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Analyse: Rückkehr zu Realität | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Rückkehr zu Realität Russland-Analysen Nr. 426

Andrei Yakovlev

/ 6 Minuten zu lesen

Die Mobilmachung hat den Optimismus in der russischen Wirtschaft zu Nichte gemacht und Unternehmer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Mitarbeiterin einer Stars Coffee Filiale, eine Kopie der amerikanischen Cafékette, die entstand, nachdem sich Starbucks aus Russland zurückgezogen hatte. (© picture-alliance/dpa, TASS/Anton Novoderezhkin)

Zusammenfassung

Die "teilweise Mobilmachung", die trotz vielmaliger öffentlicher Versprechen, eine solche nicht zu unternehmen, von Putin verkündet wurde, geriet zu einem ernstlichen Schock für die Bevölkerung und dürfte wohl im Weiteren Probleme für den politischen Rückhalt für das Regime bedeuten. Was jedoch die Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes betrifft, sind die Folgen der Mobilmachung kaum zu überschätzen. Die wichtigste Folge der Mobilmachung war ein Einbruch bei den positiven Erwartungen in kleinen und mittleren Unternehmen, die sich in den Sommermonaten vor dem Hintergrund der anhaltenden, überaus großen Exporteinnahmen und der reaktionsschnellen Maßnahmen von Zentralbank und Regierung zur Stabilisierung der Finanzmärkte und zur Stützung der Wirtschaft entwickelt hatten. Allerdings gab es ungeachtet der Erfolge bei der kurzfristigen Stabilisierung der Wirtschaft langfristig keine realen Grundlagen für einen derartigen Optimismus – die Mobilmachung hat die Unternehmer schlichtweg auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Alles nicht so schlimm

Der Spätsommer war von einer beträchtlichen Verbesserung der Prognosen hinsichtlich der Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für 2022 geprägt. Die letzten Einschätzungen der Weltbank gehen von einem Rückgang des russischen BIP von 4,5 Prozent in diesem Jahr aus, im Gegensatz zur Juni-Prognose, die von 8,9 Prozent ausging. Grundlage für eine solche Verbesserung der Einschätzungen war nicht nur das umsichtige Vorgehen der russischen Finanzbehörden, die bereits Ende März für eine Stabilisierung des Währungskurses und des Bankensystems gesorgt und auch die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte beruhigt hatten. Darüber hinaus spielten die neuen Programme für vergünstigte Kredite für strategisch bedeutsame Unternehmen sowie für kleine und mittlere Unternehmen, die umgehend und in Anlehnung an die staatlichen Corona-Hilfsmaßnahmen in der kritischen Phase der Pandemie im Frühjahr und Sommer 2020 aufgelegt wurden, eine Rolle. Ein viel grundlegenderer Faktor dürfte allerdings der Anstieg der Weltmarktpreise für Öl gewesen sein, der nach der Verkündung der Sanktionen erfolgte, mit einer entsprechenden Zunahme der Einnahmen aus dem Ölexport, die in erheblichem Maße nicht nur die Haushaltseinnahmen beeinflussen, sondern auch die allgemeine Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Darüber hinaus spielte der Faktor eine erhebliche Rolle, dass die Vorräte an Material und Bauteilen in der Industrie und anderen Branchen der Realwirtschaft, die die Unternehmen nach 2020 zur Abfederung der Folgen einer weiteren Corona-Welle angelegt haben, sehr umfangreich sind.

Die Kombination dieser Faktoren hat zu einer veränderten Stimmungslage in den Unternehmen geführt. Den Ergebnissen einer Routinebefragung kleiner Unternehmen, die dieStiftung Öffentliche Meinung (FOM) Ende Juli, Anfang August durchgeführt hat, liegen die aktuellen Einschätzungen der Leiter kleiner Unternehmen zur Nachfrage und den Einnahmeaussichten auf dem Niveau des zweiten und dritten Quartals 2021, und die Erwartungen für das dritte Quartal fallen im Jahresvergleich sogar positiver aus. Die gestiegenen Erwartungen der Unternehmer haben in den Sommermonaten zusammen mit den subventionierten Zinssätzen dazu geführt, dass die Realwirtschaft allmählich wieder im früheren Umfang mit Krediten versorgt wird. Das gilt besonders für den Bereich der Agrarindustrie, und auch für den Wohnungs- und Straßenbau (bei ersterem aufgrund der Ausweitung der Hypothekenprogramme, bei letzterem aufgrund der fortgeführten staatlichen Finanzierung).

Die Stimmung kippt

Gleichzeitig zeichneten sich bereits in dieser Phase aufkommende Probleme bei den Haushaltseinnahmen ab. Unter anderem erfolgte im Juli im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein Rückgang der Haushaltseinnahmen um 26 Prozent; und im August fielen die Einnahmen um 11 Prozent niedriger aus als im Vorjahr. Parallel wurden zu diesem Zeitpunkt die hohen Kosten der Umorientierung der russischen Exporte in Richtung der asiatischen Märkte offensichtlich, wie auch die fehlenden Möglichkeiten, die Hightech-Importe aus der EU und den USA umgehend durch entsprechende asiatische Produkte zu ersetzen. Diese Probleme sind den Vertretern der großen Unternehmen und auch den Behördenvertretern des Wirtschaftsblocks sehr wohl bewusst, wurden allerdings öffentlich nicht angesprochen (vor diesem allgemeinen Hintergrund bilden die Analysen der Zentralbank eine gewisse Ausnahme: Dort wird die Situation mit exakten Formulierungen recht objektiv analysiert).

Im Ergebnis führte das zum September hin zu einer fragilen Balance zwischen den Erwartungen hinsichtlich einer Stabilisierung, die im sehr zahlenstarken Segment der kleinen und mittleren Unternehmen dominieren (wo der Planungshorizont typischerweise kürzer ist), und den Erwartungen, dass der Eintritt in eine längere Krise unausweichlich sei; letztere Einstellungen waren für die Spitzenmanager und Eigentümer großer Unternehmen kennzeichnend. Dass diese Balance der Stimmungen in den Unternehmen aufrechterhalten werden konnte, ist zweifellos auch der Informationspolitik des Kreml zu verdanken. Diese schuf den Eindruck, dass der Krieg (also eigentlich nicht der Krieg, sondern eben eine "Spezialoperation") irgendwo weit weg stattfindet, und dass er alle, die nicht direkt daran beteiligt sind, nicht betrifft – und dass die Wirtschaft bald zu ihrem früheren Zustand zurückfindet.

Die am 21. September 2022 verkündete "teilweise Mobilmachung" hat diese fragile Balance zerstört. Die Ergebnisse der monatlichen Konjunkturumfrage bei Firmen der Realwirtschaft, die die russische Zentralbank Anfang Oktober durchgeführt hat, zeigen einen merklichen Einbruch der aktuellen Einschätzungen und der Prognosen der Unternehmen, nachdem sich diese Werte im Laufe der sechs vorausgegangenen Monate verbessert hatten. Gleichwohl fielen die Einschätzungen deutlich positiver aus als noch im März und April dieses Jahres, als sie wiederum merklich positiver waren als im März 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie.

Auswirkungen der teilweisen Mobilmachung

Zu den unmittelbaren Auswirkungen der Mobilmachung zählt der Umstand, dass Hunderttausende Mitarbeiter aus der Wirtschaft abgezogen wurden. Allein die offizielle Zahl derjenigen, die in die Armee eingezogen wurden, beträgt 300.000, und die Schätzungen zu denjenigen, die nach dem 21. September aus Russland fortgegangen sind, belaufen sich auf bis zu 700.000. Selbst bei der Annahme, dass von den letzteren ein Teil im Homeoffice weiterarbeitet und viele anschließend nach Russland zurückkehren dürften, beträgt die Gesamtzahl derjenigen Mitarbeiter, die aus dem Produktionsprozess herausfallen, wohl kaum weniger als eine halbe Million. Andererseits ist auch zu berücksichtigen, dass die Gesamtzahl der Beschäftigten in Russland Anfang 2022 bei rund 72 Millionen lag. Daher dürfte diese verringerte Zahl der Arbeitskräfte sich wohl kaum in erheblichem Maße auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Weitere Risiken für die Unternehmen ergaben sich aus dem Chaos, das bei der Mobilmachung in den ersten Tagen nach ihrer Verkündung herrschte, als nämlich die Wehrersatzämter um jeden Preis versuchten, die Pläne zu erfüllen, die sie von oben auferlegt bekommen hatten. Für großes Aufsehen hatten Fälle von "Treibjagden auf Männer" in Moskau und anderen großen Städten gesorgt, die direkte Parallelen zur "Mobilmachungs"-Praxis in den sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk erkennen ließen.

Unter diesen Bedingungen waren von der Mobilmachung oft Mitarbeiter betroffen, die in ihren Unternehmen Schlüsselfunktionen ausübten, was dann in eine Desorganisierung der Produktionsprozesse mündete.

Gleichzeitig sollten die Auswirkungen dieser Faktoren nicht überbewertet werden. Bereits in den ersten Oktobertagen (also noch vor der offiziellen Entscheidung, "Koordinationsstäbe" einzurichten und die Gouverneure zu "Verantwortlichen für die Umsetzung der Mobilmachung" zu machen) begann zwischen großen Unternehmen und regionalen Regierungen ein "Verhandlungsprozess". Mit dem sollte einerseits eine Erfüllung der Rekrutierungsvorgaben in der Region gewährleistet werden, und andererseits den Unternehmen im Gegenzug jene Mitarbeiter erhalten bleiben (also praktisch von einer Rekrutierung ausgenommen werden), die für die Produktionstätigkeit von kritischer Bedeutung sind. Dieses Modell der Beziehungen zwischen Unternehmen und Regierung erinnert auf traurige Weise an einen Feudalismus mit einer "Leibeigenschaft" hinsichtlich der Mitarbeiter. Andererseits erlaubten es derartige Verhandlungen in der Tat, dass große Unternehmen Schlüsselmitarbeiter behalten und die Kosten durch die Mobilmachung möglichst gering halten können.

Gleichzeitig ist auch klar, dass ein solcher "Dialog" vor allem für große Unternehmen möglich war, die für die regionalen Haushalte eine wichtige Steuerquelle darstellen. Demgegenüber sollten die mittleren und kleinen Unternehmen, die nicht über die nötige Verhandlungsmacht verfügen, unter der Mobilmachung zu leiden haben, was indirekt aus den Zahlen hervorging, die Verteidigungsminister Schojgu bei seinem Treffen mit Präsident Putin am 28. Oktober bekannt gab. Schojgu erklärte unter anderem, dass von den 300.000 Einberufenen 27.000 oder 9 Prozent Unternehmer seien.

Als wichtigste Auswirkung der Mobilmachung ist insgesamt allerdings der Umstand zu betrachten, dass die Wirtschaft dadurch endgültig in das Stadium der Stagnation und Rezession eintrat, nämlich aufgrund eines Stimmungseinbruchs bei den Erwartungen der Unternehmen und Privathaushalte. Dabei ist die Mobilmachung zweifellos ein zusätzlicher Faktor, der zudem eine Destabilisierung der staatlichen Finanzen mit sich brachte, da die von Putin angekündigten Zahlungen an die Einberufenen, die den Widerstand gegen eine Rekrutierung schwächen, wie auch die Ausgaben für die Ausstattung und Ausrüstung der Einberufenen deckeln sollten, die in keinster Weise im Haushalt vorgesehen sind. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung von Ministerpräsident Michail Mischustin von Ende Oktober 2022 bezeichnend, durch die aus dem Nationalen Wohlstandsfonds eine Billion Rubel zur Deckung des Defizits im zentralen Haushalt entnommen werden sollen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Weitere Inhalte

Andrei Yakovlev ist einer der führendsten russischen Experten im Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft als auch der politischen Ökonomie von Reformen. Im Jahr 2017 erhielt er den Yegor Gaidar Preis für Wirtschaft. Seit Oktober 2022 ist er Gastwissenschaftler am Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard Universität.