Welche Rolle sollte die Wissenschaft, und speziell die Russlandforschung, angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine spielen? Präziser und handlungsorientierter könnte man fragen: Haben wir als Wissenschaftler:innen eine bestimmte Verantwortung? Aus meiner Sicht ist die Antwort darauf eindeutig "ja". Für eine fundierte Begründung reicht hier weder der Platz noch die philosophische Bildung des Autors. Es soll deshalb ausreichen, auf die Rolle der Wissenschaft als Institution der gesellschaftlichen Selbsterkenntnis und -korrektur zu verweisen. Aus der Kombination von Expertise und dem aktuell erhöhten Bedarf an politik- und diskursrelevanten Kenntnissen der Region ergibt sich daher eine grundsätzliche Pflicht zur öffentlichen Beteiligung. Was aber bedeutet das? Diese Frage wird hier erstens für Medienbeiträge und Wissenstransfer und zweitens mit Blick auf die Forschungs- und Kooperationspraxis erörtert.
Wissenschaft zur Diskurskorrektur
In der deutschen Debatte kursieren viele Halb- und Unwahrheiten über Russland und seine politische Führung. So wird Russlands Aggression noch immer als geopolitisch determinierte Großmachtpolitik relativiert, es herrschen zuweilen kulturessentialistische Argumente vor ("Russland wird immer autoritär und imperial sein"), und die russische Bevölkerung wird bald als faschistisch elektrisiert eingestuft, bald als willenlos der Propaganda ausgeliefert. Hier gilt es aufzuklären über Putins offen erklärte imperialistische Leitmotivation, die historischen Beispiele institutionellen und kulturellen Wandels sowie den klientelistischen und demobilisierenden Charakter des Regimes, das gleichwohl auf genuine (wenn auch passive) Unterstützung in der Bevölkerung angewiesen ist. Es gäbe also viel zu tun für echte Expert:innen. Die Voraussetzung dafür ist natürlich erst einmal, dass sie in den großen Medien überhaupt zu Wort kommen.
Diese Verantwortung wahrzunehmen, bedeutet aber auch, sich gegen die zahlreichen Unwägbarkeiten und Herausforderungen zu wappnen, die mit der Beteiligung an öffentlichen Debatten einhergehen. Erstens dürfen sich Wissenschaftler:innen nicht zu "content creators" machen lassen. Ist die Sendezeit zu kurz oder ist zu wenig Platz für eine (zumindest einigermaßen) differenzierte Stellungnahme, oder ist zu befürchten, dass die Besetzung der Diskussionsrunde eine "false balance" herstellt oder die Ausrichter eher an Kontroverse als an konstruktivem Austausch interessiert sind, dann ist eine Absage die bessere Entscheidung – auch um den Expert:innenstatus zu wahren.
Zweitens sollten wir der Versuchung widerstehen, uns zu Themen zu äußern, die außerhalb unserer Expertise liegen. Das betrifft gerade Situationen, in denen das verständliche Bedürfnis nach Ausbalancierung aufkommt. Hier mögen wir uns zur Verteidigung einer aus unserer Sicht unterrepräsentierten Position berufen fühlen – laufen aber in Ermangelung eigener Forschungsergebnisse oder genauer Literaturkenntnis Gefahr, lediglich politische Talking Points zu reproduzieren. Wenn ein schlecht informierter Beitrag den Stempel der Wissenschaftlichkeit erhält, droht er eher Schaden anzurichten als zu nützen.
Drittens stellt die breite Öffentlichkeit besondere Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeiten. Wer etwa befürchtet, dass ihm oder ihr ein Versuch der Erklärung russischer Aggression als ein Versuch der Entschuldigung derselben ausgelegt wird, wird eine solche Erklärung vielleicht gar nicht erst versuchen, auch wenn sie dringend notwendig ist. Um Missverständnissen – zuweilen auch absichtlichen – vorzubeugen, kann es in solchen Fällen nötig sein, eine persönliche Wertung abzugeben. Analyse und Wertung müssen dann aber jeweils klar als solche erkennbar sein und auseinandergehalten werden.
Die Voraussetzungen
Die Aufgabe der öffentlichen Beteiligung berührt aber auch die Schaffung und Erhaltung von Voraussetzungen, in denen die Regionalforschung für die breite Öffentlichkeit und für die Sozialwissenschaften überhaupt wertvolle Erkenntnisse generieren kann. Erstens ist stetige Selbstkorrektur dringend notwendig, wenn die Russlandforschung ihre Fähigkeit zur Intervention in die allgemeine Diskussion behalten und glaubhaft vertreten will. Dazu gehört selbstverständlich die Selbstreflexion in Bezug auf die "Dekolonisierung". Diese bedeutet aus meiner Sicht jedoch nicht, dass Forschung zu Russland einen geringeren Stellenwert beanspruchen sollte – die genaue Kenntnis Russlands ist weiterhin notwendig, auch wenn die Beschäftigung mit dem Aggressorstaat möglicherweise schwerfällt. Die Wichtigkeit Russlands sollte aber – anders als früher oft die Regel war – keine Ausrede für die Unkenntnis Ost- und Ostmitteleuropas sein. Gute Russlandforschung ist vergleichende Forschung, sowohl innerhalb der Region als auch mit Blick auf autoritäre Regime weltweit.
Zweitens müssen wir uns trotz aller Widrigkeiten, die der Krieg und die Autokratisierung Russlands mit sich bringen, darum bemühen, die Qualität unserer Daten sicherzustellen. Dazu gehört, sich neue Methoden anzueignen und unorthodoxe Wege der Datenerhebung auszuprobieren – so es die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis und die (je Institut durchaus unterschiedlichen) selbstauferlegten Einschränkungen erlauben. Fehlen gute Daten, so sollten wir uns mit Aussagen zurückhalten.
Drittens spielt auch die Möglichkeit fortgesetzter Kooperation eine wichtige Rolle. Eine Selbstverständlichkeit sollte es sein, neben der prioritären Hilfe für ukrainische Kolleg:innen auch russischen Wissenschaftler:innen zu helfen, die durch ihre Arbeit zum politischen System und zum Widerstand dagegen selbst in Gefahr geraten sind. Über diese direkte Hilfe hinaus sollten Wege gesucht werden, die individuelle Zusammenarbeit fortzusetzen, auch wenn der Weg nach Russland zunächst verschlossen bleibt. Istanbul und Astana entwickeln sich gerade zu solchen neuen Orten für Summer Schools und Workshops. Allerdings darf diese Kooperation nicht zulasten der Beziehungen zu ukrainischen Kolleg:innen gehen. Was dies konkret bedeutet, muss im Einzelfall bedacht werden – aber bedacht werden muss es unbedingt. Denn Russland ernsthaft im regionalen Kontext zu verstehen, bedeutet auch, Sensibilität im forschungspraktischen Umgang mit Russland zu entwickeln.
Fazit
Die Aufgabe, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen, erfordert also zum einen den reflektierten Umgang mit den Schwierigkeiten des Wissenstransfers und schließt zum anderen Selbstreflexion, empirische Gründlichkeit und sensible Kooperation ein. Doch über diese hohen Ansprüche an jede:n Forscher:in sollte nicht die Forderung an die Politik vergessen werden, die nötigen materiellen Voraussetzungen zu schaffen und zu erhalten – insbesondere durch die Förderung regionalwissenschaftlicher Institute und den Aufbau langfristiger Perspektiven für den "Nachwuchs". Das richtet sich auch an die Hochschulen. Denn dazu gehört auch, etwa bei der Besetzung von Stellen in "generellen" Disziplinen wie der Soziologie und der vergleichenden Politikwissenschaft Expertise zu Osteuropa und solche zu Westeuropa gleich zu behandeln. Es gilt also: Wenn die Regionalforschung einen Beitrag zur (Dis-)Kurskorrektur leisten soll, dann muss sie dabei unterstützt werden.