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Kommentar: Millionen für eine Unterschrift: Russlands Rekrutierung in den Regionen | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Millionen für eine Unterschrift: Russlands Rekrutierung in den Regionen Russland-Analysen Nr. 462

Janis Kluge

/ 6 Minuten zu lesen

Vertragssoldaten können horrende Prämien bei Vertragsschluss mit der Armee erhalten. Janis Kluge erklärt, warum auch arme Regionen bereit sind, diese Summen zu zahlen.

Werbebroschüren eines mobilen Rekrutierungsbüros in Rostow am Don am 17.09.2022. (© picture-alliance/dpa, TASS / Erik Romanenko)

Seit Beginn der Vollinvasion hat sich die Art der russischen Rekrutierung immer wieder gewandelt. Hatte Wladimir Putin zunächst versprochen, nur Berufssoldaten in der Ukraine einzusetzen, folgte im Herbst 2022 die Teilmobilmachung von offiziell rund 300.000 Männern. Im Folgejahr spielten Rekruten aus russischen Gefängnissen eine zentrale Rolle, die vor allem in Jewgenij Prigoshins Wagner-Armee kämpften. Es unterschrieben aber auch zunehmend Freiwillige bei der russischen Armee einen Vertrag, die von der hohen Bezahlung angelockt wurden. Die von den Medien BBC und Mediazona gemeinsam gesammelten Daten über Gefallene russische Soldaten zeigen diese Entwicklung über die letzten drei Jahre eindrucksvoll.

Im Laufe des Jahres 2024 hat sich das russische System der Rekrutierung noch einmal gewandelt. Unter den vielen finanziellen und nicht-monetären Anreizen ist vor allem eine hohe Sofortzahlung direkt nach der Vertragsunterzeichnung bei der Armee ausschlaggebend geworden. Größtenteils werden diese Boni aus den regionalen Haushalten bezahlt.

Regionale Einmalzahlungen für Rekruten wurden in einigen Teilen Russlands bereits im Frühjahr 2022 eingeführt. Seit November 2022 leistet auch die föderale Regierung in Moskau eine Einmalzahlung von 195.000 Rubel (ca. 2.000 Euro) für Eingezogene und Rekruten. Zunächst sollte sie wohl dazu dienen, den Widerstand gegen die Teilmobilmachung abzuschwächen. Dort wo es regionale Sofortzahlungen gab wurden sie zwischen 2022 und 2024 kaum verändert und reichten von ca. 50.000 bis maximal 400.000 Rubel (ca. 500 bis max. 4.000 Euro).

Im Jahresverlauf von 2024 stiegen die Sofortzahlungen allerdings in vielen Regionen rapide an. Ende Juli 2024 kündigte Putin an, dass auch der föderale Bonus von 195.000 Rubel auf 400.000 Rubel steigen werde. Gleichzeitig forderte er die Regionen auf, ebenfalls mindestens 400.000 Rubel beizutragen. Viele Regionen gingen jedoch weit darüber hinaus.

Extreme Unterschiede bei den regionalen Einmalzahlungen

Teilweise werden für russische Verhältnisse aberwitzige Beträge geboten. So wird Rekruten in Samara derzeit ein Sofortbonus von 3,6 Millionen Rubel (ca. 36.000 Euro) aus dem regionalen Haushalt versprochen. Einschließlich des föderalen Bonus kann ein Rekrut also mit 4 Millionen Rubel (ca. 40.000 Euro) Sofortzahlung rechnen, was einem 5fachen durchschnittlichen Jahresgehalt in der Region entspricht. Gleichzeitig sind andere Regionen bei dem von Putin geforderten minimalen Bonus von 400.000 Rubel geblieben.

Eine mögliche Erklärung für diese enormen Unterschiede ist, dass die Regionen bei der Rekrutierung ein bestimmtes Soll erfüllen müssen, was teilweise sehr hohe Zahlungen nötig macht. Aus Sicht des Kremls gäbe es sowohl politische als auch wirtschaftliche Gründe, die Rekrutierung regional mit Sollvorgaben zu steuern, und nicht in allen Landesteilen dieselben Anreize zu bieten.

Da der Einsatzort der Rekruten größtenteils an der Front ist, ist die russische Armee als Arbeitgeber vom Wohnort der Rekruten unabhängig. Wo die Menschen gut verdienen, etwa in Moskau oder St. Petersburg, sind die einheitlichen Gehälter des Militärs nicht sehr verlockend. In ärmeren Regionen, in denen die Menschen wenig Perspektiven haben, sieht das natürlich anders aus.

Wären die Boni überall gleich, würden sich daher viel mehr Rekruten aus armen Regionen melden. Angesichts der Daten von BBC und Mediazona scheint das auch in den ersten Kriegsjahren der Fall gewesen zu sein: Aus Burjatien stammen doppelt so viele der identifizierten Todesopfer, obwohl Moskau die 13fache Einwohnerzahl hat. Auch das überdurchschnittliche Anwachsen von Bankeinlagen in ärmeren Regionen zeigt, dass in den ersten drei Kriegsjahren vor allem aus armen Landesteilen rekrutiert wurde.

Auch wenn hinter der ungleichen Verteilung politisches Kalkül vermutet wurde (bspw. die Hauptstadt zu schonen), kann die hohe Konzentration der Rekrutierung aus bestimmten Regionen auf Dauer problematisch sein. Sie kann dazu führen, dass die Verluste des Krieges für die Menschen vor Ort sehr spürbar und auch sichtbar werden. Zu viele Todesfälle im Bekanntenkreis oder auch Kriegsversehrte im Straßenbild könnten die Einstellung der Menschen zum Krieg verändern. Auch wenn Putin sich wohl kaum vor politischem Unmut in ärmeren Regionen fürchten muss, ist es aus Sicht des Kremls dennoch vorteilhafter, den Blutzoll gleichmäßiger über das Land zu verteilen.

Außerdem kann die Rekrutierung für die Wirtschaft zum Problem werden: Der russische Arbeitsmarkt ist sehr stark fragmentiert und die Mobilität der Bevölkerung ist eher gering. Daher können sich die Gehälter in den russischen Regionen extrem stark unterscheiden. In den ärmeren Regionen haben sich Wirtschaftssektoren entwickelt, die auf sehr günstige Arbeitskräfte angewiesen sind, etwa in der Landwirtschaft. Wird nun lokal sehr intensiv rekrutiert, kann dies ganze Industriezweige lahmlegen.

Aus diesen Gründen wäre es für den Kreml naheliegend, die regionale Verteilung der Rekruten zu steuern. Er könnte den Regionen ein individuelles Soll für die Rekrutierung auferlegen, das diese dann – mit lokal angepassten Mitteln – zu erreichen haben. Die Regionen könnten mit verschiedenen Methoden experimentieren und ggf. voneinander lernen, wie die Zielwerte am besten zu erreichen sind. Die rapide steigenden regionalen Sofortzahlungen könnten das Ergebnis solcher Vorgaben und überregionaler Lernprozesse sein.

Hohe Einmalzahlungen führen zu deutlich mehr Rekruten

Der Erfolg der russischen Rekrutierung lässt sich nicht zuverlässig messen, er kann aber anhand verschiedener Quellen geschätzt werden. Zum einen gibt es offizielle Stellungnahmen, bspw. vom stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates Dmitrij Medwedew. Er nannte für das erste Halbjahr 190.000 Rekruten (und ein Tempo von 1.000 Rekruten pro Tag) und für das Gesamtjahr 2024 450.000 Rekruten . Da diese Erfolgsmeldungen auch Teil von strategischer Kommunikation innerhalb Russlands und ins Ausland sind, kann ihnen natürlich nicht unmittelbar vertraut werden.

Eine weitere Datenquelle sind russische Haushaltsdaten, die weiterhin relativ detailliert veröffentlicht werden. Die föderalen Zahlungen für Rekruten unterliegen (bislang) nicht der Geheimhaltung. Sie stützen zumindest im ersten Halbjahr die von Medwedew genannte Größenordnung. So wurden im ersten Halbjahr Haushaltsmittel bereitgestellt, um für 166.000 Rekruten föderale Boni auszuzahlen (nicht alle Rekruten erhalten einen Bonus, für Gefängnisinsassen gelten bspw. andere Regeln). Im dritten Quartal gingen die föderalen Auszahlungen etwas zurück. Die Daten des vierten Quartals sind noch nicht veröffentlicht.

Durch die Einführung hoher Boni auf regionaler Ebene lässt sich das Tempo der Rekrutierung inzwischen aber auch in regionalen Haushalten nachvollziehen. Hier zeichnet sich eine deutliche Beschleunigung ab. Die Ausgaben für Boni lassen sich nicht in allen Regionen genau zuordnen und sind weniger eindeutig als die föderalen Daten, allerdings gibt es zumindest in 38 Regionen entsprechende Ausgabenposten (von 89, einschließlich 6 illegal annektierter ukrainischer Regionen).

In vielen Regionen hat sich die Dynamik der Rekrutierung gegen Ende des Jahres in einem gewissen Verhältnis zur Bevölkerungszahl eingependelt. In den meisten Fällen liefern die Regionen etwa einen Rekruten pro Tag je 100.000 Einwohner. In der Oblast Moskau (8,7 Millionen Einwohner) sind es bspw. etwa 80 Rekruten täglich, in der Oblast Saratow 24 pro Tag (2,4 Millionen Einwohner), in Adygeja rund 5 pro Tag (0,5 Millionen Einwohner), in der Oblast Omsk rund 20 pro Tag (1.8 Millionen Einwohner) usw.

Gelänge es allen Regionen, eine ähnlich hohe Rate zu erreichen, käme Russland zum Jahresende auf rund 1.400 neue Rekruten pro Tag. In vielen Regionen zeigen die Haushaltsdaten, dass die finanziellen Anreize wirken: Nach einer Anhebung des Boni melden sich deutlich mehr Rekruten.

Allerdings sagt die bloße Zahl der Rekruten wenig über ihre Eignung und Kampfkraft aus: Immer häufiger sind die Neulinge bspw. über 50 Jahre alt. Außerdem machen die weiter steigenden Sofortzahlungen deutlich, dass die freiwillige Rekrutierung nach und nach schwieriger wird. Die Belastung der regionalen Haushalte steigt ebenfalls. Führt Russland seinen Angriff mit unverminderter Intensität fort, dürfte sich daher mittelfristig die politisch heikle Frage einer erneuten Teilmobilmachung stellen.

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Dr. Janis Kluge ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er promovierte an der Universität Witten/Herdecke in Wirtschaftswissenschaften. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands, Innenpolitik und Sanktionen.