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Kommentar: Der Fall Memorial und die Instrumente des Europarats | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Der Fall Memorial und die Instrumente des Europarats

Caroline von Gall Caroline von Gall (Universität zu Köln)

/ 6 Minuten zu lesen

Der Fall Memorial zeigt, dass der Europarat der Zerstörung des russischen NGO-Sektors in den letzten Jahren kaum etwas entgegensetzen konnte. Es bedarf u.a. schneller Verfahren und des politischen Drucks gegenüber Russland zur Durchsetzung der EMRK durch die Mitgliedstaaten.

Foto des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. (© picture-alliance, U. Grabowsky)

Der Fall Memorial zeigt, dass der Europarat der Zerstörung des Russischen NGO-Sektors in den letzten Jahren kaum etwas entgegensetzen konnte. Auf ein Urteil des EGMR zum Gesetz über "ausländische Agenten" wird schon seit bald neun Jahren gewartet. Wenn das Urteil erst kommt, nachdem in Russland der NGO-Sektor bereits weitgehend zerstört ist, wird das im Kreml als Zeichen der Schwäche des Europarats interpretiert werden.

Das Vorgehen der staatlichen Behörden gegenüber der NGO "Memorial" wirft nicht nur ein deutliches Licht auf das russische politische Regime, sondern auch auf den Europarat und seine Aufgabe, dem Autoritarismus in Europa etwas entgegenzusetzen. Streng genommen können Mitgliedsstaaten vom Europarat ausgeschlossen werden, die seine Ziele, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nicht teilen. Das ganze System beruht darauf, dass die Staaten die Normen freiwillig befolgen, Instrumente zur Durchsetzung gibt es kaum. Die massiven Repressionen gegen NGOs und Andersdenkende, wie zuletzt die von der Staatsanwaltschaft angestrebte Liquidation von Memorial, die Verfassungsänderungen, die Wladimir Putin nahezu unbeschränkt regieren lassen, aber auch bereits die völkerrechtswidrige Annexion der Krim zeigen, dass die russische Politik tatsächlich eine Bedrohung für die Ziele des Europarats darstellt. Allerdings besteht ein gewaltiger politischer Spielraum im Hinblick darauf, einen Mitgliedstaat bei Vertragsverletzungen auszuschließen oder zu sanktionieren. Die deutsche Regierung hatte sich im Sommer 2019 vor allem deshalb für den Erhalt der russischen Mitgliedsrechte ausgesprochen, um russischen Bürger:innen die Möglichkeit zu sichern, bei Menschenrechtsverstößen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erheben zu können.

Auch im Fall Memorial bliebe nach der Liquidation und möglichen weiteren individuellen Strafen deshalb heute der Gang nach Straßburg, wenn – wie zu erwarten – vor russischen Gerichten kein Recht gesprochen wird. Dies kann positiv bewertet werden. Der EGMR wird dann unzweifelhaft eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) feststellen. So muss das Gesetz, mit dem in die Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK eingegriffen wird, hinreichend bestimmt, d. h. in der Anwendung klar und vorhersehbar sein. Bereits in ihrem Gutachten vom 27. Juni 2014 sowie erneut im Gutachten vom 6. Juli 2021 hatte die Venedig-Kommission des Europarats festgestellt, dass dies für das hier einschlägige sog. Gesetz über den ausländischen Agenten vom 13. Juli 2012, auf dessen Grundlage die Angriffe auf russische NGOs erfolgen, nicht der Fall ist. Die gesetzlich geschaffene Pflicht von Vereinigungen, sich bei "politischen Tätigkeiten", die aus dem Ausland finanziert werden, als "ausländischer Agent" zu bezeichnen, verletzt die Vereinigungsfreiheit. Insbesondere der Terminus "politische Tätigkeit" birgt die Gefahr der willkürlichen Anwendung. Außerdem hat der Begriff "ausländischer Agent" stigmatisierende Wirkung. Der legitime Zweck, Transparenz über ausländische Finanzierungen zu erzielen, dürfe nicht dazu missbraucht werden, das Vereinsleben insgesamt zu zerstören, so die Venedig-Kommission. Letztlich ist der sog. "chilling effect" einer Maßnahme zu berücksichtigen. Danach wiegt ein Eingriff besonders schwer, wenn er geeignet ist, andere Menschen von einem gewünschten zivilgesellschaftlichen Verhalten abzubringen. So war von Anfang an deutlich, dass das Gesetz geeignet war, die russischen NGOs stark unter Druck zu setzen. In der Praxis wurde das Gesetz schnell nicht nur als stille Drohung, sondern aktiv als Grundlage für Repressalien genutzt.

Wenn ein späteres Urteil des EGMR für die Betroffenen rückwirkend individuelle Genugtuung bringen mag, so zeigt gerade der Fall Memorial, dass der Europarat der Zerstörung des russischen NGO-Sektors in den letzten Jahren nichts entgegensetzen konnte. Denn die Moskauer Dachorganisation Memorial International hatte bereits vor bald neun Jahren, am 6. Februar 2013, Individualbeschwerde gegen erste Maßnahmen auf der Grundlage des "Agentengesetzes" vor dem EGMR erhoben (Beschwerde "Ecodefence gegen Russland und 48 weitere", Az. 9988/13). Doch ein Urteil ist trotz der eindeutigen starken strukturellen Probleme des Gesetzes bis heute nicht gefallen. Stattdessen verschärfte Russland die Gesetzgebung gegenüber NGOs stetig weiter. Daraufhin wurden im Jahr 2017 erneut Beschwerden von russischen NGOS gegen das Agentengesetz vorgebracht (Beschwerde "Levada centre gegen Russland und 15 weitere", Az. 16094/17). Und auch hier stehen die Entscheidungen noch aus. Dies kann man damit erklären, dass dem EGMR Kapazitäten fehlen. Am 31.10.2021 waren 16.000 Beschwerden aus Russland anhängig. Auch mag es in bestimmten Fällen sinnvoll sein, ein Verfahren mit inhaltlich ähnlichen, später eingereichten Beschwerden zeitlich parallel zu entscheiden, wie dies jetzt offensichtlich in den Verfahren "Ecodefence und andere" und "Levada centre und andere" geschieht. Angesichts der Bedeutung der Thematik und des starken "chilling effect" des Agentengesetzes und seiner Anwendung hätte hier aber ein Weg gefunden werden müssen, die Verfahren zu priorisieren und jedenfalls die ersten Beschwerden bereits zu entscheiden. So ist die Verfahrensdauer der ersten Beschwerden auch für den EGMR ungewöhnlich lang und es wirkt, als scheue der EGMR den Konflikt mit Russland.

Wenn die Urteile nach neun Jahren dann aber irgendwann einmal gesprochen werden, sind sie nicht nur Symbol für späte Gerechtigkeit. Die Feststellung des Rechtsbruchs nach Jahren der Repression und einer weitgehenden Zerstörung der russischen NGOs ohne Aussicht darauf, das Urteil durchzusetzen, wird dann auch zu einer Machtdemonstration des Kremls. Wladimir Putin kann mit dem Urteil zeigen, dass das Völkerrecht in der Praxis nicht vor tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen schützen kann. Er demonstriert damit nicht nur die Schwäche derjenigen, die seine Repressalien treffen, sondern auch des Europarats, der vor derartigen Repressionen schützen soll, dies aber in Russland nicht wirksam kann. Im Zusammenhang mit der russischen Propaganda von der antirussischen Haltung des EGMR, Doppelstandards und der fehlenden Moral der westlichen liberalen Gesellschaft schwächt das den Europarat. Zynisch wirkt auch der Antrag der russischen Generalstaatsanwaltschaft auf Liquidation von Memorial International. Danach fordere die in Art. 10 EMRK garantierte Informationsfreiheit die Liquidation, wenn Memorial nicht darüber informiere, "ausländischer Agent" zu sein. Tatsächlich schützt die EMRK aber gerade davor, sich "ausländischer Agent" nennen zu müssen. Im Sinne von Ivan Krastev und Stephen Holmes ist ein derartiges Verhalten nur als "aggressive Parodie" des Völkerrechts zu bezeichnen (vgl. "Das Licht, das erlosch", Berlin 2019.)

Wenn die Mitgliedstaaten des Europarats den russischen Bürger:innen die Klagemöglichkeit erhalten wollen, dann müssen sie die Beschwerde so effektiv wie möglich gestalten. Es bedarf u. a. schneller Verfahren und des politischen Drucks gegenüber Russland zur Durchsetzung der EMRK durch die Mitgliedstaaten. Hier hätten auch die Parlamentarische Versammlung und das Ministerkomitee stärker genutzt werden können. Wenn aber mit Kritik gespart worden wäre, um das Ausscheiden Russlands aus dem Europarat zu verhindern, um den Bürger:innen die Klagemöglichkeit zu erhalten, dann wäre jedenfalls im Fall Memorial für die Menschenrechte nicht viel gewonnen. Der Fall sollte daher auch dazu genutzt werden, eine Neubewertung der russischen Europaratsmitgliedschaft vorzunehmen. Für den russischen NGO-Sektor käme das allerdings zu spät.

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Fussnoten

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Prof. Dr. Caroline von Gall ist Rechtswissenschaftlerin. Sie habilitierte sich im Januar 2021 an der Universität zu Köln zum europäischen Grundrechtsschutz. Außerdem forscht sie zum Verfassungs- und Völkerrecht der Staaten Osteuropas.