender wurde intensiviert. Das führte dazu, dass Russland in den Indizes zur Freiheit der Lehre und der Forschung erheblich zurückfiel. Wissenschaftler:innen werden Opfer von (Selbst-) Zensur sowie verwaltungsrechtlicher oder gar strafrechtlicher Verfolgung.
Seit 2022 werden im russischen Hochschulwesen verstärkt "traditionelle Werte" propagiert, insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Ganze Forschungsbereiche wie etwa Gender– oder Queerstudies wurden als "den Werten des russischen Volkes fremd" eingestuft. Sie sind anschließend entweder zwangsaufgelöst oder auf euphemistische Weise unbenannt worden. Die Vermittlung von Menschenrechten ist vollkommen unmöglich geworden. Forschung und Lehre von Politikwissenschaft und Soziologie in Bezug auf das derzeitige politische Regime und dessen Merkmale wird zunehmend problematisch, hauptsächlich durch staatlich geförderten "Patriotismus", der sich auf militaristische Propaganda und antiwestliche Stimmungen stützt. Die aggressive Geschichtspolitik der Russischen Föderation hat historische Forschungen zum 20. Jahrhundert zu einem riskanten Unterfangen gemacht. Der russische Staat zwingt die Hochschulen und Universitäten, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen und zu legitimieren. Das erfolgt vorwiegend durch neu eingeführte Kurse zu den "Grundlagen der russischen Staatlichkeit" und zu einer "Geschichte Russlands", in denen ein aggressives antiukrainisches Narrativ vermittelt wird.
Durch neue Gesetze wurde im Land praktisch Kriegszensur eingeführt, wobei sich Wissenschaftler:innen wegen ihrer Forschung und ihrer Lehre einer drohenden Strafverfolgung gegenübersehen (siehe Interner Link: Grafik 6). Gemäß dem "Fake News-Gesetz" (zum § 207.3 des Strafgesetzbuches, eingeführt am 04. März 2022) kann die Verbreitung von "Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation" mit bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. "Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation" (§ 280.3 des Strafgesetzbuches) kann mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden. Ein Aufruf zu restriktiven Maßnahmen (also Sanktionen) gegen Russland kann laut Paragraf 284.2 des Strafgesetzbuches seit dem 4. März 2022 mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Seit April 2022 ist ein Vergleich der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland mit Geldstrafen belegt.
2012 war der Status des "ausländischen Agenten" eingeführt worden, mit dem russische NGOs versehen wurden, die Gelder aus dem Ausland erhalten. Später, 2015, wurden diese Maßnahmen durch das Konzept der "unerwünschten Organisation" ergänzt, deren Tätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation verboten wurde. Das bedeutete für viele Bildungs– und Forschungsprojekte, die Zuwendungen aus dem Ausland erhielten, eine Einschränkung. 2017 wurde das Konzept des "ausländischen Agenten" ausgeweitet und betraf nunmehr Medienportale und später auch einzelne Personen. Seit 2021 sind "ausländische Agenten" nicht mehr berechtigt, irgendeine Form von Bildungsarbeit zu unternehmen. Das diskriminierende Gesetz über "ausländische Agenten" beeinträchtigt weiterhin die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Zahl der Wissenschaftler:innen, die als "ausländische Agenten" eingestuft wurden, ist seit 2022 drastisch gestiegen. 2021 noch waren nur zwei Wissenschaftler:innen als "ausländische Agenten" gelistet. Mitte 2024 waren es bereits 48 Wissenschaftler:innen und zwölf Wissenschaftseinrichtungen (siehe Interner Link: Grafik 4). Sie alle verloren formal ihr Recht, in Russland zu unterrichten. Das Gesetz untersagt den Betroffenen zwar nicht, in anderen akademischen Bereichen als der Lehre aktiv zu sein, auch nicht in der Forschung. In der Praxis haben jedoch alle "ausländischen Agenten" umgehend ihre Stelle an der Universität verloren.
Eine erhebliche Anzahl russischer Wissenschaftler:innen hat das Land verlassen. Zielländer sind vor allem jene Staaten, in die Menschen aus Russland visafrei einreisen können: Kasachstan, Georgien, Armenien, die Türkei, Serbien und Montenegro. Einige Schätzungen lassen den Umfang der Emigration erahnen: Die Studie von "The Bell" kommt zum Beispiel zu dem Schluss, dass die Zahl der kürzlich aus Russland Emigrierten rund 650.000 beträgt. Der "Novaya Gazeta Europe" zufolge haben seit Februar 2022 mindestens 2.500 Wissenschaftler:innen das Land verlassen. Eine Analyse der Daten von ORCID zu Veränderungen bei der Affilierung ergibt, dass die genannten visafreien Zielländer keine Möglichkeiten zur Fortsetzung der akademischen Karriere bieten. Aus der Analyse geht auch hervor, dass 15 Prozent derjenigen, die seit Februar 2022 ihren Arbeitsplatz gewechselt haben, nun eine Affiliation mit einer Institution in Deutschland nannten, bei 7 Prozent war es Israel, bei 4 Prozent Kasachstan, bei 4 Prozent China, bei unter 4 Prozent Italien und bei 3 Prozent Spanien. Ein Anteil von sieben Prozent ist über eine Reihe postsowjetischer Staaten verteilt. Trotz einer beträchtlichen Emigration von Russ:innen nach Serbien und Montenegro sowie in die Türkei treten diese Länder bei den Beschäftigungspfaden der Emigrant:innen kaum in Erscheinung.
Aus Daten von OVD-Info geht hervor, dass es sich von 220 Fällen politisch motivierter Verfolgung von Lehrkräften an Hochschulen und Schulen bei 41 Prozent um Druck durch Polizei und Justiz und bei 40 Prozent um Druck durch die Hochschulverwaltungen handelt. 18 Prozent der registrierten Fälle umfassten direkten Druck auf Lehrkräfte und Schulverwaltungen durch "Z-Aktivist:innen" (also Personen, die aktiv den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstützen).
Die Praxis des Denunzierens tritt gehäufter auf, was eine Verfolgung von Professor:innen und Studierenden nach sich zieht, die eine kritische Haltung zum Krieg haben. Das Monitoring von OVD-Info ergab 54 Fälle, in denen Universitätsdozent:innen unter Druck gesetzt wurden, und darunter in 17 Fällen aufgrund von Denunziationen, vor allem durch Studierende. So wurde Irina Sedelnikowa, eine Professorin an der Filiale der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung (RANEPA) in Nischnij Nowgorod von Studierenden denunziert und dann zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt: Sie habe "ihre Stellung ausgenutzt", um Äußerungen über ukrainische Kinder zu machen, die durch das Vorgehen der russischen Armee ums Leben kamen.
Diese Daten verweisen auf eine systematische Einmischung staatlicher Behörden in die Wissenschaft. Ebenso machen sie die starke Beteiligung der Hochschulverwaltungen an politischer Kontrolle und Zensur deutlich. Die Daten zeigen auch, dass der Druck auf Wissenschaftler:innen nicht nur von oben erfolgt, sondern ebenso von unten, durch illiberale politische Graswurzelbewegungen.
Die Methoden, mit denen Wissenschaftler:innen verfolgt werden, sind vielfältig. Neben verwaltungsrechtlichen Verfahren und Strafverfahren werden sie auch jenseits der Justiz unter Druck gesetzt, etwa durch anonyme Drohungen, Belästigung im Internet, Verhöre und Durchsuchungen, Festnahmen ohne Anklage, Auflösung ihrer Organisation, Suspendierung als Dozent:in, Entlassung, Beschädigung ihres Eigentums, Einstufung als "ausländische:r Agent:in", Nötigung zu Entschuldigungen oder durch Zensur. Zu den Maßnahmen von Polizei und Justiz gehören "präventive Gespräche" mit Beamt:innen oder die Drohung mit Strafverfahren. Universitätsverwaltungen reagieren auf Aktivismus gegen den Krieg und ähnliche zivilgesellschaftliche Betätigung von Dozent:innen und Studierenden mit der Drohung, Arbeitsverträge nicht zu verlängern, und mit informellen "präventiven Gesprächen" mit der Universitätsverwaltung. Auch werden einzelne Fälle vor Ethikkommissionen verhandelt, die oft in eine Exmatrikulation oder Entlassung "wegen Verstößen gegen den Ethikkodex" münden. In diesem System spielen Aktivist:innen, die den Krieg unterstützen, eine gesonderte Rolle. Sie durchkämmen die sozialen Medien nach Anzeichen von "staatsfeindlicher Betätigung" von Dozent:innen und Studierenden und senden Berichte an die Polizei und die Universitätsverwaltung. Diese Aktivist:innen drohen den Betroffenen auch unmittelbar, um sie einzuschüchtern. Durch diesen vielseitigen Druck sehen sich Wissenschaftler:innen gezwungen, entweder ihre Arbeit oder ihr Land zu verlassen; eine weitere Folge kann Selbstzensur sein.
Freiheit des wissenschaftlichen Austauschs und der Verbreitung von Forschungsergebnissen
Der großangelegte Einmarsch Russlands in die Ukraine hatte schwerwiegende Folgen für die Freiheit des wissenschaftlichen Austauschs und die Verbreitung von Forschungsergebnissen: Nach dem 24. Februar 2022 haben viele internationale Forschungseinrichtungen und Wissenschaftsverlage wie etwa "Brill", "Elsevier" und "Springer" umgehend ihre Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftler:innen ausgesetzt. Publikationen von russischen Wissenschaftler:innen wurden beschränkt. Gleichzeitig übten die russischen Behörden Druck auf russische Autor:innen aus, indem sie ihnen "empfahlen", nicht in Zeitschriften von "Elsevier" zu veröffentlichen. Diese würden angeblich die Open-Access-Gebühren einsetzen, um die Ukraine zu unterstützen, und das werde von der russischen Gesetzgebung als "Hochverrat" betrachtet. (siehe Interner Link: Grafik 3) Die Zahl russischer Wissenschaftler:innen, die an internationalen Konferenzen teilnehmen, ist beträchtlich zurückgegangen. Das ist auf finanzielle Schwierigkeiten zurückzuführen wie auch darauf, dass russische Universitätsverwaltungen das direkt untersagen, und dass international eine Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftler:innen, die mit russischen staatlichen Institutionen verbunden sind, ausgesetzt wurde. Um weiterhin an internationalen akademischen Veranstaltungen teilnehmen zu können, melden sich Wissenschaftler:innen, die mit staatlichen Institutionen affiliiert sind, bei Konferenzen oft als unabhängige Forscher:innen an und geben ihre offizielle Affiliation gar nicht erst preis.
Eine Reihe russischer Universitäten, etwa Skolkowo oder das Moskauer Institut für Physik und Technologien (MIPT), wurden auf die Liste sanktionierter Institutionen gesetzt, weil sie mutmaßlich an einer technologischen Unterstützung für den Krieg gegen die Ukraine beteiligt waren und sind. In mehreren Fällen wurden die Sanktionen auf deren Absolvent:innen ausgedehnt. So weigerte sich die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich, russische Absolventen sanktionierter Institutionen in ihre Masterprogramme aufzunehmen.
Im Juli 2022 zog sich Russland aus dem Europäischen Hochschulraum (EHEA) zurück, wobei es offiziell aus dem Bologna-System ausstieg und die Schaffung eines "national ausgerichteten" Hochschulsystems verkündete, das auf den "besten Vorzeigebeispielen russischer Hochschulbildung" basieren soll. Trotz offizieller Statements über die Errichtung eines "einzigartigen Bildungssystem" ist bislang nichts Erwähnenswertes unternommen worden, wenn man von einem Pilotprojekt an sechs Universitäten absieht. Dort wird der Abschluss als "Spezialist" wieder eingeführt (dieser Abschluss war typisch für das postsowjetische russische Hochschulsystem, bis Russland sich dem Bologna-Prozess anschloss).
Ideologische Trends haben einen direkten Einfluss auf wissenschaftliche Publikationen. Einige Begriffe wie etwa "Autoritarismus" (bezogen auf das russische politische System) sind bereits vor 2022 praktisch aus russischen wissenschaftlichen Publikationen verbannt worden. Es wurden auch systemische Hindernisse für die Veröffentlichung von Artikeln zu LGBTQ+-Themen in russischen wissenschaftlichen Zeitschriften geschaffen. In historischen Zeitschriften sind seit 2014 verschiedene Formen der Zensur zu beobachten gewesen. Veröffentlichungen von "ausländischen Agent:innen" müssen mit Hinweisen auf diesen diskriminierenden Status versehen werden. Solche Artikel können in Russland weder in anderen Publikationen zitiert werden, noch dürfen sie in russischen Bibliotheken öffentlich zugänglich gemacht werden, da sie nur für Menschen über 18 Jahren erscheinen und nicht an Minderjährige verkauft werden dürfen.
Durch die Einstufung ausländischer Forschung und ausländischer Bildungseinrichtungen als "unerwünscht" (mit Stand von Oktober 2024 umfasst diese Liste 17 Einrichtungen, siehe Interner Link: Grafik 5) oder sogar als "extremistisch" [wie die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, einer der institutionellen Herausgeber der Russland-Analysen, Anm. d. Red.] verletzt Russland weiterhin die Rechte von Studierenden und Wissenschaftler:innen. Russland entwertet damit die Bildungsergebnisse, die durch diese Einrichtungen erzielt wurden, auf dem russischen Arbeitsmarkt. Darüber hinaus bestehen bei einer Zusammenarbeit mit diesen Institutionen ernsthafte Risiken einer verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Verfolgung.
Institutionelle Autonomie
Die russische Regierung hat zunehmend die institutionelle Autonomie russischer Hochschulen eingeschränkt, also deren Fähigkeit, Entscheidungen hinsichtlich des internen Vorgehens, der Finanzen und der Verwaltung eigenständig zu treffen. Die institutionelle Autonomie ist jener Indikator für akademische Freiheit, bei dem Russland am schlechtesten abschneidet, und der Indikator ist seit 2022 noch weiter zurückgegangen. Im März 2022 veröffentlichte der Russische Verband der Hochschulrektoren eine Erklärung zur Unterstützung der "militärischen Spezialoperation (mit 182 Unterzeichnenden). Die russischen Universitäten bauten die Beziehungen zu den Universitäten in den "neuen Territorien" [offizielle russische Propagandasprache für die von Russland völkerrechtswidrig besetzten und annektierten ukrainischen Gebiete, Anm. d. Red.] aus. Es besteht jetzt eine direkte Zusammenarbeit der Universitäten mit dem Militär. Bis Ende 2023 wurde an den Universitäten ein klares System aus politischer Kontrolle und Repressionen errichtet, unter anderem durch die für Sicherheit und Jugendpolitik zuständigen Vizerektoren, durch die "Koordinationszentren" und die Zentren zur Extremismusbekämpfung. Insbesondere wurde die Rolle der Dozent:innen und Studierenden bei der universitären Selbstverwaltung reduziert, wobei universitäre Gremien ihre Rolle nur noch formal wahrnahmen. Sie sind immer noch an der Erarbeitung von Bildungsinhalten (Lehrplänen und neuen Studiengängen) beteiligt und bestätigen Anwärter:innen auf Lehr– und Forschungsstellen.
Der russische Staat mischt sich weiterhin in die Hochschulbildung ein, indem er Universitäten zwingt, Nationalismus und "Patriotismus" zu fördern und sie damit militarisiert und für seinen Krieg mobilisiert. Das wird im ganzen Land durch die Einführung von militärischen und "patriotischen" Kursen in den Lehrplan, die Einrichtung von militärischen Ausbildungszentren und die Gründung patriotischer Studentenorganisationen an Universitäten bewerkstelligt. Im Dezember 2022 empfahl das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung, dass der Kurs "Grundlagen der Militärausbildung" in den Lehrplan aufgenommen wird. Am Jahresende 2024 wird die Zahl der militärischen Ausbildungszentren an Universitäten russlandweit 120 betragen. Seit Mai 2022 werden 10 Prozent der staatlich finanzierten Studienplätze für Kinder derjenigen reserviert, die an der "militärischen Spezialoperation" teilnehmen. Ein nationaler Verband der patriotischen Studierenden-Clubs wurde unter dem Namen "Ich bin stolz" gegründet, um Studierende in eine patriotische Erziehung einzubinden. Viele etablierte Studierendenorganisationen unterstützen aktiv die offizielle, patriotische Rhetorik. Universitäten werden für eine unmittelbare Zusammenarbeit mit Stellen des Militärs belohnt.
Campus-Integrität
Der russische Universitätscampus erinnert zunehmend an eine "geschlossene Einrichtung", in der die Bewegungen und das Handeln der Dozent:innen und Studierenden regelmäßig überwacht und kontrolliert werden. Die für Sicherheit und Jugendpolitik zuständigen Vizerektor:innen wie auch die sogenannten Koordinationszentren und Zentren zur Extremismusbekämpfung dienen genau diesem Zweck. Sie stellen ein umfassendes Kontrollsystem dar, das die Integrität eines Campus ernstlich untergräbt.
Die für Sicherheit zuständigen Vizerektor:innen sind die Leiter:innen der sogenannten Ersten Abteilungen, einem Erbe aus der Sowjetzeit, das nie vollständig aus dem russischen Hochschulwesen verschwunden ist. Die für Sicherheit zuständigen Vizerektor:innen sind für gewöhnlich pensionierte oder aktive Mitarbeiter:innen des Inlandsgeheimdienstes FSB. Sie koordinieren die Überwachung der Studierenden und des Personals; sie üben psychischen Druck auf "Illoyale" aus und initiieren deren Entlassung. Zu den Kontrollmaßnahmen gehören Checks an den Eingängen zur Universität und bei Besuchen in Wohnheimen, und darüber hinaus rechtswidrige Durchsuchungen und Maßnahmen zur Einschüchterung. Die Ethikkommissionen sind ebenfalls zu einem Bestandteil dieses Systems geworden, zu einem Instrument zur Unterdrückung von Dissens. Unter dem Vorwand einer "Verletzung der akademischen Ethik" werden Wissenschaftler:innen entlassen und Studierende exmatrikuliert, weil sie sich an Protestbewegungen beteiligt oder sich kritisch geäußert haben (siehe Interner Link: Grafik 7) Nach den Protesten von 2021 gegen die Verhaftung von Alexej Nawalnyj, an denen sich viele Studierende und Dozent:innen beteiligten, hielten die Vizerektor:innen für Jugendpolitik Einzug an russischen Universitäten. De facto ist deren Aufgabe, politische und oppositionelle Aktivitäten von Studierenden zu beobachten und zu verhindern. Die "Koordinationszentren" sind an Hochschulen in allen Föderalbezirken des Landes eingerichtet worden. Sie sind den Abteilungen für Extremismusbekämpfung bei der Polizei nachempfunden. Diese Zentren durchsuchen die sozialen Medien nach Informationen, die auf kriegskritische und oppositionelle Aktivitäten von russischen Wissenschaftler:innen und Studierenden hinweisen.
Die Seminarräume russischer Hochschulen sind zu einem unsicheren Bereich geworden, der offen für Eingriffe von außen ist. Oft besuchen Vertreter:innen des Staates oder armeefreundliche Aufpasser:innen Vorlesungen oder Seminare, um Druck auszuüben und die Lehrinhalte zu überwachen. Von besonderer Bedeutung ist die Überwachung von Dozent:innen und Studierenden durch Videoaufnahmen. Offiziell sind die Überwachungssysteme zur Abwehr von Terrorgefahren gedacht und können nur auf den Fluren und an den Eingängen von Hochschulgebäuden angebracht werden. Es gibt allerdings Hinweise, dass in vielen Universitäten auch in Seminarräumen Kameras installiert wurden und die Aufnahmen dazu dienen, jene Dozent:innen unter Druck zu setzen, die in ihren Vorlesungen und Seminaren von der "offiziellen Linie" abweichen.
Freiheit der akademischen und kulturellen Meinungsäußerung
Von allen Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit hat die Freiheit der Meinungsäußerung in Wissenschaft und Kultur seit 2022 am stärksten gelitten. Unmittelbar nach Beginn der großangelegten Invasion in die Ukraine ist praktisch eine Kriegszensur eingeführt worden, die jenen mit Strafverfolgung droht, die die offizielle Version des Geschehens in Frage stellen oder die auf zivile Opfer und genozidale Verbrechen durch die russischen Streitkräfte aufmerksam machen. Jedes öffentliche Statement über den Krieg – insbesondere eine Diskussion über Verstöße gegen die Genfer Konvention oder über Kriegsverbrechen der russischen Armee – kann nun mit einer heftigen Geldstrafe oder bis zu 15 Jahren Gefängnis geahndet werden. Viele Wissenschaftler:innen sind wegen ihrer politischen Haltung und sogar wegen früherer Zusammenarbeit mit ausländischen Kolleg:innen aufgrund dieser Neuerungen im Strafgesetzbuch zur Verantwortung gezogen worden. Einigen Schätzungen zufolge liegt die Zahl der Gerichtsverfahren wegen "Falschinformationen" über die russischen Streitkräfte von März 2022 bis Dezember bei über 8.000. Die Universitäten haben ihr Monitoring der sozialen Medien verstärkt, um die neuen Strafparagrafen zu berücksichtigen und abweichende Äußerungen von Studierenden und Lehrkräften aufzuspüren.
Die Datenbank des "Menschenrechtszentrums Memorial" enthält für den Zeitraum 2022–2024 Angaben zu 600 politischen Häftlingen. In der Datenbank werden 154 Fälle geführt, die mit Forschung oder Hochschulbildung im Zusammenhang stehen. Von den Betroffenen wurden 53 Personen nach jenen Paragrafen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt, durch die praktisch eine Kriegszensur eingeführt worden war (siehe Interner Link: Grafik 6). Zehn von diesen 53 wurden nach Paragraf 207.3 ("öffentliche Verbreitung von falschen Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation") verfolgt oder verurteilt. Von März 2022 bis Dezember 2023 lag die Zahl der Verfahren wegen Falschinformationen über die russische Armee insgesamt bei über 8.000. Die Datenbank von Memorial führt auch 14 Wissenschaftler:innen, die wegen Hochverrat verurteilt wurden, weil sie angeblich Staatsgeheimnisse verraten haben. Die meisten von ihnen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, zwei von ihnen starben während der Ermittlungen.
Studierende und Wissenschaftler:innen, die ihre Haltung gegen Russlands Krieg gegen die Ukraine öffentlich kundgetan haben – sei es, indem sie Propagandaplakate für den Krieg zerstört haben, sei es, indem sie Graffitis an Wände gesprayt haben – werden ebenfalls verfolgt. Brandstiftung bei Rekrutierungsstellen des Militärs ist ebenfalls eine Form des Protests gegen zwangsweise Einberufung in eine Armee im Krieg und wird strafrechtlich verfolgt; das wird manchmal als "Terrorismus" eingestuft.
OVD-Info berichtet, dass nach 2022 die Verfolgung von Wissenschaftler:innen wegen ihrer Äußerungen gegen den Krieg erheblich zurückgegangen ist (von 17 registrierten Fällen 2022 auf sieben 2023 und drei in den ersten neun Monaten 2024); die meisten Verfahren waren verwaltungsrechtlich. Dieser Rückgang kann dem Umstand zugeschrieben werden, dass Wissenschaftler:innen, die öffentlich ihre Haltung gegen den Krieg gezeigt haben, bereits 2022 entweder freiwillig ihren Hochschulen gekündigt hatten oder entlassen wurden. Ein weiterer Grund könnte die Einführung der Kriegszensur sein, die Äußerungen gegen den Krieg viel riskanter machte, da sich die Gefahr einer Strafverfolgung erhöhte.
Das Menschenrechtsprojekt "Molnija" (dt.: "Blitz") hat eine eigene Studie zu politisch motivierten Ausschlüssen von russischen Studierenden in der Zeit von 2018 bis 2023 durchgeführt. Aus der Studie geht hervor, dass sich die politisch motivierten Exmatrikulationen von russischen Universitäten seit Beginn des Krieges vervielfacht haben (siehe Interner Link: Grafik 7). Über die Hälfte von ihnen erfolgte aufgrund studentischer Proteste gegen den Krieg oder wegen anderer Proteste. Der zweithäufigste Grund ist studentische Sabotage von kriegsfreundlichen Veranstaltungen an der Universität. Als Begründung für die Exmatrikulationen nannten die Hochschulverwaltungen "Verstöße gegen interne Regularien" oder "Verstöße gegen den ethischen Kodex".
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder