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Analyse: Krieg, Protest und Regimestabilität | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Krieg, Protest und Regimestabilität Russland-Analyse Nr. 421

Jan Matti Dollbaum

/ 10 Minuten zu lesen

Seit Juli 2019 wollte weniger als die Hälfte der Russ:innen Putin nach dem Jahr 2024 als Präsidenten sehen. Nach Kriegsbeginn nahm die Zahl der Putin-Unterstützer:innen laut einer Lewada-Umfrage wieder zu.

Menschen halten Fahnen in den Farben des Sankt-Georgs-Bands, ein russisches militärisches Abzeichen, um Ihre Unterstützung für den Kurs der Regierung von Präsident Putin auszudrücken. (© picture-alliance/dpa, Str)

Zusammenfassung

Nach mehr als drei Monaten Krieg gegen die Ukraine hat sich gezeigt, dass kurzfristig keine Gefahr von Antikriegsprotesten für das russische autoritäre Regime und seine Kriegspläne ausgeht. Lange im Voraus angelegte Repressionskampagnen haben die ohnehin geringe Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit der Nicht-System-Opposition zerstört. Die noch einmal drastisch verschärften Repressionen seit Beginn des Krieges verhindern zudem wirkungsvoll, dass sich neue organisierte Protestgruppen bilden. So bleibt der Protest anonym, unorganisiert, und schwach. Das bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre; aber unmittelbare Auswirkungen auf die großen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg sind von möglichen Protesten nicht zu erwarten. Doch mit seiner imperialistischen Propaganda läuft das Regime Gefahr, von radikalen Kriegsbefürwortern unter Druck zu geraten. Aus diesem Grund geht der Kreml genauso kompromisslos gegen Nationalisten vor wie gegen jede andere Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation.

Einleitung

Die Erfahrung von Revolutionen in modernen, mit hocheffektiven Repressionsapparaten ausgestatteten Staaten zeigt, dass ein autoritäres Regime nur dann ins Wanken und zum Sturz gebracht werden kann, wenn die Kohäsion der Eliten schwindet oder signifikante Teile von Polizei und Armee sich weigern, Befehle auszuführen. Steht das Regime zusammen, so ist ihm wenig anzuhaben. Aus diesem Grund richteten sich nach dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine alle Augen auf die undurchsichtigen Kremlmauern, um mögliche Bruchlinien in Putins Machtzirkel auszumachen. Hochrangige Offizielle und kremlfreundliche "Oligarchen" stehen auf den Sanktionslisten, es werden weltweit Yachten festgesetzt und Konten eingefroren. Doch trotz Rücktritten einzelner Randfiguren wissen wir mittlerweile – etwa aus den Analysen von Farida Rustamova –, dass Sanktionen die russische Elite zumindest im Moment eher zusammenschweißen als Keile hineinzutreiben.
Hier kann Protest ins Spiel kommen. Denn zwar stürzen friedliche Demonstrationen kein Regime – das war im Jahr 2020 in Belarus deutlich zu beobachten, als zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung auf die Straße gingen, ohne dass Lukaschenka in ernste Gefahr geriet. Doch Protest kann in autoritären Regimen dazu beitragen, Elitenspaltungen zu erzeugen, die ihrerseits dann ursächlich für einen Regimewechsel sein können. Dies kann über mindestens zwei Wege geschehen: Erstens können große Proteste den Eindruck erzeugen, dass der Staatsführung jegliche Legitimität in der Bevölkerung fehlt und sich deshalb für Eliten die Loyalität nicht mehr lohnt – vor allem wenn, zum Beispiel durch Amtszeitbeschränkungen, ohnehin ein baldiger Machtwechsel ansteht. Auf diese Weise trugen Proteste zum Regimewechsel bei mehreren Revolutionen im postsowjetischen Raum bei. Ein zweiter Weg führt über Disruption – also friedlicher ziviler Ungehorsam etwa in Form von Besetzungen und Blockaden: Wenn Protestierende das Funktionieren des Staates und/oder der Wirtschaft ernsthaft in Gefahr bringen, kann das zur Uneinigkeit innerhalb des Regimes beitragen. Denn derartige Proteste stellen das Regime vor die Entscheidung, diesen mit Kompromissvorschlägen oder Repressionen zu begegnen, was wiederum Abspaltungen und Befehlsverweigerung oder zumindest Kompromisse zur Folge haben kann. Protest kann also ein Regime durchaus in Gefahr bringen, dieser sollte aber für beide Szenarien bestimmte Eigenschaften aufweisen: Im ersten Fall müssen Proteste groß und repräsentativ sein, im zweiten zumindest gut organisiert und diszipliniert. Beides liegt in Russland zurzeit in weiter Ferne.

Die Ausmerzung des Widerstands

Das russische autoritäre Regime befindet sich schon seit vielen Jahren in einer Eskalationsspirale, in der Repression verstärkt und formal demokratische Institutionen ausgehöhlt werden. Lange Zeit nutzten Oppositionelle die schrumpfenden, aber dennoch weiterhin vorhandenen Spielräume und Gelegenheiten: Die lokalen Oppositionskoalitionen in Nowosibirsk und Moskau und auch Alexej Nawalnyjs "Smart Voting"-Strategie entspringen dieser Periode. Die Ökonomen Sergej Guriew und Daniel Treisman sahen Russland gar als Beispiel des "informationalen Autoritarismus", der anstatt durch Repression vor allem durch die Kontrolle von Information Stabilität erzeugt. Doch spätestens mit Nawalnyjs Verurteilung im Frühjahr 2021, der Einstufung seiner Organisationen als "extremistisch" und der Unterdrückung von Protest und unabhängigen Medien in einer noch nie dagewesenen Härte bewegte sich Russland deutlich in Richtung eines klassischen, vor allem auf Repression setzenden autoritären Regimes.
Noch im Jahr 2021 stellen sich viele Beobachter die Frage, warum das russische Regime mit einer derartigen Vehemenz gegen jeglichen Dissens vorging. Weder von Nawalnyj noch anderen Oppositionsakteuren ging eine ernsthafte Gefahr für Putin aus. Eine halbwegs plausible Antwort lautete deshalb: Die Repressionen sollen präventiv wirken. Zwar ist Nawalnyj deutlich zu unbeliebt, um zurzeit Wahlen gewinnen zu können. Aber sollte Putins Unterstützung in der Bevölkerung schwinden – zum Beispiel durch eine ausgedehnte Wirtschaftskrise – so könnte Nawalnyjs Organisation in der Lage sein, Proteste zu organisieren, damit den Widerstand zu kanalisieren und sich als potenzielle Gegeneliten anzubieten.
Mittlerweile kennen wir die Antwort. Die Präventionsthese war korrekt, nur ging es dabei nicht um eine vage Zukunftsabsicherung gegen eventuell drohende Legitimationskrisen. Die Ausschaltung der organisierten Opposition, die der Bevölkerung unter Rückgriff auf die bewährte Formel verkauft wurde, dass sich Russland gegen Einmischung in innere Angelegenheiten aus dem Ausland wehren müsse, war vielmehr Teil der Kriegsvorbereitung. Einer möglichen Antikriegsbewegung sollte im Vorfeld des Krieges jegliche Grundlage entzogen werden.

Der Protest geht in den Untergrund

Unmittelbar zu Beginn des Krieges fragten sich viele, ob nicht trotzdem eine Protestbewegung entstehen könnte. Immerhin gingen in den ersten Wochen immer wieder Menschen im ganzen Land auf die Straße. Leonid Drabkin von OWD-Info, einer Organisation, die politische Repression dokumentiert und ihre Opfer juristisch unterstützt, berichtete zwei Wochen nach Kriegsausbruch, dass viele Protestierende auf den spontanen Antikriegsdemos kaum Erfahrung mit Repressionen gehabt hätten. Dies zeige, dass längst nicht nur die "üblichen Verdächtigen", die schon seit Jahren regelmäßig protestieren, an den Protestaktionen teilnähmen. Diese Beobachtungen ließen viele darauf hoffen, dass sich eine ganz neue Klientel dem Protest anschließen und ihn dadurch entscheidend stärken könnte.
Doch diese Hoffnung entpuppte sich schnell als Illusion. Zunächst wurde der Protest unmittelbar durch eine enorme Abwanderungswelle (Externer Link: https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/420/) geschwächt: Seit Kriegsbeginn verließen mehrere Hunderttausend Menschen Russland in die EU, die USA (über Mexiko), die Türkei, nach Israel, Armenien, Georgien und zahlreiche andere Länder. Auch wenn die Beweggründe bei vielen wirtschaftlicher Natur waren, so kam auf diese Weise einer potentiellen Protestbewegung doch auch potentielle Unterstützung abhanden. Viele politisch Aktive hatten sich sogar schon vorher ins Ausland abgesetzt: Allein aus dem lange als liberal geltenden Jekaterinburg verließen 2021 und 2022 vier von Nawalnyjs ehemaligen lokalen Koordinatoren das Land. Es waren also nicht nur systematisch die Organisationsstrukturen zerstört worden. Es fehlte zunehmend auch an Personen, die sie mit Leben füllen und diese Strukturen zur Protestmobilisierung nutzbar machen könnten.
Zudem signalisierte das Regime jenen, die in Russland zu verbleiben gedachten, unmissverständlich, dass jedwede Form des Widerstands einen horrenden Preis haben würde. Zum einen gilt dies für Straßenprotest. Bis Ende März 2022 gab es über 15.000 Festnahmen, mehr noch als bei den weit größeren Protesten gegen die Verhaftung Nawalnyjs Anfang 2021. Für den 2. April 2022 rief die anonyme Protestgruppe Wesna ("Frühling", s. ihren Telegram-Kanal Externer Link: https://t.me/vesna_democrat) zu landesweiten Sitzstreiks auf, was angesichts der starken Abneigung vieler Liberaler in Russland gegen jede Form disruptiver Aktion ein beachtliches Novum darstellt. Wesna musste allerdings schnell feststellen, dass derzeit keine nennenswerten Zahlen für Straßenproteste mobilisiert werden können.
Zweitens gilt dies aber auch für weit subtilere Protestformen. Am 4. März 2022 verabschiedete das russische Parlament im Eilverfahren eine Änderung des Strafgesetzbuchs, die die Verbreitung von "Falschinformationen" über die "Spezialoperation" und die Diskreditierung der russischen Armee mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft. Diese Änderung wurde auch prompt in die Tat umgesetzt. Die Musikerin Alexandra Skotschilenko aus St. Petersburg etwa, die Preisschilder an Supermarktregalen gegen kleine Zettel mit Botschaften über zivile Kriegsopfer ausgetauscht hat, steht dafür zurzeit vor Gericht. Ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft, und damit steht sie bei weitem nicht allein da. Insgesamt zählt OWD-Info 128 Strafverfahren (Stand 11.05.2022) (Externer Link: https://ovd.news/news/2022/03/05/antivoennoe-delo-gid-ovd-info), die im direkten Zusammenhang mit Antikriegsaktionen stehen, darunter 23, die sich auf das neue Gesetz berufen, sowie zahlreiche Anklagen zu bereits existierenden Straftatbeständen wie "Vandalismus" für an Hauswände gesprühte Antikriegsgraffiti.
Dies macht zweierlei deutlich: Erstens zeigen die Verfahren, wie sich der Protest verändert hat. Demonstrationen sind zu gefährlich geworden, unabhängige Medien mussten ihre Berichterstattung einstellen, viele soziale Medien sind blockiert, und die Repressionen gegen zentrale Aktivistinnen und Aktivisten erschweren die Koordination erheblich. Aus diesem Grund ist der Protest in den Untergrund gegangen, wird vollständig dezentral und äußert sich fast nur noch durch anonyme Botschaften im Alltag. Zweitens wird aber sichtbar, dass das Regime selbst auf diese subtileren Formen des Protests mit Repressionen reagiert. Noch vor einiger Zeit dienten repressive Gesetze vor allem als Drohkulisse und kamen kaum zur Anwendung, Jetzt geht das Regime dazu über, diese Drohungen wahrzumachen. Wesna verbreitete kürzlich im Messengerdienst Telegram die folgende Handreichung: "Vermeidet Überwachungskameras und verdeckt euer Gesicht so weit wie möglich […], tragt neutrale, unauffällige Kleidung, […] schaltet euer Telefon aus, benutzt kein Auto". Auf den ersten Blick lesen sich diese Empfehlungen als Verhaltensregeln für den Guerillakampf, doch waren sie für Aktivistinnen und Aktivisten bestimmt, die Peace-Zeichen auf Bushaltestellen malen. Auch wenn noch immer die meisten Festnahmen ohne Strafverfahren enden und es bis zu Massenrepressionen, die wir aus totalitären Regimen kennen, noch einigen Spielraum gibt, dreht sich die Spirale der Unterdrückung unaufhaltsam weiter.

Sozialprotest

All dies zeigt, dass derzeit von einer Protestbewegung, die sich explizit gegen den Krieg positioniert, keine Aktionen zu erwarten sind, die kurzfristige Wirkung entfalten. Schon gar nicht ist ein derartiger Protest in der Lage, eine Spaltung der Elite zu provozieren. Das Regime unterbindet sowohl die Mobilisierung als auch die Koordination effektiv, deswegen ist es derzeit wenig realistisch, dass ein Massenprotest entsteht oder dass der Protest politische Turbulenzen generieren kann. Etwas größer ist die Wahrscheinlichkeit von Sozialprotest. Die Wirtschaftssanktionen lassen schon jetzt die Preise spürbar steigen und werden auch die Arbeitslosigkeit befördern, sodass soziale Nöte in einem seit den 1990er Jahren nicht mehr dagewesenen Ausmaß drohen. Trotz ersten Streiks – etwa bei einer Baufirma in Nishnekamsk und einem Kurierdienstleister in Moskau – ist allerdings längst nicht sicher, dass dies breiten Protest zur Folge haben wird, insbesondere wenn das Regime die Schuld für die Not erfolgreich dem Westen zuschieben und sich die verbliebene Opposition weigern sollte, sozialen Forderungen eine politische Stimme zu geben. Allen voran gilt dies für die Kommunistische Partei, die zurzeit vor allem darum bemüht ist, dem Regime gegenüber ihre Loyalität kundzutun. Und selbst wenn es zu Protesten kommen sollte, so kann das Regime diese wahrscheinlich mit einer Mischung aus Repressionen und Zugeständnissen abfedern, bevor sie so groß oder disruptiv werden, dass sie Elitenspaltungen provozieren. Mögliche Zugeständnisse werden dann wohl nicht direkt den Krieg betreffen, denn es ist weder klar, dass sein Ende zur Aufhebung der Sanktionen führen würde, noch ist es ersichtlich, dass ein Ende der Sanktionen unmittelbare wirtschaftliche Verbesserungen mit sich brächte. Stattdessen könnten Sozialproteste größere Transferzahlungen oder weitere Maßnahmen erwirken, die Preissteigerungen verhindern sollen. Dies würde zwar das Regime finanziell belasten und damit strukturell schwächen, aber nicht zu einer unmittelbaren Bedrohung der Regimestabilität führen.

Probleme von der anderen Seite

Zurzeit ist also weder von einer Antikriegsbewegung noch von wirtschaftlich motivierten Protesten eine akute Gefährdung zu erwarten. Eine dritte potenzielle Gefahrenquelle sollte dabei allerdings nicht vergessen werden: eine radikale Minderheit, der die derzeitigen Kriegsanstrengungen nicht weit genug gehen. Die Propaganda hat in einem Teil der Bevölkerung und der Elite die Erwartung genährt, die Zeit sei gekommen, offene Rechnungen mit dem Westen zu begleichen und zumindest die Ukraine, wenn nicht weitere Teile Osteuropas, einzunehmen. Nachdem der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinskij am 29. März 2022 den Rückzug aus den Regionen um Kyjiw und Tschernihiw angekündigt hatte, zeigte sich der Moderator und Propagandist Wladimir Solowjow, ansonsten ein laustarker Unterstützer der "Spezialoperation", erbost über die Entscheidung. Und auch der tschetschenische Diktator Ramsan Kadyrow widersprach Medinskij und erklärte, Russland werde keine Zugeständnisse machen. Die einzige von Eliten und Medien vorgetragene Kritik am Krieg kommt damit von Akteuren, denen er nicht weit genug geht. Die beiden Genannten spielen zuverlässig ihre Rollen als imperialistische Hardliner. Sollte sich diese Stimmung in der Elite jedoch verbreiten und zudem noch Widerhall in der Bevölkerung finden, könnten von militärischen Rückschlägen diktierte Kompromisse eher Protest und Elitenspaltung auslösen als dies Sanktionen oder Antikriegsproteste können.
Dem Kreml scheint diese Gefahr bewusst zu sein. Zwar sind staatlich organisierte, öffentliche Loyalitätsbekundungen in Form sogenannter "Flashmobs" allgegenwärtig. Dabei gruppieren sich zum Beispiel Schülerinnen und Schüler zu einem Z (dem Propagandasymbol des Krieges) und posten das Foto in sozialen Medien. Doch die Behörden vermeiden es dabei sorgfältig, unabhängige Strukturen entstehen zu lassen und drohen sogar denjenigen, die im Moment die staatliche Linie uneingeschränkt unterstützen. Anfang April dieses Jahres stürmte die Polizei eine rechtsradikale Buchhandlung in St. Petersburg auf der Suche nach "extremistischer" Literatur und beschlagnahmte unter anderem die Schriften des im Jahr 2020 verstorbenen nationalbolschewistischen Schriftstellers Eduard Limonow. Diese Aktion war möglicherweise kein Zufall, sendet sie doch das Signal, dass die Behörden bereit sind, auch gegen eine nationalistische Bewegung, die Züge von Eigenständigkeit aufweist, Repressionen anzuwenden.

Fazit

Es spricht zurzeit wenig dafür, dass dem Regime unmittelbare Gefahr durch abtrünnige Eliten droht. Proteste könnten solche Abspaltungen theoretisch provozieren oder befördern, müssten dafür aber groß und repräsentativ oder schlagkräftig und disruptiv sein. Derzeit zeichnet sich aber keine dieser Entwicklungen ab. Organisatoren sind größtenteils außer Landes, die Repressionen haben die persönlichen Risiken des Protests für die allermeisten in untragbare Höhen geschraubt; die Antikriegsbewegung ist fast vollständig anonymisiert und atomisiert. Auch soziale Proteste sind noch nicht vorherzusehen und könnten wahrscheinlich durch Zugeständnisse seitens der Politik zunächst aufgefangen werden, selbst wenn eine Wirtschaftskrise das Regime mittel- und langfristig stark unter Druck bringen könnte. Im Blick behalten sollte man jedoch die mögliche Gefahr durch den Geist, den das Regime selbst aus der Flasche ließ: Kriegsbegeisterte, die von Kompromissen enttäuscht sind und nicht davor zurückschrecken, die politische oder militärische Führung infrage zu stellen. Der Kreml wird allerdings nicht zögern, auch der Kriegs-Fraktion so zu begegnen wie jeder anderen Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation, wenn es der Machterhalt Putins erfordert: mit Repressionen.

Quellen / Literatur

  • Burkhardt, Fabian: The Fog of War and Power Dynamics in Russia’s Elite: Defections and Purges, or Simply Wishful Thinking? In: Russian Analytical Digest Nr. 281, 29.03.2022.

  • Guriev, Sergei, und Daniel Treisman:Spin Dictators: The Changing Face of Tyranny in the 21 st Century . Princeton: Princeton University Press, 2022.

  • Hale, Henry E.:Patronal Politics: Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective . Problems of International Politics. Cambridge: Cambridge University Press, 2014.

  • Rustamova, Farida: "Мы Теперь Будем Их Всех Е***ь". Что Происходит в Российских Элитах Через Месяц После Начала Войны. ["Jetzt werden wir sie alle f*cken". Die russische Elite einen Monat nach Kriegsbeginn.] Substack newsletter Faridaily, 31.03.2022, Externer Link: https://faridaily.substack.com/p/--3c3?s=r.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jan Matti Dollbaum ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Zentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Er forscht zu Protest, sozialen Bewegungen und Parteien im postsowjetischen Osteuropa. Zusammen mit Morvan Lallouet und Ben Noble hat er kürzlich ein Buch über den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj und seine politische Organisation veröffentlicht (auf Deutsch erschienen bei Hoffmann & Campe).