Russlands fortgesetzter militärischer Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine zeigt deutlich, dass jetzt mehr auf dem Spiel steht als je zuvor seit 2014. Haben wir angesichts der Ereignisse der letzten Monate etwas Neues über die russische Außenpolitik erfahren? Die Entscheidungen in der russischen Außenpolitik erfolgen nach wie vor in einer Black Box. Wir wissen immer noch nicht genau, welche Elitengruppen hinter bestimmten Entscheidungen stehen. Also können die Expert:innen nur informierte Vermutungen anstellen. Zwar haben wir meiner Ansicht nach nichts grundsätzlich Neues erfahren, doch haben die Entwicklungen der letzten Monate uns erlaubt, einige unserer Wahrnehmungen zu schärfen und womöglich bestimmte Vermutungen zu bestätigen.
Eine der Schlussfolgerungen, die in den letzten Jahren besonders in westlichen Expert:innenkreisen am stärksten verbreitet waren, ging dahin, dass die russische Außenpolitik ein innenpolitisches Instrument darstellt, und zwar ein in dieser Hinsicht höchst erfolgreiches. Anders gesagt: Lauttönende außenpolitische Erklärungen und ein markantes Vorgehen in der Außenpolitik sollen die Popularität des amtierenden Präsidenten aufrechterhalten. Letztere ist die wichtigste Säule für die Stabilität des politischen Regimes in Russland, und damit eine Garantie für das politische Überleben des amtierenden Präsidenten. Somit wäre nicht der Westen Adressat des gegenwärtigen großen Aufruhrs, sondern vielmehr das innerrussische Publikum. Diese Interpretation ist in der Tat ein recht überzeugendes Argument.
Allerdings ist in Russland das Bedürfnis nach einem "kleinen siegreichen Krieg" offensichtlich zurückgegangen. Jüngste Umfragen des Lewada-Zentrums zeigen zwar, dass eine Mehrheit der Russ:innen den Westen für die derzeitige Krise verantwortlich machen und die politische Führung des Landes fast vollkommen von einer Verantwortung hierfür freisprechen. Gleichzeitig erfolgt aber keine Mobilisierung der öffentlichen Meinung um die politische Führungsfigur Russlands; die Umfragewerte des Präsidenten und der Regierung sind in den letzten Monaten nicht gestiegen. Es ist kaum vorstellbar, dass die russische Führung dies nicht sieht und nicht versteht. Also verliert das Argument, Außenpolitik sei verlängerte Innenpolitik, seine Stichhaltigkeit. Meiner Ansicht nach ist die russische Außenpolitik mittlerweile in der Tat von der Innenpolitik losgelöst.
Eine weitere Schlussfolgerung, die viele Expert:innen angesichts des außenpolitischen Vorgehens Russlands in der Vergangenheit gezogen haben, geht dahin, dass Präsident Putin sich seinen Bewegungsfreiraum bewahren will: Er stütze sich in seinem außenpolitischen Vorgehen darauf, nicht berechenbar zu sein. Falls nicht der Aufbau einer stabilen vertrauensvollen Beziehung zum Westen das Ziel sein sollte, bietet ein unberechenbares Verhalten in der Tat einige Vorteile. Diese wären allerdings nicht strategischer, sondern taktischer Natur, könnten also nicht langfristig genutzt werden. Seit 2014 schätzen die westlichen Staaten Russland ohnehin nicht mehr als berechenbar ein. In ihren Kalkulationen ist diese Unberechenbarkeit Russlands zum Teil jetzt schon ein Faktor. Die Krise um die Ukraine 2014 wird oft als "Game Changer" in Russlands Beziehungen zum Westen bezeichnet. Sie war aber auch eine wichtige Wegscheide, nämlich ein Moment, in dem sich die Politik des Westens gegenüber Russland radikal änderte. Neue Institutionen – die Sanktionsregime – sind entstanden, und Russlands Unberechenbarkeit ist zu einer unabdingbaren Prämisse geworden, die die westliche Russlandexpertise prägt.
Und letztlich macht die aktuelle Krise deutlich, welche Bedeutung Russland den verschiedenen Dimensionen seiner Außenpolitik tatsächlich (und nicht nur rhetorisch) beimisst. In offiziellen Verlautbarungen erklärt die russische Führung, dass der postsowjetische Raum in der russischen Außenpolitik unbedingte Priorität genießt. Die gegenwärtige Krise zeigt allerdings, dass das keineswegs der Fall ist. Denn in Wirklichkeit sendet Präsident Putin durch den militärischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze dem Westen das Signal, dass er das Schicksal der Ukraine direkt zwischen Washington und Moskau verhandelt sehen will. Es geht um ein "Jalta 2.0".
Die jüngste Eskalation ist in dieser Hinsicht Teil von Russlands Großmachtdenken, das auf der Vorstellung beruht, dass die großen Mächte zusammenkommen, um über das Schicksal der kleineren Nationen in Europa und anderswo zu bestimmen. Diese Großmachtagenda Russlands ist aber nicht mit seiner regionalen Agenda in Einklang zu bringen, nämlich mit dem Ziel, die Rolle einer regionalen Führungsmacht für seine postsowjetischen Nachbarn zu spielen. Versuche, ein Bild von Russland als "Großmacht" aufzubauen, führen unweigerlich zu einer Reduzierung seines tatsächlichen Einflusses im postsowjetischen Raum. Je stärker Russland als "Großmacht" agiert, umso weniger glaubwürdig sind Putins Versprechen, die nationale Souveränität der ehemaligen Sowjetrepubliken zu respektieren. Mit anderen Worten: Putins globale Ambitionen stehen einer Integration des postsowjetischen Raumes prinzipiell entgegen und schränken deren Reichweite beträchtlich ein. Einfach gesagt: Wenn Russland seine Großmachtagenda bewusst vorantreibt, gibt es seine Ansprüche auf, den postsowjetischen Raum zu dominieren und zu kontrollieren, da sich diese zwei Agenden unmöglich auf eine stimmige Weise miteinander vereinbaren lassen.
Die russische Außenpolitik ist in ihrem Innern inkonsistent, sei es in ihrer innenpolitischen Stoßrichtung, sei es in Bezug auf die Nachbarstaaten oder das Verhältnis zum Westen. Die offene Frage ist hier: Wird sich eine solche Außenpolitik für Russland auszahlen? Angesichts der Beobachtungen, die wir in den letzten Monaten haben machen können, erscheint Russlands Außenpolitik kaum zielführend, weder für seine angestrebte Rolle als Großmacht, noch dafür, als Führungsmacht im postsowjetischen Raum zu agieren.
Stand: 14. Februar 2022
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder