Russland-Analysen: Memorial stellt seiner organisatorischen Struktur nach einen Verband gleichberechtigter Organisationen dar. So gibt es zum Beispiel das Wissenschafts- und Informationszentrum Memorial St. Petersburg, Memorial International und Memorial Perm, dessen Leiter Sie sind. Das Menschenrechtszentrum Memorial wurde im Dezember 2021 vom russischen Staat aufgelöst. Wie sieht Ihre Arbeit nach dem Dezember 2021 und nach dem 24. Februar 2022 aus? Kann die Arbeit noch auf die alte Weise fortgeführt werden?
Robert Latypov: Zu einem gewissen Maße wird die Tätigkeit der Organisationen fortgeführt. Ein Teil des Teams ist zwar ausgewandert, setzt die Arbeit aber aus der Ferne fort.
Einige Projekte, die auf öffentliche und Präsenzveranstaltungen abzielen, mussten natürlich eingestellt werden (die Behörden hätten das einfach nicht zugelassen). Andere Projekte sind aber geblieben. Beispielsweise machen wir in der Region Perm mit dem Verleih unserer mobilen Ausstellungen zur Geschichte der politischen Repressionen weiter. Man muss verstehen, dass diese Arbeit, weil sie nach außen gerichtet ist, sehr sensibel ist; sie erfolgt unter ständigen Gefahren und Risiken.
Russland-Analysen: Vor einigen Wochen war der Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen, am 30. Oktober. Memorial hat es geschafft, in Russland verschiedene Veranstaltungen zu organisieren, bei denen die Menschen öffentlich Namen von Opfern verlasen. Es gab eine Reihe von Online-Veranstaltungen und Streams auf YouTube. Es wurden auch subtilere Aktionen durchgeführt. Welche Bedeutung hat Memorial heute für die Menschen in Russland und in anderen Ländern?
Robert Latypov: Memorial bleibt nach wie vor für viele Menschen eine sehr angesehene Organisation. Es stimmt: Die russische Regierung versucht, uns zu zerstören, zu verbieten, und die propagandistischen Medien setzen viel daran, uns in den Augen der Russ*innen zu marginalisieren und zu stigmatisieren. Aber wir sind am Leben, und die Menschen reagieren nach wie vor auf die Dinge und Aktionen, zu denen wir sie einladen und aufrufen.
Russland-Analysen: Ein Teil der Organisationen hat das Land verlassen und arbeitet an verschiedenen Projekten im Ausland. Welche Unterstützung erhalten sie dort, was ist wichtig, was ist vonnöten?
Robert Latypov: Das ist eine schwierige Frage. Man sollte dem "Genossen Major" [den Sicherheitsbehörden; Anm. d. Red.] wohl kaum dadurch helfen, dass derlei sensible Informationen veröffentlicht werden.
Russland-Analysen: Memorial hat zusammen mit Ales Bjaljazkij aus Belarus und dem ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten den Friedensnobelpreis erhalten. Gibt es eine Verbindung zwischen Ihnen dreien, außer dem Umstand, dass Sie sich für Menschenrechte einsetzen?
Robert Latypov: Es gibt eine ganz direkte Verbindung, nämlich den Kampf für Menschenrechte im weiteren Sinne, und insbesondere den Widerstand gegen den Krieg, für die Hilfe für politische Häftlinge und Flüchtlinge, die menschenrechtliche Bildungsarbeit, bürgerschaftliche Bildung…
Russland-Analysen: Was bewirkt der Friedensnobelpreis? Bedeutet er mehr als ein Symbol oder eine finanzielle Spende nach einer Versteigerung der Medaille?
Robert Latypov: Neben den Dingen, die Sie genannt haben, besteht der Wert des Preises darin, dass er ein Vorschuss für die Zukunft ist.
Zum einen, damit unsere Arbeit weitergeht. Denn nicht nur das Bestreben der Aktivist*innen von Memorial ist von Bedeutung, sondern auch die Solidarität von außen ist vonnöten. Und dieser Preis ist eines der klaren Zeichen einer solchen Solidarität und Unterstützung.
Zweitens hilft der Preis dabei, das internationale Ansehen zu erhöhen und die Anerkennung für Memorial in einem Land zu stärken, das einen Krieg angezettelt hat, der aber irgendwann beendet sein wird. Und in diesem Land werden Institutionen wie Memorial gebraucht, Organisationen, die jetzt und später helfen, die sich in einem gewissen Maße für eine Überwindung der Folgen dieses Krieges einsetzen. Der Friedensnobelpreis ist ein öffentliches und deutliches Mandat des Vertrauens für unsere Organisation, für ihre Stimme heute und in der Vergangenheit. Es ist ein Mandat, das in Russland für die Einen unmöglich zu ignorieren ist, und das aus der Sicht von anderen für das hehre Ziel eine Umgestaltung der russischen Gesellschaft genutzt werden kann. Der Friedensnobelpreis als Vorschuss ist gewissermaßen ein Vertrauensvorschuss. Bei all den Risiken, die sich aus den Geschehnissen ergeben, aus menschlichen Faktoren, aus all der Ungewissheit usw., bedeutet das ein hohes Maß an Vertrauen.
Aber das ist natürlich nur meine persönliche Wahrnehmung.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder