Erzwungene Emigration
Hunderttausende Russ:innen, die ihr Land wegen des von Putin entfesselten Krieges gegen die Ukraine verlassen mussten, haben die Möglichkeit, einen wichtigen Beitrag zur künftigen Demokratisierung Russlands zu leisten. Doch zunächst müssen sie sich selbst an das Leben in liberalen Demokratien gewöhnen.
Die Welt hat mit Entsetzen verfolgt, wie sich der russische Krieg gegen die Ukraine entfesselte. Millionen von Menschen haben sich in den zahlreichen Hilfsprojekten engagiert, die in den letzten Monaten entstanden sind. Mehr als vier Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden gezwungen, aus der Ukraine zu fliehen.
Russlands eigene Zwangsmigration ist weniger sichtbar und schwieriger zu verstehen. Ihr Ausmaß ist geringer als das der Menschen, die die Ukraine verlassen. Nach Angaben von OK Russians, einer Wohltätigkeitsorganisation, die Russ:innen unterstützt, die in ihrer Heimat verfolgt werden, weil sie sich dem Krieg widersetzen, haben allein im vergangenen Monat seit Kriegsbeginn mehr als 300.000 Menschen Russland verlassen.
Laut einer von dem unabhängigen, sich auf soziale Themen spezialisierenden Nachrichtenportal Takie Dela in Auftrag gegebenen Studie haben in den letzten zwanzig Jahren vier bis fünf Millionen Menschen Russland verlassen, davon etwa zwei Millionen in den Jahren 2018 und 2019.
Neue Migrant:innen: Zwei Typen
Der Typus der Geflüchteten aus der Ukraine und Russland unterscheidet sich drastisch. Die Ukrainer:innen sind auf der Flucht vor Bomben- und Raketenangriffen. Einige mussten mit ansehen, wie ihre Häuser zerstört wurden. Viele verlassen Städte, in denen die gesamte Infrastruktur in Trümmern liegt. Viele mussten wochenlang in Luftschutzbunkern oder Kellern ausharren, um den Schrecken des Krieges so lange zu trotzen, um endlich ausreisen zu können. Viele haben ihre Liebsten zurückgelassen: Männer kämpfen, ältere Menschen haben sich entschieden, ihre Häuser nicht zu verlassen. Der russische Krieg hat bei vielen Ukrainer:innen körperliche Wunden und schmerzhafte psychische Traumata hinterlassen, deren Heilung Jahre andauern wird. Die große Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten träumt davon, nach dem Krieg zurückzukehren und ein Land wieder aufzubauen, das durch einen ungerechten und ungeheuerlichen Krieg zerstört wurde.
Die Gründe der Russ:innen für ihre Ausreise sind weniger dramatisch. Viele konnten nicht bleiben, weil ihnen eine strafrechtliche Verfolgung wegen der Teilnahme an Friedensprotesten drohte. Viele konnten wegen der Sanktionen des Westens und der russischen Zensurgesetzgebung ihre Unternehmen nicht weiterführen oder ihre Berufe nicht weiter ausüben; einige wurden als "ausländische Agenten" oder "Extremisten" gebrandmarkt. Die meisten derjenigen, die Russland verlassen, sind auf sich selbst angewiesen und mussten sicherstellen, dass sie über ausreichende Ersparnisse verfügen, um mindestens drei bis vier Monate Lebenshaltungskosten meistern zu können, was sich tatsächlich nur wenige Russ:innen leisten können. Viele russische Nichtregierungsorganisationen und Medien haben ihren Sitz in andere Länder verlegt, was bedeutet, dass einige der Ausgereisten dort ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Ersten Umfrageergebnissen zufolge kamen die meisten der Ausgereisten mit den Schwierigkeiten ganz gut klar, die durch die Finanzsanktionen gegen Russland und die von den russischen Behörden und Banken verhängten Devisenausfuhrbeschränkungen entstanden sind. Bis zu einem Drittel derjenigen, die im Februar und März 2022 ausgereist sind, arbeiten im IT-Bereich, viele von ihnen für internationale Kunden.
Die neuen Migrant:innen aus Russland sind nicht direkt von den Kampfhandlungen betroffen, aber sie verlassen das Land wegen des Krieges. Man kann mit Sicherheit sagen, dass diejenigen, die das Land verlassen haben, eine negative Einstellung zum Krieg und zur Diktatur Putins eint.
Im Gegensatz zu den Geflüchteten aus der Ukraine rechnen die meisten Russ:innen nicht mit einer schnellen Rückkehr in ihre Heimat. Diejenigen, die aus politischen Gründen ausgereist sind, werden wahrscheinlich nicht nach Russland zurückkehren, bevor die Diktatur gestürzt ist, die repressiven Gesetze der letzten Jahre abgeschafft sind und eine Demokratisierung des autoritären Regimes erfolgt ist.
Die im März in Kraft getretenen Gesetze ermöglichen es dem russischen Staat, diejenigen mit jahrelange Haftstrafen zu belegen, die die Wahrheit über den Krieg, über Putins Politik, über das Vorgehen der russischen Beamt:innen und der Armee aussprechen. Je weniger erfolgreich die russische Armee in der Ukraine ist, desto mehr werden Putins Geheimdienste und die Polizei ihre Aufmerksamkeit auf diejenigen richten, die sich Putins Krieg und seiner Diktatur widersetzen. In ihrer Heimat müssen einige der Emigrant:innen mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen und könnten leicht als "Verräter:innen", "Betrüger:innen" und – in Anlehnung an den stalinistischen Sprachgebrauch – als "Volksfeinde" abgestempelt werden.
Sobald ein Friedensabkommen vereinbart wird, könnten die Westmächte darüber nachdenken, die Aufhebung der Sanktionen von 2022 an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Die Aufhebung der Sanktionen könnte an die Freilassung politischer Gefangener, die Aufhebung repressiver Gesetze und die Wiederherstellung der Rede- und Meinungsfreiheit geknüpft werden. Solange Russland sich in diesen Bereichen nicht bewegt, werden die politischen Emigrant:innen nicht in ihre Heimat zurückkehren können.
Russlands gescheiterte Diaspora
Vor hundert Jahren verfrachtete Russlands neue bolschewistische Regierung die Denker:innen des Landes, die sich dem Kommunismus und dem revolutionären Terror widersetzten, auf Boote und verschiffte sie. Das ging als der "Philosophen-Dampfer" in die Geschichtsbücher ein. Die Revolution von 1917 führte dazu, dass viele talentierte Menschen das Land verließen, darunter der Maler Wasilij Kandinskij, der Sänger Fjodor Schaljapin, der Schriftsteller Wladimir Nabokow, der Komponist Sergej Rachmaninow, der Schachspieler Alexandr Aljochin und der Philosoph Nikolaj Berdjaew. Etwa 1,2 Millionen Menschen verließen damals die Sowjetunion, und viele von ihnen gehörten bald zum kulturellen Erbe der Welt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen etwa siebenmal so viele Sowjetbürger:innen das Land. Zwischen 1935 und 1958 wurden Fluchtversuche und Rückkehrverweigerung mit der Todesstrafe geahndet. Die Familienangehörigen von Geflüchteten wurden zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Tänzer Michail Baryschnikow und Rudolf Nurejew, der Musiker Mstislaw Rostropowitsch, der Schachspieler Wiktor Kortschnoj, die Dichter Iosif Brodskij und Naum Korshawin, die Schriftsteller Alexandr Solshenizyn, Wladimir Wojnowitsch, Wiktor Bukowskij, Andrej Sinjawskij und viele andere verließen das Land unter Leonid Breshnew, dem sowjetischen Führer, der zwischen 1964 und 1982 an der Macht war.
Die Veröffentlichung von Texten der Emigrant:innen war ein wichtiger Meilenstein in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Doch sowohl diejenigen, die unter Michail Gorbatschow nach Russland zurückkehrten, als auch diejenigen, die zurückgeblieben waren, waren nicht in der Lage gewesen, den Verlauf der gesellschaftlichen Transformation des Landes zu beeinflussen.
Keine der sowjetischen und unmittelbar postsowjetischen Emigrationswellen war in der Lage, eine fähige, durch gemeinsame Werte und Ziele geeinte Diaspora zu bilden. Es gelang ihnen nicht, ihren zurückgebliebenen Landsleuten ein kohärentes Reformprogramm und wirksame Hilfe anzubieten.
Was ist zu tun?
Russlands jüngste Auswanderungswelle hat eine Chance, es besser zu machen. Seit dem Sommer 2021 haben die russischen Behörden ihre Angriffe auf unabhängige Medien drastisch verschärft. Infolgedessen haben viele Medien, Bildungs- und Menschenrechtsprojekte ihren Sitz ins Ausland verlegt oder sind gerade dabei, dies zu tun. Wenn es all denen, die das Land verlassen haben, gelingt, ihre Bemühungen zu koordinieren, werden sie durchaus auf die in Russland Verbliebenen Einfluss nehmen können. Dies würde Putins Propagandamaschine außer Gefecht setzen und den Weg für die demokratische Transformation in Russland bereiten.
Das Problem ist, dass alle Emigrant:innen aus Russland auf die eine oder andere Weise durch das sowjetische und postsowjetische Erbe vergiftet sind. Je älter diese Emigrant:innen sind, desto mehr von diesem Gift tragen sie in sich. Zu diesem Erbe gehören:
Egozentrik und eine Abneigung gegen horizontale soziale Beziehungen;
ein geringes Maß an Vertrauen in Menschen, Altruismus und Empathie; eine geringe Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren oder in lokale Gemeinschaften zu investieren;
geringe Entwicklung einer politischen Kultur, einschließlich der Fähigkeit zu kritischem Denken und Medienkompetenz, sowie eine Abneigung gegen die Teilnahme an politischen Debatten (viele sind Verschwörungstheorien ausgesetzt);
das Vorherrschen von "Überlebenswerten" auf Kosten von Werten wie "Selbstverwirklichung" und "Zusammenarbeit" in der Terminologie des verstorbenen amerikanischen Sozialwissenschaftlers Ronald Inglehart.
Die Emigrant:innen aus Russland (und auch Belarus) haben keine Erfahrung mit dem Leben in einer liberalen Demokratie. Viele von ihnen wissen nicht, warum es notwendig ist, sich für Politik zu interessieren und am politischen und zivilen Leben teilzunehmen.
Selbst ein langes Leben in einer liberalen Demokratie führt nicht automatisch zu einer liberal-demokratischen Einstellung. Die hohe Zustimmung zu rechtsnationalen Parteien bei Emigrant:innen aus der UdSSR, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, ist ein Beleg dafür. Eine gewisse Missachtung der einheimischen Kultur durch einige der nach Georgien und Armenien geflohenen Russ:innen geht in dieselbe Richtung. Eine tief verwurzelte imperiale Arroganz lässt sich nicht so leicht aus der eigenen Denkweise verbannen. Viele können die Verantwortung für die Entstehung eines diktatorischen Regimes in Russland und den dadurch ausgelösten Krieg nicht übernehmen.
Die Änderung von Denkgewohnheiten erfordert viel Arbeit. Russischsprachige Bildungsprogramme, die sich an die neuen Migrant:innen richten, könnten diesbezüglich von großem Nutzen sein. Diese Programme könnten aus zwei Teilen bestehen. Der erste Teil würde sich auf nationale Besonderheiten konzentrieren, auf die Beherrschung der Kultur, Literatur, Geschichte, Traditionen und Bräuche des Gastlandes. Der zweite Teil wäre universeller und würde eine Einführung in politische Theorie, Philosophie und Sozialwissenschaften, staatsbürgerliche Bildung, kritisches Denken, Frauenrechte, Umwelt- und Medienkompetenz bieten. All dies könnte in Form von Schulungen und Seminaren, Debatten, gedruckten Handouts und Instagram-Stories geschehen, viele Medien und Formen kommen hier in Frage. Parallel dazu sollten Gemeinschaften entstehen, in denen die Menschen soziale Beziehungen aufbauen und sich gegenseitig unterstützen können.
Wenn es den neuen russischen Emigrant:innen gelingt, Projekte dieser Art zu organisieren, dann können wir einigermaßen optimistisch in die Zukunft Russlands blicken. Für die Russ:innen, auch für die gut gebildeten, ist es längst überfällig, die Fähigkeiten zum Leben in einer Demokratie und zur sozialen Solidarität zu kultivieren.
Stand: 11.04.2022