Diskussion der Lewada-Umfragen
Discuss Data ist grundsätzlich offen für alle Datensammlungen, die wissenschaftlichen und ethischen Standards entsprechen, keine Urheberrechte verletzen und in unser regionales Profil passen. Neben der Online-Veröffentlichung von Datensammlungen will Discuss Data – wie der Name schon sagt, eine Diskussion über Datenqualität und die Möglichkeiten der Nachnutzung der Daten initiieren. Unserer Ansicht nach sollte die Wissenschaft über diese Fragen entscheiden und nicht ein Repositorium oder ein Kurator. Aus diesem Grund bietet Discuss Data die "Diskussionsfunktion" als integralen Bestandteil jeder online veröffentlichten Datensammlung an.
Kommentare werden direkt als Teil der Datensammlung angezeigt. Die meisten Kommentare beziehen sich dabei auf spezielle Aspekte einer Datensammlung, wie in diesem Beispiel zu einer Lewada-Umfrage (hier wie im Folgenden aus dem Englischen übersetzt):
"In der im Januar 2018 durchgeführten Umfrage (2018cur01), die in diesem Datensatz enthalten ist, gaben 58 % der Befragten an, an den Parlamentswahlen 2016 teilgenommen zu haben. Von diesen gaben 63 % an, für die kremlnahe Partei Einiges Russland gestimmt zu haben (weitere 11 % weigerten sich, die Partei zu nennen, für die sie gestimmt hatten). Die offiziellen Wahlergebnisse (bei denen zumindest in gewissen Umfang gefälschte Wahlzettel ergänzt wurden) zeigen eine Wahlbeteiligung von 48 % und einen Stimmenanteil von 54 % für Einiges Russland.
Der Unterschied zwischen den Umfragedaten und den Wahlergebnissen (ohne Berücksichtigung von Wahlmanipulationen) beträgt also 58 % gegenüber 48 % bei der Wahlbeteiligung und 63 % gegenüber 54 % beim Anteil von "Einiges Russland". Lewada-Umfragen im Jahr 2017 haben zu ähnlichen Ergebnissen geführt. Demnach überschätzen die Lewada-Umfragen systematisch die Wahlbeteiligung und die Stimmen für Einiges Russland. Wenn die Umfrage repräsentativ ist, liegt es also an dem Phänomen der sozialen Erwünschtheit, dass 10 % der Befragten fälschlicherweise angeben, für Einiges Russland gestimmt zu haben." (Externer Link: https://discuss-data.net/dataset/046fbb44-87c4-41a6-9d99-e33636d19e02/discuss/)
Als Reaktion auf die Debatte über die Zuverlässigkeit von Meinungsumfragen in Russland habe ich als verantwortlicher Kurator den folgenden Kommentar zu allen neueren Datensammlungen des Lewada-Zentrums hinzugefügt, die Fragen zur Politik enthalten:
"Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass selbst das professionellste Umfrageinstitut nicht in der Lage ist, Probleme zu lösen, die dadurch entstehen, dass für die Umfrage ausgewählte Personen die Teilnahme verweigern oder unehrliche Antworten geben. Im Falle Russlands wurde behauptet, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, zwischen 10 und 30 %, bereit ist, an Meinungsumfragen teilzunehmen (Napejenko, 2017).
Gleichzeitig gaben in einer vom Lewada-Zentrum selbst im Juli 2016 durchgeführten Umfrage nur 30 % der Befragten an, dass sie auf Fragen zu politischen Themen immer ehrlich antworten würden; nur 12 % gingen davon aus, dass andere Menschen dies tun würden (Lewada-Zentrum, 2016)." (z. B. hier: Externer Link: https://discuss-data.net/dataset/6fe27952-0181-4314-b2cf-32bbf6aed1a8/discuss/)
Um die Voraussetzung für eine tiefergehende Diskussion zu schaffen, insbesondere zu den umstrittenen Lewada-Umfragen über die Haltung der russischen Bevölkerung zum Krieg in der Ukraine, enthält die Datensammlung "The War in Ukraine in the Perception of the Russian Population" einen Auszug aus einem Arbeitspapier, das von Denis Volkov, dem Direktor des Lewada-Zentrums, und Andrei Kolesnikov, einem Senior Fellow am Carnegie Endowment for International Peace, veröffentlicht wurde und in dem sie ihre Argumente für eine weiterhin hohe Zuverlässigkeit der Lewada-Umfragen darlegen. Darüber hinaus enthält die Datensammlung eine Datei, in der die Antwort- und Ablehnungsquoten der Lewada-Umfragen, die im ersten Quartal 2022 durchgeführt wurden, aufgeführt sind – zusammen mit einer Diskussion durch das Lewada-Team. Die Datensammlung enthält auch eine Beschreibung eines Experiments, das vom Lewada-Zentrum durchgeführt wurde, um die Bereitschaft der russischen Bevölkerung zur Teilnahme an Umfragen zu analysieren (leider nur in russischer Sprache verfügbar) (Externer Link: https://doi.org/10.48320/947F9970-7A50-493C-BC78-057F0F5EEDF7).
Bisher findet die Debatte über die Zuverlässigkeit von Meinungsumfragen in Russland hauptsächlich in wissenschaftlichen Zeitschriften statt, z. B. in diesem Jahr in einem Themenheft von Post-Soviet Affairs oder auch in dieser Ausgabe der Russland-Analysen. Außerdem werden viele Kommentare auf Twitter veröffentlicht. Wir bei Discuss Data sind jedoch der Meinung, dass der beste Platz für Kommentare oder zumindest für Links auf relevante Kommentare direkt neben der eigentlichen, frei verfügbaren Datensammlung auf Discuss Data ist.
Resümee
Mein persönliches Fazit zur Aussagekraft der Umfragen des Lewada-Zentrums ist, dass sie zwar immer noch ein angemessenes Maß an Repräsentativität erreichen, aber (spätestens seit 2012) nicht das erfassen, was die Menschen wirklich denken und tun, sondern nur das, was sie bereit sind "in der Öffentlichkeit" zu sagen (d. h. im Gespräch mit einer Person, die sie nicht persönlich kennen). Im Laufe der Jahre und je nach Thema wird dieser Unterschied immer wichtiger. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Umfragen unbrauchbar oder irreführend sind. Sie müssen als das genommen werden, was sie sind. Sie stellen öffentlich geäußerte Meinungen dar und damit eine kollektive Bewertung der akzeptablen Meinungen. Für viele Forschungsfragen ist dies von großer Bedeutung. Deshalb werden wir die Umfragen auch weiterhin im offenen Zugang auf Discuss Data veröffentlichen, damit Forschende selbst entscheiden können, ob die Lewada-Umfragen für ihre Arbeit relevant sind. Wir hoffen, dass die Forschenden dann ihre Einschätzungen als Kommentare zur Datensammlung ergänzen.
Discuss Data wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und ist ein Gemeinschaftsprojekt der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.