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Analyse: Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf die russische IT-Industrie | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf die russische IT-Industrie Russland-Analysen Nr. 425

Felix Herrmann

/ 11 Minuten zu lesen

Die russische Chipfertigung war bereits vor den Sanktionen von 2022 in einer ausgeprägten Krise und lag technologisch um Generationen hinter den global führenden Herstellern zurück.

Microchipherstellung für elektronische Reisepässe in der Fabrik Mikron in Selenograd bei Moskau. (© picture-alliance, Alexander Ryumin/TASS)

Zusammenfassung

Die russische IT-Branche sieht sich in Folge des Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine auf mehreren Ebenen großen Herausforderungen gegenüber. Etliche Schwierigkeiten ergeben sich neu aus den massiven westlichen Wirtschaftssanktionen und dem massenhaften Weggang westlicher Unternehmen aus Russland, andere bereits seit langem bekannte Probleme wurden durch den Krieg und seine Folgen deutlich drängender. Es lassen sich drei miteinander verschränkte Themenfelder ausmachen, auf denen sich der russische Staat zu Ergreifung von Maßnahmen gezwungen sieht: 1. Der Rückzug ausländischer Anbieter vom russischen Markt wird mittelfristig zu einer deutlichen Einschränkung des Angebots an Software und IT Services für Nutzer/innen und Unternehmen führen. 2. Die mit Kriegsbeginn ausgelöste Ausreisewelle von IT Spezialisten, die vom Rückzug ausländischer Firmen aus Russland und der Teilmobilisierung Ende September verstärkt wurde, könnte zu einer deutlichen Verschärfung der Fachkräftesituation führen. 3. Die Versorgung mit Hardware für Computer- und Telekommunikationstechnik aus dem Ausland ist durch die westlichen Sanktionen sehr unsicher geworden. Zwar gibt es seit Jahren staatliche Bemühungen, die russische Mikroelektronikindustrie auszubauen und auf ein international konkurrenzfähiges Niveau zu bringen. Erfolge lassen aber bislang auf sich warten und sind kurz- und mittelfristig nicht in Sicht.

Software- und IT Services

In den ersten Kriegsmonaten verging kaum eine Woche, in der global tätige Unternehmen nicht ihren Rückzug vom russischen Markt verkündeten. Darunter waren auch die großen Anbieter von Unternehmens- und Anwendersoftware wie Oracle, SAP und Microsoft sowie viele weitere Firmen. Github, eine der größten Plattformen für die gemeinsame Entwicklung von Software im Besitz von Microsoft, sperrte im April Zugänge von russischen Firmen, die unter US Sanktionen fallen, wie etwa Sberbank oder Alfa Group. Wegen der Sanktionen, den Schwierigkeiten bei der Durchführung von Finanztransaktionen in Folge der westlichen Sanktionen und des öffentlichen Drucks in westlichen Staaten bei fortgesetzter Tätigkeit in Russland hat die Attraktivität des russischen Marktes für Firmen aus westlichen Ländern massiv nachgelassen, zumal die großen Softwareunternehmen nur einen relativ geringen Teil ihrer Umsätze dort erzielten. Für russische Firmen, die bislang auf Unternehmenssoftware von Herstellern wie Oracle oder SAP setzten, steht mittelfristig wegen der gestörten Verfügbarkeit von Support und Softwareupdates die Migration auf Produkte einheimischer Hersteller an, selbst wenn die vorhandenen Installationen erst einmal weiterlaufen können. Durch ihre enge Verzahnung mit Unternehmensprozessen gelten Änderungen an oder gar das Neuaufsetzen von Firmensoftware-Systemen als extrem aufwendig sowie kostspielig, da sie während der Umstellung Ressourcen in allen Unternehmensteilen binden.

Neue Chancen für russische IT Anbieter

Der russischen IT Branche bietet der Rückzug der ausländischen Konkurrenz neue Möglichkeiten, das Geschäft im eigenen Land auszubauen. Seit Jahren wird staatlicherseits der Aufbau eines russischen Ökosystems an Software und IT-Diensten angestrebt. Die staatlichen Maßnahmen, etwa durch Vorgaben für Behörden und sicherheitskritische Bereiche nur einheimische Software zu verwenden, scheiterten oft am Beharrungsvermögen der Anwender/innen, an fehlenden Alternativen oder den hohen zeitlichen und materiellen Aufwänden für die Migration. Völlig unabhängig vom Westen waren aber auch die gewählten Lösungen bisher selten. Oft basieren sie auf frei lizensierter Open Source Software, deren Quellcode im Internet zur Verfügung gestellt wird. Eines der zertifizierten Betriebssysteme für russische Behörden und Staatsbetriebe ist das ursprünglich für russische Sicherheitsorgane entwickelte Astra Linux. Es basiert auf dem weltweit von Freiwilligen, aber auch von Firmen entwickelten Open Source Betriebssystem Debian GNU/Linux. Der Wechsel von Windows auf Astra Linux war bisher auch im staatlichen Sektor kein Selbstläufer. Der Chef des Herstellers Astra Ilja Siwtschew führte in einem Interview 2021 aus, dass es erst in 5 bis 7 Jahren mehr Astra Linux als Windows Installationen auf Arbeitsplätzen und Servern in der staatlichen bzw. staatsnahen IT – Kunden des Unternehmens sind etwa die Russische Eisenbahn oder Rosatom – geben würde. Ein Grund für das langsame Vorankommen bei Umstellungen von Microsoft Umgebungen auf Linux ist, dass ein Großteil von spezifischen Fachanwendungen in Wirtschaft und Behörden für die Ausführung unter Windows programmiert wurde und die Migration nach Linux daher mit einem hohen Aufwand einhergeht. Viele der über Jahrzehnte getätigten Investitionen müssten wohl abgeschrieben und Ersatz neu programmiert werden. Abgesehen vom Betriebssystem ist auch das Erstellen von Anwendungssoftware nötig, wenn mit den Computern unabhängig von westlichen Herstellern produktiv gearbeitet werden soll. Das Erstellen, Anpassen und Zertifizieren von Software nach den staatlichen Vorgaben sowie die anschließende Einführung in die produktive Nutzung im staatlichen Bereich und der Privatwirtschaft dürften russischen IT Firmen weiterhin ein stabiles Geschäftsumfeld garantieren.

Rückkehr zur Softwarepiraterie?

Allerdings warnen russische Branchenvertreter vor der Softwarepiraterie und damit der Rückkehr zur Praxis aus den 1990er Jahren, als es CDs mit westlicher Software überall in Russland zu Spottpreisen zu kaufen gab und kaum jemand legal Softwarelizenzen erwarb. Auch die UdSSR setzte im großen Stil auf die unlizensierte Nutzung westlicher Software und baute u. a. deswegen die Computer von US Herstellern nach. Maßnahmen zur Legalisierung von Piraterie – wie bei Unterhaltungsfilmen westlicher Studios aktuell bereits praktiziert – würden, so die Befürchtung, die Entwicklung einer eigenen russischen Softwareindustrie stark belasten. Für eine Neuauflage der staatlich vorangetriebenen Softwarepiraterie wie in der UdSSR ab den 1970er Jahren gibt es erste Anzeichen. So sprach sich der russische Digitalisierungsminister Schadeev im Oktober dafür aus, dass russische Kunden Softwareprodukte ausländischer Anbieter, die Russland nach dem 24.2. verlassen haben, weiter nutzen können sollen, wenn keine russische Alternative verfügbar ist. Überlegungen wie diese stehen im Konflikt zu den staatlichen Bemühungen, mit Maßnahmen zur Importsubstituierung die einheimische Industrie zu stärken. Deren Fähigkeit, kurz- und mittelfristig Softwareprodukte aus westlichen Staaten zu ersetzen, dürfte vor allem von der Verfügbarkeit von IT Experten abhängen.

Fachkräfte

Zahlreiche Menschen haben unmittelbar nach Kriegsbeginn und in einer zweiten Welle nach dem Ausrufen der Teilmobilmachung Ende September 2022 Russland verlassen. Einen Großteil dieser Ausreisewelle bildeten gut ausgebildete Angehörige der urbanen Mittelschichten, darunter auch viele IT Experten. Neben einer grundsätzlichen Kritik am Kriegs- und Konfrontationskurs des Kreml waren bei den individuellen Entscheidungen auch wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, etwa weil die Arbeit eng mit dem westlichen Ausland verknüpft war. So ermöglichten zahlreiche westliche Firmen, die sich aus Russland zurückzogen, ihren russischen Mitarbeiter/innen die Weiterbeschäftigung und den Umzug ins Ausland. Ende März sprach der Vorsitzende der Russischen Vereinigung für elektronische Kommunikation Sergej Plugotarenko in der Staatsduma von 70.000 bis 100.000 IT Fachkräften, die planen würden, das Land im April zu verlassen, zusätzlich zu den geschätzten 50.000 bis 70.000, die direkt nach Kriegsausbruch ausgereist wären. Da die russische IT-Industrie schon im Vorfeld des Krieges und der sich daraus ergebenden internationalen Spannungen unter einem Fachkräftemangel zu leiden hatte, stellt eine fortgesetzte Abwanderung von IT Experten ins Ausland eine konkrete Gefahr für die Umsetzung der ambitionierten staatlichen Pläne für die Schaffung von Ersatz für Dienste aus dem "nicht-befreundeten" Ausland dar. Der russische Staat versucht mit besonderen Maßnahmen, die Ausreisewellen einzudämmen. So wurden Angehörige von beim Ministerium für Digitalisierung registrierten Softwarefirmen mit mindestens 7 Mitarbeitern bis 2024 von der Einkommenssteuer befreit und können sich um staatlich bezuschusste Hypotheken, etwa zum Erwerb von Grundeigentum, bewerben. Den Zusammenhang mit der ersten Ausreisewelle in Folge des Ukraine-Kriegs offenbart die Regelung, hochqualifizierte, in registrierten Unternehmen beschäftigte IT Experten von der Einberufung zum Wehrdienst zu befreien. Doch wurde der Kreis der von der Einberufung zum Kriegsdienst Ausgenommenen im Zuge der Teilmobilisierung empfindlich verkleinert. Seit dem 21.9.2022 können laut dem russischen Ministerium für Digitalisierung nur noch jene IT Experten, die in zertifizierten IT Unternehmen nicht näher definierte "besonders wichtige Funktionen" bekleiden und darüber hinaus einen Hochschulabschluss nachweisen können, auf Antrag von der Mobilisierung befreit werden. Inzwischen zirkulieren in russischsprachigen Online-Medien Berichte darüber, dass erste während der Mobilisierung eingezogene IT-Experten in der Ukraine gefallen sind. Branchenvertreter gehen davon aus, dass sich der ohnehin hohe Fachkräftemangel in russischen IT Firmen weiter verschärfen wird, weil ein Teil der Mitarbeiter eingezogen und ein anderer das Land verlassen wird. Zwar bedeutet ein Umzug ins Ausland insbesondere im IT-Bereich mit seiner ausgeprägten remote-Arbeitskultur nicht zwangsläufig den Verlust von Fachkräften für russische Firmen. Vor dem Hintergrund vieler offener Stellen im IT Bereich und der durch die westlichen Sanktionen enorm erschwerten Finanztransfers zwischen Russland und westlichen Staaten – im Ausland tätige Arbeitnehmer/innen aus Russland kommen nur noch schwer an ihr Einkommen auf russischen Konten – dürften viele der ins Ausland abgewanderten Fachkräfte der russischen IT-Industrie jedoch mittelfristig verloren gehen.

Hardware

Große Hardwareproduzenten waren unter den ersten Firmen, die Russland den Rücken kehrten. Die US Mikrochiphersteller Intel und AMD erklärten bereits Anfang März 2022, Lieferungen nach Russland einzustellen. Auch Apple stellte seine Geschäfte dort ein. Hintergrund dafür sind die von den USA zusammen mit den EU Staaten, Japan, Australien, Großbritannien, Kanada und Neuseeland erlassenen Technologiesanktionen, die einer Wiederbelebung des CoCom-Embargos aus der Zeit des Kalten Krieges gleichen. Auch wurde die Verschärfung der Umsetzung bereits bestehender Sanktionen von US-Seite angekündigt. Die Maßnahmen Washingtons erstrecken sich auch auf Produkte, die mit Hilfe sanktionierter US Komponenten oder Lizenzen für deren Nachbau erstellt wurden. Direkt davon betroffen sind in erster Linie staatliche Einrichtungen und Unternehmen aus dem russischen Sicherheits- und Rüstungssektor. Die zivile Versorgung mit moderner Computertechnik ist nach acht Monaten Krieg und Sanktionen bislang weiterhin gewährleistet. Damit ist Russland zwar nicht vom globalen Markt für Computer- und Mikroelektronik-Hardware abgeschnitten, die Sanktionen und die nun komplizierteren Lieferwege sorgen jedoch für Preissteigerungen und Verknappungen. Es wird zudem davon ausgegangen, dass der sogenannte "parallele Import" über Staaten, die normalerweise eine wesentlich geringere Nachfrage aufweisen als Russland, bald ins Stocken geraten könnte.

Ende der Mikrochipfertigung in Taiwan

Die russische Hardwareindustrie ist nicht dazu in der Lage, die bisherigen Importe mit eigenen Produkten zu ersetzen. Im Vorfeld des Krieges sprach die Moskauer Wirtschaftszeitung Komersant von einer drohenden »Bestschipowschtschina«, einer Zeit der Chiplosigkeit. Pläne für US Sanktionen für den wenig später eingetretenen Fall eines russischen Überfalls auf die Ukraine sahen im Januar 2022 die Lieferunterbrechung von Mikrochips und von für deren Herstellung notwendigen Ausrüstungen vor. Letztere können nur von einigen wenigen Firmen weltweit geliefert werden und beinhalten diverse Komponenten von US Herstellern. Ein Stopp der Lieferungen ist für die US Regierung verhältnismäßig einfach erreichbar. Die umgehend mit Kriegsbeginn in Kraft gesetzten westlichen Sanktionen stellen für die russische Mikroelektronik-Industrie und die staatlichen Bemühungen um Importsubstituierung ein worst case scenario dar. Die Auswirkungen könnten mittelfristig ähnlich drastisch sein, wie die durch die Reagan-Administration in den 1980er Jahren voran getriebene verschärfte Umsetzung des CoCom-Hochtechnologie-Embargos gegen den Ostblock, das insbesondere den Import von Produktionsequipment für Mikroelektronik enorm einschränkte. Während einfachere Chips, etwa für Sensorik und Mikrocontroller, weiter in Russland produziert oder aus dem Ausland importiert werden können, sind vor allem Mikroprozessoren und leistungsfähige Telekommunikationshardware von den Sanktionen betroffen. Der Aufbau einer Infrastruktur für den kommenden Mobilfunkstandard 5G musste eingestellt werden, weil sich die führenden Hersteller Cisco, Ericsson und Nokia aus Russland zurückgezogen haben und auch Huawei aus China auf russische Anfragen nicht mehr reagierte. Selbst in Waffensystemen, die zu Sowjetzeiten strikten Autarkievorgaben unterlagen, verbauten russische Hersteller in den vergangenen Jahren im großen Stil Mikroelektronik westlicher Hersteller, teils unter Umgehung von US-Exportrestriktionen.

Moderne Fertigungskapazitäten in Russland fehlen

Viele Einrichtungen für die Entwicklung und Produktion von Mikroelektronik gehen auf Gründungen in der UdSSR zurück und sind nach wie vor eng mit dem russischen Staat und der Rüstungsindustrie verbunden. Während in Forschung und Entwicklung leistungsfähige Kapazitäten vorhanden sind, stellt die Massenproduktion hochkomplexer Designs wie auch schon zu Sowjetzeiten die Achillesferse der russischen Hightech-Industrie dar. Zeitgemäß ausgestattete Produktionsstätten stehen in Russland dafür nicht zur Verfügung.

Die Herstellung der Baikal-Mikroprozessoren des gleichnamigen Herstellers wurde sinnvoller Weise an den weltgrößten Auftragsfertiger TSMC in Taiwan outgesourct. Die Fertigung der russischen Prozessoren war wegen der bei TSMC eingesetzten Ausrüstungen, die lizensierte Technologie von US Herstellern enthalten, direkt von den US Sanktionen betroffen und wurde deshalb sofort mit Kriegsbeginn eingestellt. Hinzu kamen Probleme mit der verwendeten Lizenz für die Prozessorarchitektur des britischen Herstellers ARM. Damit ist der Nachschub der verschiedenen Baikal Prozessoren, die zum Herzstück der staatlichen Maßnahmen für die Erreichung der technologischen Unabhängigkeit Russlands gehören, massiv gestört. So muss etwa die Unternehmens-IT der russischen Sberbank auf die Einführung von Servern mit Baikal-Prozessoren in ihren Rechenzentren verzichten und wird die Auflagen für den Umstieg auf heimische IT-Technik nicht umsetzen können. Die Elbrus-Prozessoren, entwickelt auf Basis einer eigenen Architektur vom Moskauer Zentrum für SPARC-Technologie (MCST), wurden auch bei TSMC gefertigt und sind daher ebenfalls von den Sanktionen betroffen. Baikal und Elbrus waren als einheimische Technologien zertifiziert und für den Einsatz in sensiblen Bereichen – Militär, Verwaltung, Rüstung und Finanzwirtschaft – vorgesehen. Die Schaffung von Alternativen zur offensichtlichen Schwachstelle in der einheimischen Produktionskette – der Herstellung in Taiwan – wurden selbst nach dem US Vorgehen gegen chinesische Hersteller wie Huawei und SMIC nicht angegangen. Schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten: Benötigt werden Zeit, geschultes Personal und Milliarden an Dollars für Bau und Ausstattung entsprechender Fabriken, wobei das erforderliche Herstellungsequipment wie erwähnt ebenfalls unter die Sanktionen fällt. Zwar prüft MCST die Aufnahme der Produktion von Elbrus-Prozessoren bei Mikron, nach eigenen Angaben dem größten Chiphersteller Russlands. Doch steht in dessen Fabrik im Mikroelektronikstädtchen Zelenograd nur stark veraltete Produktionstechnik zur Verfügung. Deren Technologieniveau liegt zwischen 17 und 20 Jahren hinter dem von Intel und TSMC zurück. Ein anderer Chipfertiger aus Zelenograd und Hoffnungsträger der russischen Hightech-Industrie, Angstrem-T, wurde hochverschuldet im November 2019 für bankrott erklärt.

Die russische Chipfertigung war also bereits vor den aktuellen Sanktionen in einer ausgeprägten Krise und lag technologisch um Generationen hinter den global führenden Herstellern zurück. Obwohl staatlicherseits bereits seit einigen Jahren Maßnahmen zur Importsubstituierung und der Verringerung der Abhängigkeit zu ausländischen Herstellern propagiert werden, blieb der schwerwiegendste Schwachpunkt der russischen Hardware-Branche, die Chipproduktion im eigenen Land, dabei weitgehend unberücksichtigt. Während die Produktion bei ausländischen Chipfertigern in Friedenszeiten durchaus sinnvoll sein kann, bedeutet sie im Kriegsfall eine Schwäche, die kaum zu korrigieren ist. Die nun erfolgte Ankündigung des Ausbaus der eigenen Herstellungskapazitäten erfolgte deutlich zu spät und die Umsetzung ist trotz staatlicher finanzieller Unterstützung angesichts der unter die Sanktionen fallenden Produktionsausrüstungen mittelfristig sehr unrealistisch. Zwar kündigte das Institut für angewandte Physik der Russischen Akademie der Wissenschaften im Oktober an, bis 2028 ein Lithografiesystem zur Produktionsreife bringen zu wollen, das die Herstellung von Mikrochips auf einem hohen Technologieniveau ermöglichen soll. Doch handelt es sich dabei um einen höchst ambitionierten Zeitplan und selbst die wenig wahrscheinliche Verfügbarkeit des Systems in sechs Jahren würde nur ein Teil des komplexen Produktionsprozesses in der Chipindustrie abdecken. Schon die UdSSR scheiterte wiederholt an der Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in hochproduktive Herstellungsabläufe. Russland wird daher weiterhin umfassend auf den Import von Mikroelektronik setzen müssen und es wird sich zeigen, ob die an den Sanktionsmaßnahmen beteiligten Staaten Willens und in der Lage sein werden, die entsprechenden Warenströme nach Russland wirksam zu unterbrechen.

Fazit

Im Technologiebereich stehen den Chancen für die russische Softwareindustrie Unsicherheiten bei den Fachkräften und eine im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion noch ausgeprägtere Abhängigkeit von ausländischer Hardware gegenüber. Verfügte die UdSSR über eine Mikroelektronikindustrie, deren technologischer Rückstand sich gegenüber den USA auf 3 bis 10 Jahre belief, kann man den technologischen Rückstand bei der Produktion von Mikroprozessoren heute auf 17 bis 20 Jahre taxieren. Im Moment können gar keine der vermeintlich "einheimischen" Prozessoren mehr hergestellt werden. Zentral ist das Verhältnis zur Volksrepublik China, dessen Technologiefirmen sich seit Kriegsbeginn als auffallend zurückhaltend im Umgang mit Russland erwiesen haben. Sollten sich die Auseinandersetzungen zwischen China und den USA weiter zuspitzen, könnte Russland davon profitieren, dass sich chinesische Firmen dann von Drohungen aus Washington weniger beeindruckt zeigen, wenn sie ohnehin schon Sanktionen unterliegen. Konstatiert werden muss eine umfassende Schwäche bei der Herstellung von zeitgemäßer Computerhardware, der heute eine viel größere Bedeutung zukommt als in den 1980er Jahren. Diese nur langfristig im eigenen Land zu behebende Situation könnte sich für die russische Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt als schwerwiegender Kollateralschaden des Kriegskurses erweisen.

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Felix Herrmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa Bremen.