Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Die demographische Entwicklung Russlands | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Analyse: Die demographische Entwicklung Russlands Russland-Analysen Nr. 429

Vladimir Kozlov

/ 9 Minuten zu lesen

Der Beitrag liefert eine kurze Beschreibung der demographischen Lage in Russland unter Berücksichtigung der Folgen der Corona-Krise, des russischen Krieges gegen die Ukraine 2022 und der Sanktionen.

Interview für den russischen Zensus (© picture-alliance/dpa, TASS | Kirill Kukhmar)

Zusammenfassung

Der Beitrag liefert eine kurze Beschreibung der demographischen Lage in Russland und berücksichtigt dabei auch die Folgen der Corona-Krise, des aktuellen Krieges und der Sanktionen. Auch durch die Altersstruktur der russischen Bevölkerung entstehende Schwierigkeiten werden angesprochen, die in erheblichem Maße den Bevölkerungsschwund und Alterungsprozesse beeinflusst. Darüber hinaus werden dadurch wirtschaftliche Planungsprozesse erschwert. Insgesamt steht Russland als ein im Grunde entwickeltes Land da und weist für derlei Länder durchschnittliche Niveaus der Alterung und der Geburtenraten auf. Allerdings ist die Sterblichkeit höher. Russland ist relativ attraktiv für Migrant:innen, doch sind die Folgen für Geburtenraten und Migrationsbewegungen nach dem Februar 2022 nur schwer abzuschätzen.

Am 1. Januar 2022 betrug die offizielle Bevölkerung Russlands 145,6 Millionen Einwohner:innen (einschließlich der Krim und der Stadt Sewastopol, die völkerrechtlich nicht als Teil Russlands anerkannt sind). Der russische Zensus Mitte Oktober bis Mitte November 2021 hatte jedoch mit 147,2 Millionen einen höheren Wert ergeben (1,6 Mio. mehr). Der russische Zensus wurde allerdings von vielen Demographie-Expert:innen bereits unmittelbar nach dessen Durchführung kritisiert. Zu den Kritiker:innen gehören etwa Alexej Rakscha (Externer Link: https://novayagazeta.ru/) sowie Sergej Sacharow und Jelena Tschurilowa anhand von Umfragen des Lewada-Zentrums (Externer Link: https://tinyurl.com/3pv3zcfu). Zu den wichtigsten Kritikpunkten des Zensus gehörte, dass die Behörden zu wenig Bewusstsein für dessen Notwendigkeit schufen, weswegen die Beteiligung seitens der Bevölkerung laut Umfragen so niedrig war wie nie zuvor. Außerdem seien einzelne Bevölkerungsgruppen wie Migrant:innen nicht richtig erfasst worden und der Zensus habe die Bevölkerungszahl um drei bis vier Millionen zu hoch beziffert.

Die demographische Entwicklung Russlands seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion lässt sich besser chronologisch erfassen. Anfang 1991 betrug die Bevölkerungszahl der Russischen Föderation 148,3 Millionen. In den Folgejahren wurde die Entwicklung von diversen Faktoren bestimmt:

  • Langfristige Muster der demographischen Entwicklung: Sowjetische Bevölkerungsexpert:innen hatten bereits Ende der 1960er Jahre vorhergesagt, dass es in den 1990er Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Bevölkerungsrückgang kommen werde, und zwar aufgrund eines Rückgangs der Fertilitätsrate (die für diesen Zeitraum für ein industrialisiertes Land einen der niedrigsten Werte aufwies), einer sinkenden Lebenserwartung für die erwachsene Bevölkerung und der spezifischen Altersstruktur der Bevölkerung;

  • Transformationsschocks, die zu einem starken Rückgang der Fertilitätsrate und der Lebenserwartung führen. Aufgrund der mangelnden Finanzierung des Gesundheitssystems, des Stresses, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Liberalisierung des Alkoholmarktes und der aus sowjetischer Zeit ererbten geringen Wertschätzung des Lebens war die Lebenserwartung in Russland im Jahr 2000 bei Männern um 3,8 Jahre und bei Frauen um 2,1 Jahre unter der von 1990. Was die Geburtenrate anbelangt, führte die Zeit der Verunsicherung und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten dazu, dass Schwangerschaften aufgeschoben oder mitunter gar abgebrochen wurden. Dadurch sank die Zahl der Kinder pro Frau in Russland von 2,01 im Jahr 1989 auf einen historischen Tiefpunkt von 1,16 im Jahr 1999.

Bis Anfang des Jahres 2010, in dem zum letzten Mal vor 2021 ein Zensus durchgeführt wurde, ging die Bevölkerungszahl auf 142,7 Millionen zurück, ungeachtet großer Bevölkerungsgewinne durch Migration, vor allem durch eine Rückkehr russischsprachiger Migrant:innen aus anderen postsowjetischen Staaten, in denen die wirtschaftlichen Krisen noch stärker waren und es zu politischen und interethnischen Spannungen kam. Der Umfang der Immigration in dieser Periode wird auf fast sieben Millionen geschätzt. Daraus ergibt sich ein natürlicher Bevölkerungsrückgang in diesem Zeitraum von über 12,5 Millionen.

Bis Ende der 2000er Jahre verbesserte sich die demographische Lage. Die Gründe hierfür waren eine "kompensatorische" Entwicklung nach der Krise der 1990er Jahre mit einer höheren Geburtenrate und einer geringeren Sterberate, die dynamische soziale und wirtschaftliche Entwicklung, die geburtenfördernde Familienpolitik nach 2007, die Veränderungen im Gesundheitswesen (unter anderem eine bessere Finanzierung sowie die Einführung neuer medizinischer Technologien und Behandlungsmethoden) und eine stärkere Regulierung des Alkoholkonsums, eine erhöhte Attraktivität des Landes für Migrant:innen aus anderen postsowjetischen Staaten sowie eine veränderte Altersstruktur der Bevölkerung (die Dellen, welche die russische Alterspyramide aufweist, spiegeln die Phasen günstiger bzw. ungünstiger Bedingungen für die demographische Entwicklung wider). Dadurch erlebte das Land von 2009 bis 2017 einen Anstieg der Bevölkerungszahl, selbst wenn man die Annexion der Krim nicht mitberücksichtigt. Zum Zeitpunkt der Annexion betrug die Bevölkerung der Halbinsel – einschließlich Sewastopols – dem Krimzensus von 2014 zufolge rund 2,25 Millionen. Und in drei Jahren (2013–2015) gab es sogar einen Überhang der Geburtenrate über die Sterbezahlen. In den Jahren 2009–2012 und 2016–2017 erfolgte ein Bevölkerungszuwachs, weil die Gewinne durch Migration den natürlichen Bevölkerungsschwund überstiegen.

Nach 2015 ging die Geburtenrate allerdings wieder zurück, bis sie ein stabiles Niveau erreichte (rund 1,5 Kinder pro Frau im Jahr 2019); die Zahl der Geburten ging aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung sogar noch stärker zurück. Es gab sehr viel weniger Frauen im gebärfähigen Alter: Die Anzahl der Frauen zwischen 20 und 39 Jahren war 2019 um fast eine Million geringer als noch 1999, und um zwei Millionen geringer als 2011. Die höhere Lebenserwartung bremste einen möglichen Anstieg der Sterberate, der aufgrund der alternden Bevölkerung zu erwarten gewesen wäre. Die Corona-Pandemie sorgte allerdings für eine veränderte Situation im Land, vor allem aufgrund der vermehrten Todesfälle. Die natürlichen Bevölkerungsverluste beliefen sich 2020 und 2021 auf über 1,8 Millionen Menschen und die Zahl der Sterbefälle bis Ende 2021 im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion wird auf rund eine Million geschätzt.

Ein solcher Prozess eines Bevölkerungsrückgangs, wie er in Russland zu beobachten war, ist im internationalen Vergleich allerdings keine Ausnahme. Schätzungen der UN-Behörde für Bevölkerungsfragen von 2019 zufolge war in fast 30 Ländern ein Bevölkerungsrückgang zu beobachten, und die Prozesse eines Bevölkerungsschwunds dürften sich laut UN-Prognosen hier in näherer Zukunft intensivieren.

Wenn wir die Bevölkerungsentwicklung Russlands aus Sicht des Arbeitsmarktpotenzials betrachten, können wir erkennen, dass von 1992 bis zum Ende der 2000er Jahre der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 59 Jahre) von 54 auf 61 Prozent der Gesamtbevölkerung zunahm, bzw. um 6,7 Millionen Personen (aufgrund des frühen Renteneintrittsalters ist hier die Altersgruppe zwischen 60 und 64 bis zum Jahr 2018 nicht von Interesse, da seinerzeit die Umsetzung der Rentenreform einsetzte). Allerdings wiesen die Ziffern für diese Altersgruppe in absoluten Zahlen einen Rückgang auf (um 8 Millionen bis 2022), und dies auch anteilmäßig (mit einem Rückgang auf 54 Prozent bis 2022). Gleichzeitig wird der Alterungsprozess der Bevölkerung durch den Umstand illustriert, dass die Zahl der über 60-Jährigen von 24,3 Millionen 1992 auf 33,7 Millionen 2022 gestiegen ist. Somit nahm der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung von 16 auf 23 Prozent zu. Allerdings schreitet dieser Alterungsprozess im Vergleich zu ostasiatischen und neuerdings einigen lateinamerikanischen und osteuropäischen Ländern in Russland nicht ganz so schnell voran.

Aus den jüngsten Statistiken geht hervor, dass das Saldo des natürlichen Bevölkerungswandels in Russland von Januar bis September 2022 (also in den ersten drei Quartalen des Jahres) ein Minus von rund 463.000 bzw. von 4,2 pro 1.000 aufweist, was gegenüber dem Pandemiejahr 2021 eine Verbesserung darstellt (das Minus betrug im entsprechenden Vorjahreszeitraum 675.000 bzw. 6,2 pro 1.000). Allerdings waren die Salden in der Zeit vor der Pandemie nur gering negativ, selbst wenn man den Alterungsprozess berücksichtigt, der sich durch eine Abnahme der Geburtenrate von jährlich 2–3 Prozent bei gleichzeitiger Zunahme der Sterberate um ebenfalls 2–3 Prozent auszeichnet. So wies die natürliche Bevölkerungsentwicklung beispielsweise für die ersten neun Monate 2018 ein Minus von 173.400 (bzw. −1,6 pro 1.000) auf. 2019 lagen die Zahlen bei −236.900 (bzw. −2,1 pro 1.000). Die Statistiken weisen einen Rückgang der Geburtenzahl um rund fünf Prozent aus, was bedeutet, dass die Zahl der potenziellen Kinder pro Frau nach einer Phase der Stagnation wieder sinken wird. Hinzu kommt, dass die Ungewissheit aufgrund des Krieges und der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sich erst Ende 2022 und 2023 niederschlagen wird. Derzeit gibt es keine positiven kurzfristigen Projektionen für die Geburtenrate in Russland, und das Ausmaß des prognostizierten Rückgangs wird hier von der Dauer des Krieges und der Wirtschaftssanktionen abhängen.

Die Zahl der Sterbefälle ist 2022 gegenüber dem Vorjahr um über 15 Prozent bzw. 2,5 pro 1.000 zurückgegangen. Im Vergleich zu den ersten neun Monaten 2019 ist die Sterberate immer noch höher (13,3 gegenüber 12,3 pro 1.000). Prognosen der UNO gehen derzeit für 2022 von einer Lebenserwartung von 70,1 Jahren aus, was zumindest wieder eine Annäherung an den Wert von 2020 mit 71,3 Jahren bedeuten würde; 2019 lag dieser noch bei 73,9 Jahren. Das bedeutet, dass sich die Corona-Krise ihrem Ende nähert. Die Corona-Pandemie hat zu einem Rückgang der Lebenserwartung für Männer geführt; sie lag knapp unter jener in der Transformationskrise in den 1990er Jahren. Für Frauen war der Rückgang der Lebenserwartung sogar noch stärker. Russland fand sich dadurch zusammen mit einigen südosteuropäischen Staaten in der Gruppe von Ländern mit der weltweit höchsten Sterblichkeit durch das Coronavirus wieder (soweit in den jeweiligen Staaten verlässliche Daten vorliegen). Die 2022 Revision der Vereinten Nationen zur Bevölkerungsentwicklung hat auch für 2022 einen Rückgang der Lebenserwartung (gegenüber 2020) prognostiziert, mit einer schnellen Erholung im Jahr 2023 (Externer Link: https://data.un.org/Data.aspx?d=PopDiv&f=variableID%3A68). 2022 dürfte die Lebenserwartung leicht über 2021 liegen, aber immer noch unter 2020 (70,1 Jahre 2022 gegenüber 69,4 im Jahr 2021 und 71,3 Jahren im Jahr 2020, nach Angaben der UNO). Die Prognosen der UNO und der Weltbank für die Bevölkerung Russlands ohne die Krim sind den Grafiken und Tabellen auf den Seiten 5–12 dargestellt. Allerdings hat eine Steigerung der Lebenserwartung wohl bereits 2022 eingesetzt. Anhand der demographischen Statistiken ist es nicht möglich, die möglichen Opferzahlen durch den Krieg abzuschätzen, weil die Übersterblichkeit bezogen auf die Gesamtbevölkerung – anders als bei der Pandemie – weniger signifikant sein dürfte. Zudem sind seit März keine Daten zu Sterbezahlen bei den verschiedenen Alterskohorten verfügbar (dort könnte man potenziell eine Übersterblichkeit bei jungen Männern feststellen). Und selbst nach einer Veröffentlichung Mitte 2023 können wir nicht sicher sein, dass die Opferzahlen dort miteinbezogen wurden. In näherer Zukunft könnte die wirtschaftliche Rezession und der Stress trotz der Erholung nach der Corona-Pandemie zu einer stagnierenden Lebenserwartung führen.

Verlässliche Zahlen zu den Opfern des Krieges sind kaum zu erlangen. Nach Angaben des Nachrichtenportals Mediazona (Externer Link: https://zona.media/casualties, [aktuell, russ.]; Externer Link: https://en.zona.media/article/2022/05/11/casualties_eng, [engl., etw. veraltet]) gibt es auf russischer Seite über 9.500 Todesopfer, und dies gehört zu den niedrigsten Schätzungen. Laut BBC News (Externer Link: https://www.bbc.com/russian/features-63599537) liegt Zahl der Gefallenen geschätzt bei mindestens 17.400 und damit über dem Afghanistan-Krieg. Diese Zahlen sind zwar in der Demographie-Pyramide nicht sichtbar, doch könnten die Auswirkungen auf die Gesellschaft ebenso gravierend sein wie beim Afghanistan-Krieg. Die höheren Schätzungen zu den Opferzahlen könnten der Wirklichkeit näherkommen, wenn wir diese Opferzahlen als Anteil an der jungen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter betrachten und dies dann mit den entsprechenden Zahlen für den Vietnam-Krieg abgleichen. Die Auswirkungen des Vietnam-Krieges auf die US-Gesellschaft sind wohlbekannt. Andererseits sind die demographischen Auswirkungen in relativen Ziffern wohl sehr viel geringer als beispielsweise die Folgen des zweiten Karabach-Krieges auf Armenien, wo die Opfer 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten und der Krieg zusammen mit der Corona-Pandemie 2020 zu einem Rückgang der Lebenserwartung um 4,7 Jahre führte.

Der interessanteste Aspekt, die Migration, kann leider für eine Abschätzung der Kriegsfolgen auf die demographische Entwicklung in Russland nicht genutzt werden. Die Werte zu langfristiger grenzüberschreitender Migration, die die offiziellen Quellen liefern, sind in den letzten Jahren aufgrund veränderter Registrierungskriterien sehr schwankend gewesen und bieten nur sehr bedingt eine Grundlage zur Analyse. Beispielsweise hat sich die Zahl der Abgewanderten gegenüber 2020 ohne ersichtlichen Grund halbiert; davon ausgehend erschienen die Zahlen für 2022 dann hoch. Eine umfangreiche Analyse der russischen Daten sowie der Daten aus anderen Ländern und der Zahlen zu den Grenzübertritten liefern allerdings Anhaltspunkte dafür, dass mehrere hunderttausend Personen Russland dauerhaft verlassen haben (siehe hierzu einen Beitrag von Michail Denissenko und Julija Florinskaja vom 7. Mai, also vor der Mobilmachung (Externer Link: https://meduza.io/feature/2022/05/07/) sowie die Daten nationaler Statistikämter außerhalb Russlands). Zudem haben wir keine Sicherheit über die Anzahl ukrainischer Geflüchteter in Russland. Daten des UNHCR geben 2,8 Millionen Grenzübertritte aus der Ukraine an (Externer Link: https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine), doch dürfte das nicht der tatsächlichen Zahl der Geflüchteten entsprechen, die im Land verblieben sind. Die Gesamtzahl der Personen aus der Ukraine, die nach 2014 dauerhaft nach Russland emigrierten, kann aufgrund von Messproblemen und einer hohen Dunkelziffer nur geschätzt werden, Expert:innen gehen aber von mindestens mehreren Hunderttausend bis zu über einer Million aus. Wir können mit einiger Gewissheit sagen, dass der Bevölkerungszuwachs durch Migration wohl eher stagnieren als zunehmen wird, und zwar ungeachtet der starken Zunahme bei der Zu- wie auch der Abwanderung, die Russland im letzten Jahrzehnt erlebt hat.

Wir können allerdings festhalten, dass – auch wenn die jüngsten Migrationsbewegungen in Russland nicht sonderlich sichtbar sind – die Folgen der Migration wie auch die Auswirkungen der Mobilmachung auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Arbeitsmarkt beträchtlich sind (siehe das Interview mit Wladimir Gimpelson in dieser Ausgabe der Russland-Analysen auf den Seiten 15–18).

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Quellen / Literatur

Bhattacharya, J.; C. Gathmann, G. Miller: The Gorbachev anti-alcohol campaign and Russia’s mortality crisis, in: American Economic Journal: Applied Economics, 5.2013, Nr. 2, S. 232–260.

Danilova, I.; V. M. Shkolnikov, E. Andreev, D.A. Leon: The changing relation between alcohol and life expectancy in Russia in 1965–2017, in: Drug and alcohol review, 39.2020, Nr. 7, S. 790–796.

Frejka, T.; S. Gietel-Basten, L. Abolina, L. Abuladze, S. Aksyonova, A. Akrap, P. Zvidrins: Fertility and family policies in Central and Eastern Europe after 1990, in: Comparative Population Studies, 2016.

Gietel-Basten, S.; V. Mau, W. Sanderson, S. Scherbov, S. Shulgin: Ageing in Russia: A regional appraisal, in: Journal of Population Ageing, 13.2020, Nr. 1, S. 63–80.

Karabchuk, T.; K. Kumo, E. Selezneva: Demography of Russia, in: From the Past to the Present. Palgrave Macmillan, 2017.

Kobak, D.: Excess mortality reveals Covid’s true toll in Russia. Significance (Oxford, England), 18.2021, Nr. 1, S. 16.

Nemtsov, A.; M. Neufeld, J. Rehm: Are trends in alcohol consumption and cause-specific mortality in Russia between 1990 and 2017 the result of alcohol policy measures? in: Journal of studies on alcohol and drugs, 80.2019, Nr. 5, S. 489–498.

Timonin, S.; I. Klimkin, V.M. Shkolnikov, E. Andreev, M. McKee, D.A. Leon: Excess mortality in Russia and its regions compared to high income countries: An analysis of monthly series of 2020, in: SSM-population health, 2022, Nr. 17, 101006.

Zakharov, S.: The modest demographic results of pronatalist policy against the background of the long-term evolution of fertility in Russia, in: Demografičeskoe obozrenie (englischsprachiger Teil der Ausgabe), 2016, S. 4–46.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Vladimir Kozlov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. Er hat die Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität absolviert und dort 2011 in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Von 2011 bis 2022 war er am Moskauer Wischnewskij-Institiut für Demographie der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics (HSE) tätig. Er hat als externer Berater für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) gearbeitet. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bevölkerungsstudien und Wirtschaftsdemographie sowie Institutionenökonomie und Epidemiologie.