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Kommentar: Desinformation: ein hoch aktuelles Konzept aus dem letzten Jahrhundert Russland-Analysen Nr. 414

James Rodgers

/ 4 Minuten zu lesen

Russland kann den Konflikt an der ukrainischen Grenze nicht allein durch Militär entscheiden. Dass die Manipulation von Informationen eine zentrale Rolle spielt, zeigen historische Erfahrungen.

Live-Übertragung der jährlichen Pressekonferenz von Wladimir Putin im Studio von RT (© picture-alliance/dpa, TASS | Alexander Shcherbak)

"Desinformazija" – "Desinformation" auf Russisch – ist ein Wort, das aus dem 20. Jahrhundert stammt und das Kommunikationsfeld zwischen Moskauer Elite und dem Westen im 21. Jahrhundert treffend symbolisiert. Im Zuge der aktuellen Auseinandersetzung um die Ukraine – sowie der unterschiedlichen Darstellung dieser Krise in westlicher und russischer Presse und öffentlicher Meinung – ist dieses Feld zu einem virtuellen Schlachtfeld geworden, das die Verlagerung von Truppen und Panzern an die verschneite Grenze überschattet.

Die exakte Herkunft des Wortes liegt – genau wie der Ursprung effektiver Desinformation – im Dunkeln. Laut Oxford English Dictionary von 1949 findet es sich erstmals in gedruckter Form in einem sowjetischen Russischwörterbuch. Dieses Wörterbuch führt wiederum einen angeblichen französischen Ursprung des Wortes an, wobei sich das Wort im Französischen nicht vor 1954 finden lässt.

Welches Datum auch richtig ist – 1949 oder 1954 –, entscheidend ist die Ära. Im September 1949 verwendete der New York Times-Korrespondent Harrison Salisbury den Ausdruck "Kalter Krieg" in einem seiner Berichte. Dieser Begriff war damals so neu, dass er Anführungszeichen bekam. 1954 übereignete die sowjetische Führung die Krim von Russland an die Ukraine – ein Akt, der im Rahmen der damaligen internationalen Beziehungen viel weniger bedeutsam war, da sowohl Russland als auch die Ukraine zur Sowjetunion gehörten.

Es war auch die Zeit, in der die letzte Wärme der Kriegsallianz zwischen Moskau, London und Washington entschwand. Die anschließende Chruschtschow-Ära brachte verglichen mit dem, was vorher gewesen war, einige Verbesserungen – wichtigstes Beispiel: die Berichte von Auslandskorrespondenten wurden vor ihrer Versendung nicht mehr zensiert. Die folgenden Jahrzehnte bis fast zum Ende der Sowjetzeit waren für internationale Korrespondenten in Moskau wieder hart.

Ihre Aufgabe war es, die Geschichte einer Gesellschaft zu erzählen, die die Welt ganz anders betrachtete, als der Westen sie sah. Diese Gesellschaft hatte über drei Jahrzehnte hinweg einen Transformationsprozess durchlaufen, bei dem sie sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Dem Zusammenbruch des Sowjetsystems folgte eine Periode der Freundschaft und der Kooperation.

Diese warf jedoch auch eine Reihe offener und schwieriger Fragen auf. Einige Territorialstreitigkeiten gemahnten nach dem Zusammenbruch daran, dass der Entwurf des sowjetischen Staates eine Teilung nicht einfach machte. Die Krim war eine dieser schwierigen Fragen – 2014 entschied Moskau sich, sie durch Waffengewalt zu lösen, indem es die Halbinsel der Ukraine durch Annexion abnahm.

Heute befinden sich internationale Nachrichtenorganisationen im Zentrum der erneuerten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Anfang Februar 2022 folgte kurz auf den Entzug der RT (ehemals: Russia Today) Sendelizenz für Deutschland die Schließung des Deutsche Welle-Büros in Moskau.

Wie bereits bei früheren Schwierigkeiten von RT UK mit der britischen Regulierungsbehörde Ofcom (2019 wurde RT wegen "fehlender Objektivität" in der Berichterstattung ein Bußgeld von umgerechnet 236.000 Euro auferlegt), reagierten die Regulierungsbehörden auf Verstöße gegen ihre Regeln. Ihre Schritte wurden in Moskau in der Folge unweigerlich als politisch motiviert angesehen.

Die Antwort der russischen Regierung zeigt, wie zentral für sie die Bedeutung der Medien als Werkzeug in den internationalen Beziehungen ist. Die frühe postsowjetische Phase war von einer bis dahin nicht gekannten Freiheit der Presse in Russland geprägt, für russische wie auch internationale Journalisten. Dieser Zustand hielt nicht an. Was die internationalen Journalisten betrifft, so führten negative Berichte über die Militärangriffe der russischen Armee Mitte der 1990er Jahre in Tschetschenien zu einer stärkeren Kontrolle der Berichterstatter, als der Konflikt Ende der 1990er Jahre erneut ausbrach. Seither scheinen die russischen Behörden aus ihren Fehlern gelernt zu haben – und versuchen, diese zu korrigieren. 2006 stellten sie westliche PR-Berater ein, um eine ihnen stärker wohlgesonnene Berichterstattung zu erreichen. Inzwischen versuchen sie über den Einsatz von Social Media und natürlich RT, selbst Narrative zu formen.

Denn in unserem Zeitalter der Desinformation – das entsprechenden vergangenen Zeitaltern zwar ähnelt, die Masse an Material, die dem heutigen Publikum zur Verfügung steht, ist jedoch bei weitem größer als früher – ist Information ein unverzichtbarer Teil von internationaler Diplomatie und internationalen Konflikten. "Ich denke, dieser Aspekt ist in unserem Jahrhundert und in einem Konflikt, in dem eine riesige Macht einem kleinen Staat gegenübersteht, fast so wichtig wie die militärische Auseinandersetzung", sagte Shota Utiaschwili, ein Sprecher der georgischen Regierung, in einem Beitrag (Externer Link: https://www.bbc.co.uk/programmes/p02sbq12), den ich für BBC World Service über den PR-Kampf gemacht habe, der den russischen Krieg gegen Georgien 2008 begleitete.

Diese Bedeutung zeigt sich auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Ukraine sehr deutlich. Wie auch immer sie endet – Politiker, Journalisten und das rezipierende Publikum haben gleichermaßen Berge unzuverlässiger Inhalte zu bewältigen, bevor sie sich ein annähernd wahres Bild von den Geschehnissen machen können.

Stand: 14. Februar 2022

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

Quellen / Literatur

Lesetipps

James Rodgers (2020): Assignment Moscow: Reporting on Russia from Lenin to Putin, Bloomsbury Publishing.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Associate Professor im Studiengang Internationaler Journalismus an der Londoner City-Universität. Er ist Autor von vier Büchern über internationale Beziehungen, zuletzt erschien 2020 "Assignment Moscow: Reporting on Russia from Lenin to Putin" bei Bloomsbury Academic. James war BBC-Korrespondent in Moskau.