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Kommentar: Keine Verhandlungen um jeden Preis | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Keine Verhandlungen um jeden Preis Russland-Analysen Nr. 427

Sabine Fischer

/ 4 Minuten zu lesen

Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine über die Beendigung des Krieges werden nur fruchtbar sein, wenn Russland einsieht, dass es diesen Krieg mit Waffen nicht gewinnen wird.

Der türkische Präsident Erdogan spricht bei Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine am 29. März 2022 in Istanbul. (© picture-alliance/dpa, TASS | Sergei Karpukhin)

Leider kursiert gerade sehr viel Unsinn über die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Behauptungen wie "Niemand redet mit Russland", "Die Ukraine verweigert Verhandlungen", "Der Westen verbietet der Ukraine zu verhandeln" und Ähnliches mehr sind im Umlauf. Die folgenden drei empirisch belegten Einwände können der verqueren Debatte hoffentlich etwas mehr Substanz verleihen:

Einwand 1: Es wird verhandelt, und zwar dauernd und schon sehr lang! Das Normandie-Format (mit Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland) verhandelte 2014/15 die Minsker Vereinbarungen und weitere 8 Jahre lang deren Umsetzung – die nie gelang, weil die Ukraine und Russland sich über grundlegende territoriale und Statusfragen uneins waren. Am wichtigsten aber: Russland bestritt seine Rolle als Konfliktpartei (die es war). Zudem versuchte Russland die Verhandlungen und die Minsker Vereinbarungen zu missbrauchen, um seinen politischen Einfluss in der Ukraine in Gestalt der russisch kontrollierten Territorien im Osten des Landes zu festigen. Von Dezember 2021 bis zum 17.02.2022 fanden intensive Verhandlungen über Russlands Forderung nach "Sicherheitsgarantien" statt. Das war ein Ultimatum, mit dem die USA und NATO zur Aufteilung Europas in Einflusszonen gezwungen werden sollten. Die Ukraine sollte selbstverständlich der russischen Einflusszone angehören. Russland versuchte, in einem Moment westlicher Schwäche (symbolisch stand dafür besonders der Afghanistan-Abzug) die "Ukraine-Frage" ein für alle Mal zu regeln. Damit scheiterte der Kreml. Also traf Putin die mörderische Entscheidung, unprovoziert das Nachbarland zu überfallen und zu vernichten. Auch damit scheiterte Moskau, und muss deshalb bis heute weiterkämpfen.

Vom 28.02. bis 17.05.2022 verhandelten die Ukraine und Russland direkt und unter türkischer Vermittlung über einen Waffenstillstand. Russland wollte einen Diktatfrieden sowie die Selbstauflösung ("Entnazifizierung") der Ukraine. Die Ukraine machte weitreichende Kompromissvorschläge. Im Istanbuler Kommuniqué, das Ende März vorgelegt wurde, bot sie Neutralität an, forderte Sicherheitsgarantien und zeigte Bereitschaft, in einem Zeitraum von 15 Jahren über den Status der Krim zu verhandeln. Was sich parallel veränderte, war der militärische und der politische Kontext der Gespräche: Zum einen scheiterte Russland mit dem Versuch, die Ukraine in wenigen Tagen militärisch zu überrennen. Zum anderen ließen die in den im April befreiten Gebieten aufgedeckten genozidalen Kriegsverbrechen und die Schlacht um Mariupol im April/Mai 2022 in der Ukraine Vertrauen und gesellschaftliche Unterstützung für Verhandlungen schwinden. Der Ukraine gelang es außerdem, nicht zuletzt mit westlicher Unterstützung, das militärische Gleichgewicht zu verschieben. Am 17.05.2022 zogen sich beide Parteien aus den Gesprächen zurück.

Es wurde aber weiter verhandelt über 1) humanitäre Fragen; 2) Getreideexporte; 3) das ukrainische AKW Saporischschja. Erfolgreich war der Getreide-Track, aus dem unter türkischer und UN-Vermittlung am 22.07.2022 ein Abkommen hervorging. Russland begann sofort, den Deal propagandistisch zu unterlaufen und versuchte am 29.10.2022, ihn zu zerstören. Das wurde vom türkischen Präsidenten Erdogan verhindert, was den gewachsenen Einfluss der Türkei gegenüber Russland spiegelt. Mitte November wurde der Deal um 120 Tage bis Frühjahr 2023 verlängert.

Dank der Kontakte über humanitäre Fragen gelingen immer wieder Gefangenenaustausche. Den Track zum AKW Saporischschja hat Russland mit der proklamierten Annexion von vier weiteren ukrainischen Gebieten im September 2022 beendet – denn nun wird behauptet, das AKW läge auf russischem Gebiet und damit seien Verhandlungen überflüssig.

Einwand 2: Russland (nicht die Ukraine erschwert durch seine auf allen Ebenen destruktive Politik jede Form von Verhandlungen! Das hat die Annexion der vier Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson im September noch einmal eindrucksvoll belegt. Sie bedeutete eine massive Eskalation des Krieges und macht eine diplomatische Lösung bis auf Weiteres unmöglich. Das Istanbul Kommuniqué ist passé. Auch die türkische Vermittlung ist erschwert. Der türkische Präsident Erdogan hatte sich mehrmals ausdrücklich gegen die Annexion gewandt. Seit Anfang Oktober zerstört Russland durch die Luft gezielt ukrainische zivile und kritische Infrastruktur mit dem Ziel, der ukrainischen Bevölkerung die Lebensgrundlagen zu nehmen. Diese Taktik unterstreicht noch einmal den genozidalen Charakter des russischen Angriffskrieges. Nichts weist darauf hin, dass die russische politische Führung ihre ursprünglichen Kriegsziele verändert oder abgeschwächt haben könnte.

Einwand 3: Dass der Westen nicht selbst beteiligt ist, heißt nicht automatisch, dass es keine Verhandlungen gibt! Manchmal scheint das hiesige Lamento eher der deutschen Nabelschau als den Realitäten im Konflikt zu entspringen. Die Vermittlung haben erst einmal andere übernommen, nachdem Russland mit dem Überfall die bestehenden Formate unter westlicher Beteiligung vernichtet hatte. Erdogan ist für beide Seiten ein akzeptabler Gesprächspartner. Und bei aller Kritik und Skepsis muss man ihm lassen, dass er den Job bislang sehr gut gemacht hat. Zu danken ist auch UN-Generalsekretär Guterres. Westliche Akteure werden bis auf weiteres auf flankierende Maßnahmen beschränkt bleiben. Sie müssen im eigenen Interesse der Ukraine weiter dabei helfen, das militärische Gleichgewicht bis zu dem Punkt zu verschieben, an dem Russland einsieht, dass es diesen Krieg mit Waffen nicht gewinnen wird. Dann wird es Verhandlungen geben, und zwar solche, in denen die Ukraine Eigenstaatlichkeit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität wahren kann. Das muss das Ziel sein – nicht Verhandlungen um jeden Preis.

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Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik – Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP), Berlin.