Für elektoral-autoritäre Staatsysteme wie Russland geben Wahlen immer einen Anlass zur Sorge. Dieses Mal jedoch hat die russische Führung besondere Gründe, sich Sorgen um die anstehenden Duma-Wahlen im Herbst 2021 zu machen.
Russland tritt aus wirtschaftlicher Sicht in eher schlechter Verfassung in das Wahljahr ein. Seit 2013 leidet das Land an einer stagnierenden Wirtschaft. Die Covid-19-Pandemie hat Russland mit geschätzten 260.000 Todesfällen von April bis November 2020 hart getroffen (Externer Link: https://laender-analysen.de/russland-analysen/400/uebersterblichkeit-der-wahre-opferzoll-von-corona-in-russland/). Auch die im Vergleich zu den meisten anderen großen Volkswirtschaften viel geringere Bereitstellung staatlicher wirtschaftlicher Unterstützung für die Bevölkerung und die heimischen Unternehmen sind weitere Faktoren, die sich negativ auf die russischen Bürger:innen auswirken (Externer Link: https://www.forbes.ru/biznes/396629-pandemiya-so-skidkoy-rossiya-vydelila-na-pomoshch-naseleniyu-i-biznesu-v-70-raz-menshe). Die Pandemie trug deshalb zum weiteren Rückgang von Putins Popularität bei, die bereits nach der Rentenreform von 2018 eine abnehmende Tendenz aufwies (Externer Link: https://carnegie.ru/commentary/84052). Ein gewisses Maß an Unzufriedenheit mit Putin wurzelt zudem in der Dauer seiner Herrschaft: Die russische Gesellschaft zeigt ganz ähnlich wie viele Gesellschaften in anderen Staaten Anzeichen politischer Ermüdung von Präsident Wladimir Putin, der nun schon seit zwei Jahrzehnten im Amt ist.
Neben diesen längerfristigen Entwicklungen gibt es noch mehrere aktuelle politische Ereignisse, die die russische Staatsführung nervös machen dürften. Die Rückkehr von Alexej Nawalnyj nach Russland sowie seine anschließende Verhaftung wird ihn wahrscheinlich zum unbestrittenen Anführer der russischen nicht-systemischen Opposition aufsteigen lassen (der nun auch die Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft genießen wird). Des Weiteren haben die Proteste in Belarus im Jahr 2020 gezeigt, dass sogar sorgfältig geplante Wahlen zu unerwarteten Protesten führen können. In den Augen der russischen Führung sind die Ereignisse in Belarus und die "Causa Nawalnyj" Ausprägungen der aggressiven Haltung des Westens, die Wachsamkeit seitens des Kremls erfordert.
Währenddessen dürften die Wahlen 2021 auch in den Augen der nicht-systemischen Opposition Russlands wie eine einmalige Gelegenheit aussehen. Das "Smart-Voting"-System bietet der Opposition ein Werkzeug, welches es bei den bevorstehenden Wahlen zu nutzen gilt. In den letzten Jahren gab es mehrere Episoden auf regionaler und lokaler Ebene, in denen die russischen Wähler:innen anders abstimmten, als der Kreml es erwartet hatte. Die Opposition hofft deshalb darauf, dass das "Schlaue Abstimmen" für ähnliche Überraschungen während der Duma-Wahlen 2021 sorgen wird.
Infolgedessen sind die bevorstehenden Wahlen sowohl für das Regime als auch für die nicht-systemische Opposition alles andere als "business as usual" . Dies wird höchstwahrscheinlich die Strategien der Akteure merklich beeinflussen. Um seine Chancen zu optimieren, wird sich der Kreml hauptsächlich auf sein reiches Repertoire an manipulativen und repressiven Maßnahmen gegen seine Gegner verlassen wie auf (1) die Verabschiedung neuer repressiver Gesetze, die den Zweck verfolgen, die "Smart-Voting"-Strategie zu behindern, (2) die gewalttätige Niederschlagung friedlicher Demonstrationen, (3) Desinformationstaktiken mit dem Ziel, Keile zwischen die verschiedenen Segmente der nicht-systemischen Opposition zu treiben, und (4) die Schaffung von Kreml-loyalen pseudo-oppositionellen Parteien (zum Beispiel die Partei Nowye Ljudi (Neue Leute) , die erst im Jahr 2020 gegründet worden war, Externer Link: https://meduza.io/feature/2020/01/10/v-rossii-poyavyatsya-neskolko-novyh-partiy-vklyuchaya-partiyu-razrabotchika-igry-world-of-tanks-oni-budut-sozdavat-oschuschenie-politicheskoy-konkurentsii), um einige der regimekritischen Stimmen zu absorbieren. Nicht zu vergessen sind (5) auch die Pläne der russländischen Zentralen Wahlkommission, die diesjährigen Wahlen erstmals auf drei aufeinanderfolgende Wahltage auszudehnen (bisher wurden Wahlen immer an einem Wahltag durchgeführt). Diese Praxis wurde bereits bei dem Verfassungsreferendum 2020 eingeführt, als offiziellen Grund nannte der Kreml damals die Corona-Pandemie. Hierdurch wird die Arbeit von Wahlbeobachter:innen erheblich erschwert und Wahlmanipulationen zugunsten der Regierungspartei Einiges Russland bewusst antizipiert. Der Kreml könnte (6) ebenfalls versuchen, Nawalnyjs weiteres körperliches und geistiges Wohlbefinden im Gefängnis als Mittel zur Erpressung seines Teams und zur Einschränkung der Handlungen seiner Anhänger:innen zu instrumentalisieren. Nicht auszuschließen ist auch der Versuch des Kremls, (7) die russischen Bürger:innen um sich herum politisch zu konsolidieren (ähnlich wie nach der Krim-Annexion 2014). So könnte das Regime mithilfe seiner Propagandaressourcen versuchen, die letzten gezielten Sanktionen ("targeted sanctions") des Westens gegen russische Einzelpersonen als "Sanktionen gegen ganz Russland" ("comprehensive sanctions") zu porträtieren und/oder sich erneut auf das Mittel des militärischen Säbelrasselns gegenüber seinen Nachbarstaaten einzulassen. Interessanterweise schließt eine solche Entwicklung zum einen nicht aus, dass es folglich zu einer (zeitweiligen) Abnahme der Repressionsintensität in Russland kommen könnte, da durch den " Rally-‘Round-The-Flag "-Effekt die Repressionsmotive für das Regime größtenteils wegfallen könnten. Zum anderen würde der Kreml so auch den Wählerstimmenfang der nicht-systemischen Opposition deutlich erschweren und ihren Rekrutierungspool erheblich reduzieren.
Im Gegensatz zum Kreml ist der Spielraum, über den die nicht-systemische Opposition bei der Auswahl ihrer Taktiken verfügt, zwar begrenzter, aber die Opposition wird wahrscheinlich die Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, so effizient wie möglich nutzen wollen. Wahrscheinlich ist, dass die nicht-systemische Opposition versuchen wird, (1) den Ansatz des "Smart-Voting" weiter auszubauen, (2) Protestkundgebungen gezielter zur organisieren (sprich mit spezifischen und attraktiven politischen Agenden, anstelle einfacher regelmäßiger Ereignisse ohne eine klare Botschaft), (3) die Aufmerksamkeit der internationalen Staatengemeinschaft auf die staatlichen Repressionen zu lenken, um so (4) einerseits das russische Regime international zu delegitimieren und andererseits (5) Washington und Brüssel zu überzeugen, ihre Sanktionspolitik weiter zu verschärfen. Jedoch könnte auf lange Sicht gesehen das (unfreiwillige) Exil im Ausland des größten Teils der politischen Führungsriege des Nawalnyj-Teams (bis auf Nawalnyj selbst natürlich) in den letzten Wochen und Monaten auch zu einem politischen Legitimationsverlusts bei der in Russland verbliebenen Gefolgschaft führen. So könnten ihre Anhänger:innen die nun in der Diaspora lebende Führungsriege früher oder später als sogenannte "long-distance nationalist[s]" empfinden – also als im Ausland lebende Oppositionelle, die russländische Innenpolitik aus dem Ausland betreiben und im Gegensatz zu ihrer Gefolgschaft in Russland nicht (mehr) die Konsequenzen (wie strafrechtliche Verfolgung und/oder Repressionen seitens des Staates) für ihre Handlungen und Forderungen tragen müssen (Externer Link: https://newleftreview.org/issues/i193/articles/benedict-anderson-the-new-world-disorder).
Unter diesen Umständen befindet sich die sogenannte "systemische Opposition" in einer äußerst komplexen Situation. Einerseits ist sie eine wichtige potenzielle Profiteurin des "Smart-Voting"-Systems. Auf der anderen Seite erwartet der Kreml höchstwahrscheinlich viel stärkere Loyalitätsbekundungen der Parteien, die für das Parlament kandidieren dürfen. Erwähnenswert ist aber, dass die Bereitschaft der systemischen Opposition, mit Nawalnyj zusammenzuarbeiten, keinesfalls als eine Selbstverständlichkeit angesehen werden darf. Dies offenbart der Artikel von "Jabloko"-Parteichef Grigorij Jawlinskij. Darin warnt Jawlinskij seine Leser:innen vor Nawalnyjs nationalistischen und populistischen Wurzeln (Externer Link: https://www.yavlinsky.ru/article/bez-putinizma-i-populizma/). Für Jawlinskij war der Unwille, auf ideologische Kompromisse einzugehen, schon immer der Eckpfeiler seiner politischen Haltung seit Mitte der neunziger Jahre. Dies bedeutet aber ebenso, dass die Möglichkeiten für die Kooperation zwischen Jabloko und Nawalnyj, z. B. dadurch, dass Ljubow Sobol auf der Jabloko-Parteiliste für ein Direktmandat in Moskau kandidiert (das würde sie von der Pflicht befreien, Unterschriften für die Kandidatur zu sammeln), fraglich zu sein scheint. Erschwert wird diese Zusammenarbeit nun auch durch die jüngste repressive Gesetzgebung in Russland, die im Endeffekt die Wahlchancen für Parteien und deren potenzielle Kandidat:innen einschränken, wenn diese mit als sogenannte "ausländische Agenten" eingestuften Organisationen Kontakte gepflegt haben (Externer Link: https://zona.media/news/2021/04/07/inoagent).
Die erhöhte Risikowahrnehmung seitens des Regimes und die Bereitschaft der nicht-systemischen Opposition, dieses "Gelegenheitszeitfenster" zu nutzen, wird um die bevorstehenden Wahlen herum zu einer höchst angespannten Atmosphäre führen. Die Unsicherheit über die weitere politische Entwicklung im Land wird dadurch verstärkt, dass die von den Akteuren verfolgten Strategien und ihre Erfolgsaussichten nicht von den objektiven politischen Gegebenheiten und der Haltung der russländischen Öffentlichkeit abhängen, sondern vielmehr von der subjektiven Wahrnehmung der aktuellen Situation. Es lässt sich nur spekulieren, wie Putin selbst die derzeitige politische Lage in Russland interpretiert und wo er die gravierendsten Gefahren für seine Herrschaft sieht. Zumindest lässt Putins letzte Jahresansprache an die Föderale Versammlung im April 2021 die Deutung zu, dass er scheinbar die derzeitigen innenpolitischen Herausforderungen unbeeindruckt zur Kenntnis nimmt. Unter Umständen unterschätzt er sogar die Unzufriedenheit der Bevölkerung und somit auch die Gefahr, die dadurch für sein Regime entstehen könnte. In jedem Fall sind politische Fehleinschätzungen aufseiten aller Akteure sehr wahrscheinlich. Mögliche Über- oder Unterschätzungen der eigenen Möglichkeiten und der der Gegenseite können unvorhersehbare Folgen für den russländischen Staat heraufbeschwören.
Als das mit Abstand wahrscheinlichste Szenario verbleibt aber die Entwicklung, dass das Regime es schaffen wird, die Kontrolle über die Duma zu behalten und größere Proteste gegen sich zu verhindern (oder zu unterdrücken). Nichtsdestotrotz erzeugt die Zeit nach den Wahlen einen "Nebel der Unsicherheit" über die weiteren politischen Folgen für Russland. Es kann entweder mit einer Lockerung des aktuellen repressiven Vorgehens des Kremls gerechnet werden, um die Beziehungen zum Westen wieder zu verbessern, oder das genaue Gegenteil, in welchem der Kreml seine derzeitige repressive und isolationistische Politik fortsetzt, oder die Kombination beider Strategien. Erneut werden es vor allem die subjektiven Wahrnehmungen des Regimes und weniger die tatsächlichen Entwicklungen die entscheidenden Faktoren für Russlands politische Zukunft darstellen. In diesem Zusammenhang könnten die weiteren Entwicklungen in Belarus für den Kreml als ein wichtiger politischer Testfall fungieren, aus dem die russische Führung sicherlich versuchen wird, wertvolle Lehren für sich zu ziehen.
Stand: 15.05.2021
Lesetipps
Frye, T. (2021). Weak Strongman: The Limits of Power in Putin’s Russia. Princeton University Press.
Greene, S. A., & Robertson, G. B. (2019). Putin v. the People: The Perilous Politics of a Divided Russia. Yale University Press.
Hellmeier, S. (2021). How foreign pressure affects mass mobilization in favor of authoritarian regimes. European Journal of International Relations, 27(2), S. 450–477.
Rogov, K. (2018). The art of coercion: Repressions and repressiveness in Putin’s Russia. Russian Politics, 3(2), S. 151–174.
Turchenko, M., & Golosov, G. V. (2021). Smart enough to make a difference? An empirical test of the efficacy of strategic voting in Russia’s authoritarian elections. Post-Soviet Affairs, 37(1), S. 65–79.