Zusammenfassung
Das "System Putin" hat sich zu einer Führerdiktatur entwickelt. Unter dieser politischen Herrschaft wirkt das Führerprinzip für den Präsidenten und gibt ihm oberste Befehlsgewalt auf allen politischen, rechtlichen und militärischen Gebieten ohne Kontrollinstanzen. In vielen ihrer Attribute scheinen die Führersysteme des zwanzigsten Jahrhunderts, die Diktaturen Hitlers, Francos, Mussolinis und Stalins, wieder auf. Wladimir Putin hat als Besonderheit seines Regimes die neu inszenierte "Symphonie" zwischen seinem Staat und der Russisch-Orthodoxen Kirche mit ihrer "imperialen Theologie" als politische Ressource vereinnahmt. Putins Führerdiktatur nähert sich mit umfassend werdender terroristischer Repression zunehmend einer totalitären Herrschaft an, deren Machtwahn ihr selbst zum Verhängnis werden kann.
Einleitung
Die Krise um die Ukraine, die sich bis zum Angriffskrieg Russlands entwickelte, hatte einen Regisseur: Wladimir Putin. Souverän, um seinen schon öffentlich – im Manifest über die "historische Einheit der Ukrainer und Russen" vom Sommer 2021 (Externer Link: http://www.kremlin.ru/events/president/news/66181) – erklärten Willen zur Vernichtung des ukrainischen Staates zu exekutieren; souveräner "Meister", um die Figuren seines Drehbuchs ihre Rollen als "Scharfmacher" (Dmitrij Medwedew), als Außenminister (Sergej Lawrow), der die Diplomatie gänzlich zur Farce machte, spielen zu lassen. Er muss es als seinen Triumph empfunden haben, der Welt zu zeigen, dass er sich weder durch Angebote, durch Warnungen oder die in Aussicht gestellten "Kosten" von seiner Aggression abhalten ließ. Es hat sogar den Anschein, als gehe es ihm weniger um die Anerkennung von Russlands Größe als vielmehr die seiner eigenen "Größe" als Führer. Durch welche Bedingungen und welche Qualitäten erlangte er diesen Rang?
Bereitschaft zum Risiko hatte Putin als seine Charaktereigenschaft in einem Selbstporträt ganz am Anfang seiner Präsidentenkariere herausgestellt. Das zeichnet die "großen Führer" des 20. Jahrhunderts aus, macht sie in entscheidenden Momenten aber zum "Spieler", der alles auf eine Karte setzt. Auch diese Rolle demonstriert Putin. Dabei verfolgt er seine Politik mit größter Zielstrebigkeit. Er hat seit mindestens einem Jahr systematisch die Diplomatie in den Beziehungen zur Ukraine, zur EU und schließlich zu den USA ad absurdum geführt und zerstört. Ein Vierteljahr vor dem militärischen Großangriff begann er, die Brücken hinter sich abzubrechen, indem er im Bewusstsein, die Ukraine als Geisel in seiner Faust zu haben, dem Westen Ultimaten stellte. "Größe" sollte sich darin zeigen, dass er "konsequent" handelt ohne Rücksicht auf Bedenken und Verluste.
Ist Putin hochintelligent oder wahnsinnig, fragt man sich verschiedentlich. Wahn im nicht-klinischen Sinne, Größenwahn muss man ihm auf jeden Fall zuschreiben. Ausschlaggebend ist, dass er mit einer radikalen Konsequenz, die jedem "gesunden Menschenverstand" widerspricht, eine Politik exekutiert, die nicht wahrscheinlich, nicht erwartbar war und ist. Unberechenbar zu sein ist sein Erfolgsrezept wie das seiner Vorgänger im Muster "großer Führer": Er realisiert seine Politik "unter völliger Nichtachtung aller berechenbaren und äußeren Konsequenzen", wie Hannah Arendt es über die totalitären Führer geschrieben hat. Das verbindet sich mit dem dreisten Lügen als System, das weiter über vereinzelte "fake news" hinausgeht. Er muss den Gesamtzusammenhang des Krieges gegen die Ukraine umlügen, um einen neuen Wirklichkeitszusammenhang zu bieten. So wird aus dem Eroberungskrieg gegen die Ukraine eine "Befreiungsmission", die Russland mit seiner "militärischen Spezialoperation" zum Zweck der "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" erfülle. Unberechenbarkeit, Lüge als System. Putin hat sich diese "Polittechnologien" der "großen Führer" des 20. Jahrhundert angeeignet.
Der unaufhaltsame Aufstieg des Wladimir Putin
Die brutale Bombardierung ukrainischer Städte erinnert uns daran, dass Putin – damals als Premierminister – erst durch Krieg, nämlich die brutale Führung des verbrecherischen zweiten Tschetschenien-Krieges ab August 1999, die unbarmherzige Bombardierung der Hauptstadt Grosnyj, "groß" wurde. Erst damit erlangte er die Statur des künftigen Präsidenten. Vorangegangen war allerdings, dass im Allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Niedergang Russlands Demokratie wie Liberalismus im Laufe der 1990er Jahre weitgehend ihre Anziehungskraft verloren hatten. Zugleich waren alle Versuche, die überkommenen sowjetischen KGB-Strukturen einer demokratischen Reform zu unterziehen, gescheitert. Deren Umbenennung und Aufgliederung – mit dem FSB als der wichtigsten Nachfolgeorganisation – verdeckte nur, dass sie jeglicher ziviler Kontrolle enthoben blieben, wenn sie auch zunächst erhebliche Personalreduzierungen erlitten. Letzteres vermehrte nur das Heer jener "Offiziere der aktiven Reserve", die in Politik, Wirtschaft und Verwaltung auf Führungsposten eine Rolle übernahmen und gleichzeitig ihren früheren Dienstherren verpflichtet blieben. Einer von ihnen war der ehemalige KGB-Oberst Wladimir Putin, der seinen Weg von der Position als Vize-Bürgermeister unter dem St. Petersburger Bürgermeister Anatolij Sobtschak (1992 – 1996) in die Präsidentenadministration (1996 – 1998) des ersten Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin nahm und bald Chef des Geheimdienstes FSB (1998 – 1999) wurde.
Putins Stunde der Machtübernahme – zunächst mit der Ernennung zum Premierminister (August 1999), dann im Amt des Präsidenten der Russländischen Föderation (seit Januar 2000) – schlug, als sich die politischen Eliten mit den tonangebenden Oligarchen einig wurden, ihre Macht im Staat und ihren Reichtum durch den Ruf nach den "Silowiki" (Repräsentanten der Militär- und Geheimdienste) zu retten. Nach dem finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch von 1998 hatte Präsident Boris Jelzin mit Ewgenij Primakow, Sergei Stepaschin und schließlich Wladimir Putin nur noch führende Leute aus den Geheimdiensten zu Premierministern ernannt.
Wladimir Putin wurde von seinen Förderern für manipulierbar gehalten und als Prätendent für die Präsidentschaft auserkoren. Solche Unterschätzung der Person durch die bisherigen Eliten ist mit den Aufstiegsbedingungen historischer Vorgänger als "großer Führer" wie Stalin und Hitler vergleichbar. Zudem glaubten viele, bei der von Putin verbreiteten Losung der "Diktatur des Gesetzes" ginge es "nur" um die Durchsetzung einer Politik von "Law and Order". Es ging Putin aber um Diktatur im vollen Sinne, nicht um "Gesetze", sondern um die absolute Vormacht des von ihm geführten und schließlich verkörperten Staates über das Individuum, die Menschenrechte und die Zivilgesellschaft.
Sehnsucht nach Ordnung und nach dem "Führer"
Diese Diktatur wurde in den 1990er Jahren lange in den Köpfen der Menschen vorbereitet. Es war der "Ruf nach dem Führer", der schon der Errichtung von Führer-Regimen des 20. Jahrhunderts regelmäßig vorausging, eine medial erzeugte gesellschaftliche Stimmung, die auch schon die Machtergreifung von Lenin, Stalin, Mussolini, Hitler oder auch Franco begünstigte. Seit dem Auflösungsprozess der Sowjetunion ist dieser Ruf nach dem Führer in Russland recht genau in empirischen Umfragen gemessen worden (siehe Grafik 1 auf S. 8). Bereits seit Mitte der 1990er Jahre wünschten sich mehr als 60 Prozent – und seit der Jahrtausendwende um die 70 Prozent – der Bevölkerung eine Führung mit "starker Hand".
Die Sehnsucht nach Ordnung – auch um den Preis von Demokratie und Menschenrechten – ist ein verbreitetes Phänomen der politischen Kulturen postsowjetischer Gesellschaften. Auf dieser Basis kann Putin als Führerfigur seit Jahrzehnten in der Bevölkerung mit Zustimmungswerten von mindestens 60 bis 80 Prozent der Befragten rechnen (s. Grafik 2 und Tabelle 1 auf S. 8–11). Andererseits herrscht ebenso lange bei der Frage, wessen Interessen er als Präsident vertrete, die Auffassung, dass es vor allem die Interessen der Militär- und Geheimdienste sowie der Oligarchen sind, die vom Präsidenten vertreten werden; die der Mittelklasse und der "einfachen Leute", der Arbeiter und Angestellten rangieren dagegen nach diesen Meinungsumfragen auf den hinteren Plätzen. Dies ist das Herrscherbild, das kontinuierlich Bestand hat (s. Grafik 3 und Tabelle 2 auf S. 12/13). Somit gärt in der Bevölkerung trotz der Popularität Putins die Überzeugung, von fremden Interessen beherrscht zu werden.
Das Paradox löst sich, wenn man fragt, welche Verdienste Putin am höchsten angerechnet werden: Fast durchgängig haben repräsentativ Befragte hierbei vor allem auf die "Herstellung von Ordnung" hingewiesen. Beobachter sprachen von einem unausgesprochenen "Gesellschaftsvertrag": Der Kreml sorgte für Stabilität, dafür mischte sich die Gesellschaft nicht in die Politik ein – ein Kompromiss also, mit dem man bei klarem Bewusstsein darüber, wessen Interessen Putin vertrat, diesem doch die größte Zustimmung als Präsident gab. Aber den Hauptantrieb bilden die Erfahrung von Chaos und Krise des Landes in den 1990er Jahren, die als Trauma immer neu aktiviert wird, die "charismatische Situation" (M. Rainer Lepsius). Diese ist der fruchtbare Boden, auf dem die Sehnsucht nach dem Führer und nach Ordnung erwuchs – ganz nach dem historischen Muster der Karrieren von Hitler, Franco, Mussolini, Lenin und Stalin.
Glaube an die Legitimität des "nationalen Führers"
Eine der wichtigsten sozio-kulturellen Voraussetzungen für die historische Ausbreitung des Führerkults und seiner Regime im 20. Jahrhundert ist die Revolutionierung der Massenkommunikation. Das heutige Putin-Regime kombiniert alle bewährten medialen Techniken. Für das postsowjetische Russland hat dabei das Fernsehen noch bis heute eine ausschlaggebende Bedeutung. Deswegen sorgte Präsident Putin gleich nach seinem Machtantritt im Jahr 2000 dafür, dass die öffentlichen TV-Kanäle unter staatliche Kontrolle gestellt wurden. Zentral für die Informationsbeeinflussung des Publikums wurde nun die Selbstdarstellung Putins als Herrscher in den weiten, golden glänzenden Räumen des Kreml-Palastes, umkränzt mit den hoheitlichen Emblemen und Ritualen des Zaren-Imperiums.
Im autoritären Regime Putins wird seit mehr als einem Jahrzehnt versucht, Legitimität mit Hilfe von demokratisch verbrämten Institutionen, Wahlmanipulation und verdecktem Zwang zu erreichen. Da diese Institutionen – von Wahlen bis zu Parlamenten und Regierung – sämtlich wenig eigene Legitimität in der Bevölkerung besitzen, ist der politische Prozess auf die gänzliche Personalisierung öffentlicher Angelegenheiten im Präsidenten ausgerichtet: Nur über "Zustimmungsraten", nicht die Präsidentenwahlen, ist die Unterstützung in der Bevölkerung für das Regime zu maximieren. Abgelesen und gewährleistet wird sie in den Monat für Monat fixierten empirischen Umfragewerte für den "nationalen Führer". Ein ganzes Heer von sogenannten Polit-Technologen arbeitet im Kreml oder in dessen Auftrag mit modernen sozialwissenschaftlichen Methoden, um die "Stimmung im Volk" zu manipulieren. Insofern hat Putins Führer-Regime des 21. Jahrhunderts die neuesten politischen Technologien für sich nutzbar gemacht, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Meinungsforschung zur "hegemonialen Diskursform der Öffentlichkeit" aufwerteten. Die mangelnde Legitimität der Institutionen verlangt umso mehr, dass die Zustimmungsraten für den Präsidenten auf überdimensionalem Niveau gehalten werden. Eben dies macht in autoritären Regimen, die sich auf "demokratische Legitimität" berufen, die Qualität des "Führers" aus. Der Ausschluss jeglicher politischer Alternative ist das Grundprinzip und die politische Methode auch des "Systems Putin". Es reagiert mit äußerster Härte, gewaltsamer Unterdrückung und Eliminierung, sobald sich eine solche Alternative – wie in den oppositionellen Straßen-Demonstrationen vom Winter 2011/2012 oder in der Person des angesehenen und erfahrenen Demokraten Boris Nemzow, der im Jahr 2015 in Kremlnähe ermordet wurde – auch nur am Horizont zeigt.
Autoritäre und totalitäre Führer leben von einem ständig propagierten konstitutiven Feindbild. Hiernach ist das Land von einer "Welt von Feinden" umringt. Diese Sicht, die stalinistische Tradition hat, verbreitet Putin bald nach den Anfangsjahren seiner Präsidentschaft immer schriller und in den krudesten Zusammenhängen. Besonders seitdem das "System Putin" im Winter 2011/12 durch landesweite Demonstrationen in die Defensive geriet, wurde das Konzept des Feindbildes aktualisiert: Zum einen ist es in der repressiven Gesetzgebung über die Registrierung und das Verbot "ausländischer Agenten" seit 2012 verkörpert, und zum anderen durch die propagandistische Befeuerung der Konfrontationspolitik mit dem Westen. Davon war Putins Präsidentenwahlkampf seit Anfang 2012 bestimmt, ebenso wie seine ersten programmatischen Ukase zur Außenpolitik. Binnen weniger Monate wurde diese Konfrontationspolitik in umfassender Weise mit dem Projekt ideologisiert, Russland eine einzigartige kulturelle Identität durch "konservative Werte" zuzuschreiben, polemisch abgesetzt gegen die nach einem älteren Stereotyp ausgemalte "Dekadenz", die der Westen repräsentiere.
Aber erst Monate später wirkte die Konfrontationspolitik zugunsten von Putins "Legitimitätshaushalt" schlagartig, als infolge der Majdan-Revolution in Kyjiw und der daraufhin anschwellenden Hetze aller russischen Staatsmedien, diese Kehrtwendung als bedrohliches Machwerk des Westens gegen Russland hingestellt wurde. Die Mentalität der "belagerten Festung" – aus der langen Periode der kommunistischen Herrschaft überliefert – stellt ein festes Massenvorurteil dar, das dieses Regime immer wieder propagandistisch auszubeuten versteht. Ebenso wurde mit der "Wiedergewinnung der Krim als historischem Bodens Russlands" offiziell jener "Irredentismus" vitalisiert, mit dem national-imperialistische Politikern seit der Auflösung der Sowjetunion die Zusammenführung der im "Nahen Ausland" befindlichen Russen und schließlich der postsowjetischen Staaten selbst in einem großen Imperium propagiert hatten. Wenn der Präsident am 25. April 2005 vor der Staatsduma formulierte, der Fall der Sowjetunion sei "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen, so war dies die deutliche Ankündigung des außenpolitischen Revisionismus, den er wenige Jahre darauf mit dem Einmarsch in Georgien 2008 und der Krim-Annexion 2014 umzusetzen begann.
Ein Führer mit "historischer Mission"?
Wieweit solche Ideologeme wie das der "konservativen" Identität Russland für sich genommen dauerhaft wirken, ist fraglich. Selbst das gegen den Westen gerichtete Feind-Stereotyp hat laut empirischen Umfragen (Lewada-Zentrum) seit 2019 bis Ende letzten Jahres keine Mehrheit mehr überzeugen können (siehe Grafik 4 und Tabelle 3 auf S. 13–15). Tiefer gehende Wirkung für die Bindung der Bevölkerung an den expansionistischen Staat Putins dürfte dagegen die religiös unterlegte Ideologie des neuen Imperialismus haben, wie sie von der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche vertreten wird: Kirill, Patriarch von Moskau und ganz Russland sowie andere russische Geistliche, propagieren einen Reichsgedanken, mit dem die Ukraine neben Belarus als Teil der von ihnen propagierten "Russischen Welt" (Russkij Mir) bestimmt werden. Wenn Kirill anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten 2012 Gott zur Quelle von dessen Macht erhob und Putin selbst sich zudem auf die gleich lautende Weltsicht des 2008 verstorbenen Alexandr Solshenizyn als ihren "Propheten" berufen kann, so verfügt dieser über eine ideale Symbiose einer "imperialen Theologie" mit der Heiligung seines Führerregimes. Allerdings ist die innere Bindung Putins an diese Ideen wie auch das slawophile Geschichtsbild nicht zu überschätzen. Für ihn scheinen sie eher taktisch eingesetzte Surrogate in einer sonst entleerten Welt nach der "geopolitischen Katastrophe" zu sein.
Zum Führer und zum Führerkult zählt, wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat, die "Historische Tat" des Führers als "Wendepunkte der Geschichte". Noch vor der Krim-Annexion hatte sich Putin von imperialistischen Nationalisten als Führer und künftiger "Sammler der russischen Erde" (Russland, Belarus und Ukraine) feiern lassen (Externer Link: https://zatulin.ru/chtoby-pravilno-zadat-vopros-nado-znat-bolshuyu-chast-otveta/). Aus Anlass der "Siegesfeier" auf der Krim wollte ihn der (kürzlich verstorbene) rechtsradikale und antisemitische Parlamentarier Wladimir Shirinowskij vorlaut zum "Imperator" ausrufen. Belarus ist seit mehr als einem Jahr definitiv in Putins Herrschaftsorbit. Unter dessen Oberhoheit flüchtete sich der Diktator Aljaksandr Lukaschenka, um die demütige Position des Vasallen einzunehmen und mit Beginn des Ukraine-Krieges dem Aggressor die Souveränität seines Landes (Neutralität und atomwaffenfreie Zone) als Tribut zu entrichten. Mit der Eroberung und Unterwerfung der Ukraine – wie terroristisch auch immer – will Putin endlich die "Historische Tat" vollbringen, derer jeder große Führer bedarf, und mit der er die imperiale Nation "erlöst": durch Rückführung der Ukraine in den Reichsverband zusammen mit Belarus, in welcher Form auch immer. Dass der Expansionsdrang des Imperiums an den Grenzen seiner einstigen "Größe" nicht Halt machen, sondern nach Hegemonie über den gesamten postsowjetischen Raum, Europa und Eurasien streben wird, stellte am 5. April der schon erwähnte Dmitrij Medwedew außer jeden Zweifel: Der Ukraine-Krieg solle vor allem "die Möglichkeit (schaffen), endlich ein offenes Eurasien aufzubauen – von Lissabon bis Wladiwostok" (Externer Link: https://t.me/medvedev_telegram/34). Unter der expansionistischen Ägide der heutigen "Geopolitik" Putins dürfte mit Letzterem kaum jene Fiktion einer Freihandelszone gemeint sein, die dieser 2010 in die Welt setzte.
Wladimir Putin – Diktator und Kriegsherr in der Hybris seiner Macht
Dass die Konturen von Putins Spitzenelite unscharf sind und sich nicht nach Verfassungsinstitutionen bemessen, gehört zur informellen Herrschaftsweise des personalisierten Regimes. An der "Krim"-Entscheidung des Jahres 2014 waren z. B. nur vier bis fünf Vertraute beteiligt, wie Putin ein Jahr nach dem Ereignis noch in der Euphorie des Eroberers verkündete. Bereits damals spielten wirtschaftliche Risikoabwägungen keine Rolle. Der Kreis um den Führer, bestehend aus wenigen Männern "mit Einfluss", ist schon seit Jahren auf ein paar Wenige zusammengeschmolzen, und darin haben die Repräsentanten der Sicherheitsstrukturen (Militär und Geheimdienst) schon länger das Übergewicht. Darin sind sich die bekannten russischen Politologen Nikolaj Petrow (Externer Link: https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2019/08/21/809260-transformatsiya-eliti), Kirill Rogow (Externer Link: https://liberal.ru/lm-ekspertiza/vremya-yanychar-izolyacziya-kak-strategiya) und Tatjana Stanowaja (Externer Link: https://www.institutmontaigne.org/node/8418) in ihren Eliten-Analysen weitgehend einig. Die Auswahl seiner "Vertrauten" ist jetzt auf ein solches Minimum reduziert, dass sie kaum mehr sichtbar sind. Als Entscheidungsträger für den Krieg gegen die Ukraine stehe er allein da, sagte Sabine Fischer, eine Russland-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, kürzlich (Externer Link: https://www.spiegel.de/ausland/podcast-wer-hat-noch-einfluss-auf-wladimir-putin-a-286b7806-7d86-4aa6-a15e-360dcb984c58). Was gilt schon jene Aufsehen erregende Sitzung des russischen Sicherheitsrates vom 21. Februar 2022: Hinter der Zustimmung dieses Gremiums zur Anerkennung der separatistischen "Volksrepubliken" von Luhansk und Donezk stand in Wirklichkeit der längst gefasste hoheitliche Beschluss zum umfassenden Krieg gegen die Ukraine. Das Eine war es, das Gremium kollektiv in das Verbrechen des Angriffskrieges einzubinden. Zum anderen demonstrierte Wladimir Putin vor aller Welt seine Oberhoheit als "Führer" gegenüber seinen verunsicherten, vor der Kamera gegängelten nächsten Spitzenleuten. Dass er dem kurz darauf seine eigene öffentliche Kriegserklärung nachschickte, war nicht nur Formsache. Nach machtvollkommener Willkür deutete er das Ziel der Aggression um: Nicht die NATO-Eindämmung, sondern die gewaltsame Unterwerfung der Ukraine und ein Regimewechsel in Kyjiw, getarnt mit den verlogenen Begriffen "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" sowie Verteidigung der Russen gegen einen herbeiphantasierten "Genozid" durch die Ukrainer ist das Ziel. Letzterer war erst kurz vor seinem Angriffsbefehl auf die öffentliche Agenda gesetzt worden. Es ist die Parole, unter der imperialistische Ideologen seit den neunziger Jahren zum "Schutz" der Russen im "Nahen Ausland" aufgerufen haben (siehe Grafiken 5a, 5b, 6a, 6b, 7a und 7b auf S. 16–18).
Putin mag hoffen, damit einen erneuten vertikalen Aufstieg seiner Führer-Popularität zu erringen, wie dies mit der sogenannten "Krim-Euphorie" zwischen 2014 und 2017 gelang. Eine solche Wiederholung dürfte kaum nachhaltig sein: In der Bevölkerungsstimmung ist bis Ende letzten Jahres keine dominierende Gegnerschaft gegen den Westen und keine Kriegsbereitschaft, sondern eher Kriegsangst gemessen worden. In welchem Maße die Popularität Putins zusammengeschmolzen war, lässt sich an den Antworten auf die Frage ablesen, ob man Wladimir Putin auch nach 2024 auf dem Posten des Präsidenten sehen möchte: Seit 2020 bis einschließlich September 2021 befürworten dies im Schnitt gerade noch 47 Prozent, während sich 42 Prozent dagegen aussprechen. Um seine Mehrheit steht es so schlecht aus wie ehemals 2012/2013 (siehe Grafik 8 auf S. 19) Die im Mai 2022 erneute gleiche Umfrage zeitigt allerdings das kriegsbedingte euphorische Ergebnis.
In den zurückliegenden Jahren wurde die russische Zivilgesellschaft durch das Regime mit Verfolgung, Verboten und Attentaten weitgehend zunichte gemacht: 74 Nichtregierungsorganisationen stehen derzeit auf der Liste der "ausländischen Agenten" (Externer Link: http://unro.minjust.ru/NKOForeignAgent.aspx). Von den über 200 NROs, die seit 2013 in das Verzeichnis der "ausländischen Agenten" aufgenommen worden waren, sind Dutzende bereits aufgelöst, der Druck auf die restlichen wird stetig größer. Öffentliche Demonstrationen gegen den Krieg werden generell verboten und ihre Teilnehmer zu Tausenden verhaftet. Wie schon bei den Nawalnyj-Demonstrationen des letzten Jahres wird auch in diesen Wochen deutlich, dass der Führer Russlands die jüngere Generation zum großen Teil bereits verloren hat. Die prominentesten Oppositionspolitiker wurden mit verbrecherischer Skrupellosigkeit verfolgt, ermordet wie Boris Nemzow 2015, oder wie Alexej Nawalnyj – eben noch einem Giftanschlag entkommen – 2021 ins Lager verbannt. Verfolgt werden regierungskritische Journalisten schon lange, besonders solche der Ende März 2022 geschlossenen Zeitung "Nowaja Gaseta". Die gegenwärtig gesteigerte Repressions-Maschinerie, die Schließung der letzten unabhängigen Medien, der Erlass immer neuer Gesetze, mit denen willkürlich oppositionelle oder auch nur kritische Meinungen und Handlungen gegenüber dem Staat und besonders der Armee strafrechtlich verfolgt werden, die immer strenger werdende Zensur – dies alles lässt das Land auf eine veritable Führer-Diktatur totalitärer Art zusteuern. Lehrer und Schüler sowie Eltern werden in gesonderten Kursen indoktriniert, um die lügnerische Sprache des Regimes zu übernehmen, in der sein Krieg gegen die Ukraine als "militärische Sonderoperation" zwecks "Entnazifizierung" zu verstehen ist.
Die früher benutzten Begriffe der Regimeklassifizierung "defekte Demokratie", "gelenkte Demokratie" oder "hybrides Regime" erscheinen längst veraltet. Der von vielen Intellektuellen bei Putins Machtübernahme befürchtete Übergang zum Autoritarismus begann bereits seit den ersten Jahren mit der Einrichtung des strikten Zentralismus ("Machtvertikale"), also der Abschaffung des Föderalismus in einem Prozess sukzessiver Entmachtung der föderalen Institutionen zugunsten der Präsidialadministration sowie der Personalisierung der politischen Macht auf Wladimir Putin. Die Unterwerfung der wichtigsten gesellschaftlichen Machtpotentiale erfolgte gleichzeitig unter dem Signum des "Kampfes gegen die Oligarchen" und der Unterstellung des öffentlichen Fernsehens unter die Staatskontrolle und bald auch der wesentlichen Wirtschaftskonzerne unter Staatskontrolle durch Delegierung der Repräsentanten der Sicherheitsdienste in ihre Leitungen, wodurch die Wirtschaftselite konsequent ausgetauscht wurde. Die ständige Manipulation von Wahlen und die Einschränkung der parlamentarischen Repräsentation auf sogenannte "System-Parteien" wurden bis etwa 2012 perfektioniert. Zu diesem Zeitpunkt erklärte Putin seine Loslösung von den postsowjetischen Versprechen einer Entwicklung zu Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft: "Wir haben nun die postsowjetische Periode abgeschlossen. Ein neues Entwicklungsstadium Russlands steht vor uns." (Externer Link: http://sputniknews.com/voiceofrussia/2012_04_14/71750194/?print=1). So bereiteten seit Beginn seiner dritten Präsidentschaft konsequente Maßnahmen auf mehreren Ebenen den Weg zur Errichtung der Führerdiktatur: die Vereinheitlichung der politischen Elite ("Nationalisierung der Eliten"), die Bildung der riesigen Prätorianergarde des Präsidenten (Nationalgarde) im Jahr 2016, die großdimensionale Militarisierung von Staat und Gesellschaft, die immer umfassender werdende Repressionspolitik gegen die Zivilgesellschaft, schließlich die zunehmende Beherrschung der sozialen Medien und die Zensur sowie die auf die fortgesetzte Präsidentschaft Putins zugeschnittenen Verfassungsänderungen. Es könnte sein, dass die historische Empirie dieses neuen Systems die politologischen Modelle des Totalitarismus (von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzeziński sowie anderen Autoren) neu herausfordert.
Ausblick
Wenn die freie Kommunikation einer Gesellschaft derart zerstört worden ist, dass die Menschen keine Möglichkeit mehr haben, sich zu verständigen, wenn der Terror zur Verhinderung jeglicher selbständiger sozialer Handlung schließlich allgemein wird, kann man von einer sich anbahnenden "totalitären Herrschaft" sprechen (Hannah Arendt). Die entscheidenden Schritte in diese Richtung werden jetzt gegangen. Mit Putins pogromartigen Aufrufen gegen "Nationalverräter", die "Fünfte Kolonne", hat er die Perspektive auf ein Mobilisierungsregime eröffnet, dessen Führer nun als Kriegsherr seine Legitimität in immer neuen Siegen suchen muss. Bar aller Korrektive scheint seine Hybris auch im Äußeren keine Grenzen mehr zu kennen. Seine Drohung mit dem Atomkrieg gegen jeden, der sich ihm in den Weg stellt und der Kriegsterror, mit dem er die ukrainische Bevölkerung überzieht, hat ihn aus dem menschlich-zivilisatorischen Zusammenhang geworfen. Die Brutalitäten und Gräuel gegen die Zivilbevölkerung werden unterdessen in offiziellen Medien als notwendige "Umerziehung" des ukrainischen Volkes und "unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem" legitimiert (Externer Link: https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html). "Die Einsätze der russischen Elite sind hoch. Für sie ist es ein existenzieller Krieg", erklärte vor einigen Wochen der langjährige Berater des Präsidenten und graue Eminenz unter den Außenpolitik-Experten des Landes Sergei Karaganow im Interview (Externer Link: https://www.newstatesman.com/world/europe/ukraine/2022/04/russia-cannot-afford-to-lose-so-we-need-a-kind-of-a-victory-sergey-karaganov-on-what-putin-wants). Existenzgefährdend wäre gewiss für Putin und seine Diktatur ein Scheitern in der Ukraine. Es wird sich zeigen, ob die selbst gewählte solitäre Position als Diktator, die Leere und der tausendfache Tod, die er um sich verbreitet, von dem Land mitgetragen wird, von dessen Eliten er weiter geduldet wird, denen er zumutet, den völligen Niedergang sowie weltweite Isolation und Ächtung mit ihm zu teilen.