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Analyse: Der gleiche Eintopf, nur aufgewärmt: Die Dumawahlen 2021 und das zunehmend hegemonial-autoritäre Regime in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Der gleiche Eintopf, nur aufgewärmt: Die Dumawahlen 2021 und das zunehmend hegemonial-autoritäre Regime in Russland

Tatiana Tkacheva St. Petersburg / Universität Helsinki) Tatiana Tkacheva (Higher School of Economics

/ 9 Minuten zu lesen

Es ist erwiesen, dass die russische Regierung demokratische Wahlen manipuliert - doch das Ausmaß; der autoritären Einflussnahme hat in den letzten Jahren ein neues Niveau erreicht.

Journalisten warten darauf, den Gouverneur von St. Petersburg, Alexander Beglow, zu filmen, während er seinen Stimmzettel in einer Wahlkabine ausfüllt. (© picture-alliance/AP, Dmitri Lovetsky)

Zusammenfassung

Die Parlamentswahlen 2021 in Russland haben gezeigt, dass das Menü autoritärer Wahlmanipulationen zwar das alte bleibt, dass diese Manipulationen und die Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Regimes aber ein beispielloses Niveau erreicht haben. Indem das Regime einige Korrekturen an diesem Instrumentarium vornimmt, bewegt es sich noch schneller in Richtung eines hegemonialen Autoritarismus.

Wahlen zur Staatsduma 2021: Der Kontext

Am 20. September 2021 hat die russische Zentrale Wahlkommission endlich die Ergebnisse der Wahl zur Staatsduma der 8. Legislaturperiode zusammengefasst. Das überraschendste und auf den ersten Blick ermutigende Ergebnis war die veränderte Anzahl der Parteien, die in das russische Parlament einziehen. Erstmals seit 2003 hat sie sich von vier auf fünf Parteien erhöht. Dies bedeutet allerdings keine Veränderung am politischen Status quo. Einiges Russland , die "Partei der Macht", errang 324 der 450 Mandate im Parlament und sicherte sich dort für fünf weitere Jahre eine verfassungsändernde Mehrheit.

Angesichts des gegenwärtigen autoritären Kontexts in Russland ist dieses Ergebnis jedoch absehbar gewesen. Angesichts der abnehmenden realen Unterstützung für die Partei der Macht war allerdings zumindest ein geringeres Ergebnis für Einiges Russland erwartet worden. Selbst die kremlfreundliche Stiftung Öffentliche Meinung (FOM) erklärte im August 2021, dass der Anteil derjenigen, die Einiges Russland ihre Stimme geben wollen, bei nur 30 Prozent liegt. Vor den Wahlen von 2016 hatte dieser Wert noch 45 Prozent betragen. Wie war es also möglich, dass eine unpopuläre Partei wie Einiges Russland nahezu auf dem gleichen Niveau wieder eine überwältigende Mehrheit erringt?

Zum Teil wurde dies durch die Gestaltung der Wahlen erreicht. Die jetzigen Dumawahlen wurden – ganz wie die vorherigen Wahlen 2016 – nach einem gemischten Wahlsystem durchgeführt: Die Hälfte der Parlamentsmandate wird nach dem Stimmenanteil zugeteilt, den die Parteilisten erringen, die andere Hälfte der Mandate wird von den Kandidaten eingenommen, die in den Direktwahlkreisen gesiegt haben. 2016 wurden die Gewinne von Einiges Russland dadurch sichergestellt, dass sich die Wählerstimmen auch auf kleinere Parteien verteilten, die die Fünf-Prozenthürde nicht überwinden konnten. Durch den Sieg von Einiges Russland in knapp über 90 Prozent der Direktwahlkreise (was keine Schwierigkeit darstellte, da die Kandidierenden für einen Sieg lediglich eine einfache Mehrheit erringen müssen), hat die Partei der Macht ihre Mehrheit auf 76,2 Prozent erhöhen können (die Verfassungsmehrheit liegt bei zwei Drittel der Sitze). Offensichtlich gab es keinen Anlass, die Regeln zu ändern, durch die Einiges Russland derart außerordentliche Ergebnisse erringt.

Allerdings erforderte die abnehmende Popularität von Einiges Russland einige zusätzliche Anstrengungen. Die meisten Strategien, die der Kreml einsetzt, stehen weitgehend im Einklang mit der wohlbekannten allgemeinen Logik des elektoralen Autoritarismus. Dabei haben diese Wahlen leichte Modifizierungen erkennen lassen, die auf eine weitere Verstärkung autokratischer Tendenzen hindeuten.

Wozu Wahlen in Autokratien und in Russland?

Zunächst ist der politische Wert von Wahlen in autoritären Systemen ambivalent. Einerseits wird argumentiert, dass Wahlen selbst unter den Bedingungen eines autoritären Systems zum Entstehen einer aktiven Zivilgesellschaft beitragen und neue Politiker:innen sowie Wähler:innen ermutigen und damit auch eine Demokratisierung fördern können. Andererseits legt eine Vielzahl empirischer Belege nahe, dass dies längst keine universelle Gültigkeit hat. Im Gegenteil: In Autokratien helfen Wahlen eher dem Autokraten, sein wichtigstes Ziel zu erreichen, nämlich langfristig das Überleben des Regimes zu sichern.

Die Art und Weise, in der Wahlen dabei helfen Autokratien aufrechtzuerhalten, sind unterschiedlich und können in jedem Land durch kontextspezifische Variationen ergänzt werden. Allgemein erfüllen Wahlen mit mehreren Parteien in Autokratien drei Hauptfunktionen: Erstens tragen sie dazu bei, die Eliten und andere gesellschaftliche Gruppen zu kontrollieren und eine potenzielle Bedrohung des Status Quo zu verringern. Um die nötigen Wahlergebnisse zu erzielen, sind in Autokratien wie Russland individuelle Beiträge durch Anstrengungen und Ressourcen der Eliten zur Abwendung der subversiven Folgen von Wahlen notwendig, sei es durch Stimmenkauf oder Nötigung. Daher signalisieren geringe Umfragewerte (wie auch eine niedrige Wahlbeteiligung) einem Autokraten, ob seine Akteure inkompetent, illoyal und/oder unpopulär sind. Das ist ein Mittel, die Zusammensetzung der Eliten zu steuern.

Zweitens können Wahlen dazu beitragen, dass eine Opposition innerhalb der Eliten gespalten und entmutigt wird. Da die Wahlen in einem autoritären System kontrolliert werden, signalisieren die überwältigenden Siege des Machthabers den politischen Eliten, dass jeder Widerstand sinnlos ist, und dass von außerhalb des Regimes kein Zugriff auf Ressourcen möglich ist. Damit werden einer internen Opposition die potenziellen Konsequenzen aufgezeigt. Selbst dann, wenn innerhalb der herrschenden Koalition eine Opposition entstehen sollte, würden autoritäre Wahlen die Hochburgen der Opposition offenlegen und die von dort ausgehenden Gefahren mildern.

Drittens ermöglichen Wahlen in einem autoritären System eine Kooptierung potenzieller Rivalen. Selbst wenn außerhalb des Regimes eine Opposition aufkommen würde, könnte der Diktator dieser eine Beteiligung an Wahlen erlauben. Das würde Möglichkeiten eröffnen, in politische Ämter vorzurücken und würde den Weg zu Einnahmequellen öffnen sowie Gelegenheiten für eine begrenzte Teilhabe an Entscheidungen schaffen. Somit bieten Wahlen in autoritären Systemen gemischte Anreize für Parteien, die zwar zum herrschenden Regime in Opposition stehen, jedoch auch dessen Anreize nutzen und ihre politische Agenda vorantreiben wollen.

Die Wahlen zur russischen Staatsduma folgen exakt der Logik, die einer Aufrechterhaltung des Regimes dienen soll. Bei den Wahlen war eine massenhafte Mobilisierung der im staatlichen Sektor angestellten Wählerschaft zu beobachten (es gab lange Schlangen vor den Wahllokalen). Darüber hinaus erfolgte massive Wahlfälschung durch Mitglieder der lokalen Wahlkommissionen, was auf lokaler Ebene die Loyalität und Mobilisierungsfähigkeit von Akteuren des Regimes demonstriert. Die drastische "Säuberung" der politischen Landschaft, bei der im Vorfeld der Wahlen Nawalnyj-nahe Organisationen als extremistisch verboten und zahlreiche Strafverfahren gegen Aktivist:innen und starke Kandidierende der außersystemischen Opposition eingeleitet wurden und es zu anderen massiven Repressionen kam, haben die Möglichkeiten zur Konsolidierung der Protestwählerschaft stark eingeschränkt. Es belegte die unbegrenzte Macht des Regimes. Schließlich war auch der Einzug einer neuen Partei, der Nowyje Ljudi (dt.: "Neue Menschen"), in die neue Duma nichts als eine Illustration autoritärer Kooptation, die sich allerdings auf die minimalen Bedürfnisse des Regimes beschränkte. Die Neuen Menschen werden allgemein als "Spoiler-Partei" betrachtet, konnten aber einige populäre Figuren mit liberalen Ansichten zu Politik und Regulierung von Wirtschaftstätigkeit zusammenbringen (etwa Sardana Awksentijewa, die ehemalige Bürgermeisterin von Jakutsk). Die dreizehn Mandate, die die Partei errang, bieten ihr eine Bühne, die allerdings nicht groß genug ist, um eine starke regimekritische Basis zu mobilisieren.

Diese etablierten Kanäle, über die das Regime aufrechterhalten wird, sind allerdings durch beispiellose Eingriffe modifiziert worden, von denen die meisten als Antwort auf die Nawalnyj-Kampagne für "Smart Voting" ("Kluges Wählen") vorgenommen wurden.

Neue Geschmacksrichtungen auf der Speisekarte der Manipulationen

Vor den Regional- und Kommunalwahlen von 2019 hatte Alexej Nawalnyj ein neues Projekt mit dem Titel "Kluges Wählen" verkündet. Das wichtigste Ziel des Projekts bestand darin, den Anteil der Abgeordneten von Einiges Russland in den Regionalparlamenten zu minimieren, indem in den Direktwahlkreisen die Proteststimmen durch ein Votieren für bestimmte alternative Kandidierende gebündelt werden. Die Auswahl dieser alternativen Kandidierenden erfolgte mithilfe einer tiefgreifenden Analyse von Umfragen, früheren Wahlergebnissen und Expert:innenwissen. In jenen Wahlkreisen, in denen mehrere Abgeordnete zu wählen waren, wurden den Wähler:innen mehrere Namen empfohlen.

Diese Strategie ähnelte zwar technisch den Wahlempfehlungen, die in vielen Demokratien weit verbreitet sind, ist aber in einem offen autoritären Kontext ziemlich innovativ. Im Falle Russlands hatte sie zudem zwar einen beträchtlichen Unterschied hinsichtlich der Wahlergebnisse gemacht. So hatte beispielsweise bei den Kommunalwahlen 2019 in den Stadtbezirken von St. Petersburg das "kluge Wählen" die Ergebnisse der Kandidierenden von Einiges Russland erheblich beeinträchtigt und die Ergebnisse der durch diese Strategie empfohlenen Bewerber:innen im Schnitt um sieben Prozentpunkte erhöht. 2020 war dieser Effekt sogar noch stärker, da der Stimmenanteil der durch das "kluge Wählen" unterstützten Kandidierenden im Schnitt um zehn Prozentpunkte anstieg.

Im Jahr 2021 hat das Regime aber zurückgeschlagen. Zum einen wurde nach einem erfolgreichen Test bei der landesweiten Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen 2020 eine Erweiterung auf drei Wahltage eingeführt. Diese Neuerung wurde offiziell mit der Corona-Pandemie begründet. In der Praxis führte sie jedoch zu einer extremen Wähler:innenmobilisierung, zu einer gewaltsamen Öffnung von Stimmzettelzählgeräten (KOIB) (den sogenannten elektronischen Urnen) und von Schließfächern für Stimmzettel, zu Manipulationen, zum Einwurf zusätzlicher Stimmzettel in den Nächten zwischen den Wahltagen, sowie zu zahlreichen anderen Verstößen. Insgesamt wurden landesweit von unabhängigen Beobachter:innen rund 5.000 Beschwerden eingereicht bzw. Verstöße registriert. Zudem wurden offensichtliche Wahlfälschungen auch durch statistische Methoden festgestellt. Laut Sergej Schpilkin, einem Experten für das Aufspüren von Wahlmanipulationen, lag das "tatsächliche" Ergebnis der Kandidierendenliste von Einiges Russland bei 31–33 Prozent.

Zweitens stellte sich die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe als ein Instrument heraus, mit dem eine Konsolidierung der Opposition in Direktwahlkreisen bekämpft werden kann. Sie wurde in sieben Regionen getestet, hatte aber vor allem in Moskau dramatische Folgen. Diese Neuerung soll auch jenen Wähler:innen die Möglichkeit zur Stimmabgabe geben, die nicht ins Wahllokal kommen können (sie galt vor allem als Maßnahme gegen die Corona-Pandemie). Selbst wenn eine solche Maßnahme in der Theorie die Stimmabgabe erleichtern soll, so werden in Autokratien dadurch Manipulationen erleichtert. In Moskau führten beispielsweise in neun von fünfzehn Direktwahlkreisen nach der Auszählung der Stimmzettel die Kandidierenden, die von "Smart Voting" nominiert worden waren. Das Ergebnis veränderte sich jedoch drastisch, nachdem die elektronischen Stimmen dazugerechnet wurden: Am Ende gewannen in allen fünfzehn Moskauer Direktwahlkreisen die "administrativen Kandidierenden", also Mitglieder von ER oder formal Unabhängige, die aber de facto von ER unterstützt wurden. Hinzu kommt, dass die Ergebnisse mit einer unfassbaren Verzögerung bekanntgegeben wurden. Viele Beobachter:innen teilen die Ansicht, dass sie in einem beispiellosen Ausmaß gefälscht wurden.

Die diesjährigen Wahlen haben gezeigt, dass das Regime zwar das alte Instrumentarium autoritärer Manipulation beibehält, jedoch beispiellose Anstrengungen unternimmt und enorme Ressourcen aufwendet, um sie einzusetzen. Das Regime hat diese Mechanismen zudem um neue Komponenten ergänzt, etwa die Einführung der elektronischen Stimmabgabe, den jüngsten Kniff des Kreml.

Das Paradoxon des zunehmend hegemonialen Autoritarismus in Russland

Die politikwissenschaftliche Literatur über autoritäre Regime geht davon aus, dass es im finalen Stadium zwischen Autoritarismus mit Wettbewerb bzw. elektoralem Autoritarismus und einer geschlossenen Autokratie zu einem sogenannten hegemonialen Autoritarismus kommt. In dieser Art politischen Regimes gibt es bei Wahlen keinerlei Wettbewerb und liegt die politische Unbestimmtheit nahe null, da die Opposition kaum in der Lage ist, gegen den Herrscher vorzugehen. Kurz gesagt: Es gibt in solchen Regimen zwar noch Wahlen, doch sind diese eher Fiktion und in ihrer Substanz bedeutungslos. Die jüngsten Tendenzen in Russland deuten darauf hin, dass dies exakt die Richtung ist, in der sich das Regime entwickelt; die jüngsten Dumawahlen sind da keine Ausnahme.

Der gesamte Wahlgang hat in der Tat aufgezeigt, wie sehr sich Einiges Russland unsicher war, ungeachtet der verschärften Repressionen gegen die Opposition und des wohlerprobten Instrumentariums der Manipulation. Das Paradoxe ist: Je unpopulärer Einiges Russland als eine der institutionellen Säulen des Regimes ist, desto entschlossener wird das Regime versuchen, seine Stellung zu konsolidieren – und umso schneller wird sich der russische Autoritarismus in Richtung einer hegemonialen Spielart bewegen.

Das bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass diese pessimistischen Schlussfolgerungen zur Zukunft der Politik in Russland mit Sicherheit zutreffen. Viele Regime, die dem russischen ähneln, haben aufgrund einer Spaltung der Eliten eine Transformation erfahren. Die jüngsten Dumawahlen haben gezeigt, dass die Protestwählerschaft aufgrund fehlender politischer Alternativen bereit ist, sich hinter der Systemopposition zu konsolidieren (zum Teil durch "kluges Wählen"). Das bereitet den Boden, dass relevante politische Kräfte womöglich gestärkt werden und dadurch über eine Spaltung in den Eliten eine Regime-Transformation erfolgt. Natürlich nur dann, wenn die Gelegenheit genutzt wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps

Fussnoten

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Tatiana Tkacheva ist Research Fellow beim Laboratorium für Vergleichende Sozialforschung der Higher School of Economics (St. Petersburg). Sie ist zudem Doktorandin an der Universität Helsinki. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Innenpolitik in Russland mit besonderer Konzentration auf die regionale Dimension.