Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Zum 35. Jahrestag von Tschernobyl. Das sowjetische Erbe der russländischen Atomindustrie | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Silowiki (23.12.2024) Analyse: Die Silowiki im Krieg: Die russischen Geheimdienste seit Februar 2022 Analyse: Die GRU – Russlands Militärgeheimdienst Analyse: Russlands Freiwilligenformationen: Vehikel zur Rekrutierung, Loyalitätsbeweis oder Zeichen der Machtdiffusion? Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Einstellung zum Krieg (20.12.2024) Analyse: Entwicklung der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Zustimmung in Russland zum Krieg gegen die Ukraine Umfragen: Einstellung zum Krieg gegen die Ukraine dekoder: Verschollene Gefallene Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Wirtschaftsmodell und Eliten (25.10.2024) Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen angesichts des Krieges und der Sanktionen Ranking: Russen auf der Forbesliste der Milliardäre weltweit 2024 Analyse: Rätselhafte Todesfälle in der russischen Elite vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Russlands Auslandspropaganda (11.10.2024) Analyse: Wie deutschsprachige alternative Medien vom Kreml unterwandert und instrumentalisiert werden Kommentar: Sympathien für Putin: Eine Folge politischer Entfremdung Kommentar: Schulprojekt: "Russische Propaganda erkennen" – ein Werkstattbericht Dokumentation: Lesetipps: Russische Desinformationskampagne Doppelgänger in Deutschland Dokumentation: EU vs Disinfo: Doppelgänger Dokumentation: Durchführungsverordnung des Rates der Europäischen Union zu Sanktionen gegen Russland Dokumentation: Öffentliche Bewertung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestags der russischen Einflussnahme in Deutschland Kommentar: Lauschangriff auf deutsche Offiziere: Russlands hybride Kriegsführung Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Russlands Weizenexporte (12.09.2024) Analyse: Konzentration der russischen Weizenexporte nach Ägypten und in die Türkei: Evidenzen aus den Exporten der Häfen Noworossijsk und Rostow Analyse: Weizenhandel zwischen Russland und dem Iran: ein unsteter Trend Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Nordkaukasus / Russisch-Orthodoxe Kirche (26.07.2024) Analyse: Ramsan Kadyrow: Halb Putins loyaler Prätorianer, halb ergebener Diener des tschetschenischen Volkes Dokumentation: Lesetipps zu Tschetschenien und Kadyrows Gewaltherrschaft, Familienclan, seinem Gesundheitszustand und Spekulationen über seinen Rücktritt Dokumentation: Ramsan Kadyrows Spezialoperation. Was schreiben die Regionalchefs auf Telegram und VK über Russlands Krieg gegen die Ukraine? Analyse: Fehlwahrnehmung: Inguschetien und Dagestan zwei Jahre nach der russischen Vollinvasion in die Ukraine Analyse: Prüfung durch das Gebet. Welche Perspektiven haben die Kriegsgegner in der Russisch-Orthodoxen Kirche? Chronik: Chronik: 1. bis 6. Juli 2024 Geheimhaltung und Manipulation von Daten (05.07.2024) Analyse: Die Open Data-Lage in Russland während des Krieges:
zwischen Drohnenangriffen und bürokratischen Grabenkämpfen Analyse: Die Kunst der Datenmanipulation in Russland: Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Personalveränderungen in Regierung und Präsidialverwaltung (11.06.2024) Analyse: Regierungsumbildung in Moskau: Herrschaftssicherung sticht Effizienzsteigerung Analyse: Andrej Beloussow – Russlands neuer Kriegsminister dekoder: Alexej Djumin Chronik: 30. April – 18. Mai 2024 30 Jahre russische Verfassung (14.05.2024) Editorial: Einleitung der Gastherausgeberin Analyse: Wie der Gewalt der Weg geebnet wurde
. Die Verfassungskrise von 1993 und Russlands politischer Entwicklungspfad Analyse: Über die Bedeutung der russischen Verfassung Analyse: Legitimierung autoritärer Transformation
. Russlands Verfassungsgericht und der Preis des Kompromisses Analyse: Frauenrechte und die russische Verfassung
. 30 Jahre des Versagens Analyse: Menschenrechte in der Hochschullehre in Russland Lesetipp: Was kann die russische Verfassung noch leisten?
 Rechenschaft und Gerechtigkeit in einem Russland nach Putin dekoder: Meine Angst, mein Hass dekoder: Wie man den Drachen besiegt Dokumentation: 15 Thesen eines russischen Bürgers, der am Wohlergehen seines Landes interessiert ist Dokumentation: Politische Gefangene und ihre Schlussworte vor Gericht Chronik: 22. – 26. April 2024 Wahlen / Alternativen / öffentliche Meinung (02.05.2024) Analyse: Die Präsidentschaftswahl 2024: Ergebnisse und Deutungen Umfragen: Einstellung im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2024 in Russland Statistik: Präsidentschaftswahlen in Russland 2000 – 2024 dekoder: Es braucht eine Aussicht auf Veränderung Ranking: Die politische Elite im Jahr 2023 Chronik: 18. März – 20. April 2024 Krieg zwischen Israel und Hamas / Antisemitismus (03.04.2024) Analyse: Eine neue Phase der russisch-israelischen Beziehungen nach dem 7. Oktober 2023 Umfragen: Einstellungen zum Krieg zwischen Israel und der Hamas Analyse: Antisemitismus in Russland – ein alter Bekannter meldet sich zurück Umfragen: Antisemitismus in Russland Dokumentation: Gewissensfreiheit und Anti-Extremismus-Gesetzgebung in Russland dekoder: Lesetipp: Gaza und die Juden im Kaukasus Chronik: 11. – 18. März 2024 Annektierte Gebiete (27.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Einstellung der Bevölkerung zur Krim und dem Krieg gegen die Ukraine Chronik: 14. Februar – 10. März 2024 Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024

Analyse: Zum 35. Jahrestag von Tschernobyl. Das sowjetische Erbe der russländischen Atomindustrie

Achim Klüppelberg

/ 10 Minuten zu lesen

Die Katastrophe von Tschernobyl jährt sich zum 35. Mal. Ein Mahnmal über die Gefahren der Atomkraft. Trotzdem findet eine Renaissance der Atomkraft in Osteuropa statt.

Das Gebiet um das AKW Tschernobyl ist zu einer sog. postindustriellen Landschaftsnarbe geworden. Projekte wie ein Solarkraftwerk und der Tourismus sollen die Gegend wieder nützlich machen. (© picture-alliance, Photoshot )

Zusammenfassung

Am 26. April 2021 jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 35. Mal. Gleichzeitig findet in Osteuropa eine Renaissance der Atomkraft statt. Rosatom, Russlands Staatsunternehmen für den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken, ist dabei, ältere sowjetische Meiler auch außerhalb der GUS durch Neuentwicklungen zu ersetzen. Parallel wird der Reaktorexport massiv gefördert. Die Geschehnisse in Tschernobyl laden dazu ein, das nukleare Erbe der Sowjetunion näher zu betrachten und über Russlands Rolle im postsowjetischen Raum zu reflektieren. Erinnern heißt, die Sicherheit von Atomkraft zu hinterfragen.

Nordukraine, 26. April 1986

Nach einem fehlgeschlagenen Turbinentest, hervorgerufen durch Mängel im Reaktordesign, Bedienungsfehler und einer unzureichenden Sicherheitskultur, geschahen mehrere Explosionen im Reaktorblock vier des Atomkraftwerks Tschernobyl. Bald wurde deutlich, dass der Reaktor vollständig zerstört worden war. Giftige radioaktive Stoffe wurden in die Atmosphäre abgegeben und verteilten sich durch Wind und Wasser über weite Landstriche Eurasiens. Belarus, die Ukraine und Russland wurden besonders schwer getroffen. Der Reaktorkern lag für einige Tage offen unter freiem Himmel, bis Gegenmaßnahmen ergriffen werden konnten. Obwohl vieles nicht erfolgreich gewesen war, wie beispielsweise das Bedecken des Reaktorkerns mit durch von Hubschraubern abgeworfenem Sand, Bor und Blei, oder das kontinuierliche Fluten des Reaktorraums durch beschädigte Kühlleitungen während der ersten Tage der Katastrophe, konnte die Sowjetunion auch ihre Stärken in der schnellen Massenmobilisierung und Konzentration von Material ausspielen.

Während eine Sperrzone von schlussendlich dreißig Kilometern um den zerstörten Reaktor eingerichtet wurde, zog man eilends hunderttausende Helfer:innen ein. Diese Liquidator:innen versuchten unter Einsatz ihrer Gesundheit, und teilweise auch ihres Lebens, betroffene Gegenden zu dekontaminieren und die weitere Verbreitung von Radionukliden zu verhindern. Ihren Anstrengungen zum Trotz verteilten sich dennoch radioaktive Partikel über Landesgrenzen hinweg und beeinträchtigten die Gesundheit vieler Menschen. Bis heute kann nicht zuverlässig bestimmt werden, wie viele Opfer die Katastrophe tatsächlich forderte.

Eine der größten Leistungen der Liquidator:innen war die Errichtung des ersten Sarkophags, welcher schon im November desselben Jahres fertiggestellt wurde. Dieser schirmte den strahlenden Inhalt des zerstörten Reaktorraums notdürftig mit Betonplatten von der Umwelt ab, wodurch weitere Aufräumarbeiten in der direkten Umgebung ermöglicht werden konnten. Zeitgleich wurden insgesamt 115.000 Menschen aus den umliegenden Ortschaften evakuiert und umgesiedelt. Neben der nächstgelegenen Stadt Pripjat wurde auch die Kleinstadt Tschernobyl selbst, sowie 485 weitere Dörfer verlassen.

Anfangs war die sowjetische Informationspolitik unzureichend, sodass den Evakuierten weder genug Zeit blieb ihre Abwesenheit vorzubereiten, noch war das notwendige Wissen vorhanden, um sich und ihre Familien vor dem Fallout zu schützen. Obwohl den Bewohner:innen anfangs in Aussicht gestellt wurde, bald heimkehren zu können, blieben ihre Siedlungen gesperrt.

Die drei verbliebenen Reaktorblöcke nahmen schnell ihre Arbeit wieder auf. Man schaltete sie erst von 1991 bis 2000 sukzessive ab. Parallel wurde vor Ort weiter an der Dekommissionierung gearbeitet. Ein Meilenstein war dabei die Fertigstellung des zweiten Sarkophags. Da der erste mit der Zeit bedeutende Mängel aufwies, wurde ein zweiter, viel größerer Schutz mit einer Lebensdauer von 100 Jahren über den ersten Sarkophag gefahren. Im Juni 2019 war er vollständig funktionstüchtig.

Das Trauma überwinden

Die Katastrophe in Tschernobyl hat die sowjetische Atomindustrie in ihrer Expansion nicht gänzlich aufgehalten. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass das Wachstum entschieden verlangsamt wurde. Beispielsweise begann man in Kursk noch am 01. August 1986, also ungefähr drei Monate nach dem Unglück, mit der Errichtung eines neuen baugleichen Reaktors. Später wurde in Smolensk im Jahr 1990 ein weiterer in Betrieb genommen. Dieser wird voraussichtlich als letzter vom Typ Tschernobyl erst 2034 abgeschaltet werden. Zwar wurden als direkte Konsequenz aus dem Unglück baugleiche Reaktoren nachgebessert und Sicherheitsroutinen aktualisiert. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob die Sicherheit letztendlich gewährleistet werden kann.

In Zukunft wird versucht werden, das Atomkraftwerk (AKW) Tschernobyl und das umliegende Sperrgebiet der gesellschaftlichen Nutzung wieder zuzuführen. Die Technikhistorikerin Anna Storm hat darauf hingewiesen, dass solche Katastrophen postindustrielle Landschaftsnarben ("post-industrial landscape scars"), hinterlassen. Es sei an der jeweiligen Gesellschaft diskursiv zu entwickeln, wie mit ihnen umgegangen wird. Das Gelände, insbesondere als kontaminierter Ort, kann dabei als Andenken bewahrt, als Aussöhnungsort kuriert und als mögliche Stätte eines Neuanfangs gedacht werden.

So wurde in der Zone ein neues relativ kleines Solarkraftwerk aufgebaut, welches die alte Infrastruktur wiederbelebt. Neben dem bereits etablierten Tourismus wurde vorgeschlagen, vorhandene Einrichtungen für die Lagerung benutzter Brennelemente aus anderen AKWs zu nutzen. Somit wird versucht, um bei Storms theoretischem Zugang zu bleiben, Tschernobyl als Narbe neu zu interpretieren und in etwas Nützliches umzuwandeln.

Pfadabhängigkeit und neuer Aufschwung

Nach 1991 war die ehemals sowjetische Atomindustrie schwer getroffen, da die vorherigen Unionsrepubliken unterschiedliche politische Wege einschlugen. Während Russland versuchte, die erarbeitete Infrastruktur zu erhalten, wandten sich andere Staaten schnell von allem Sowjetischen ab.

Russland, als Haupterbe der Sowjetunion, befand sich während der 1990er und der frühen 2000er Jahre in einer tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationskrise. Erst nach dieser Krise konnten die alten sowjetischen Entwicklungspläne ernsthaft wieder aufgenommen und im großen Stil an die neue Realität angepasst werden. Ein Wendepunkt war dabei die Inbetriebnahme des ersten Reaktors im AKW Wolgodonsk im Jahr 2001. Dies sollte eine Trendwende darstellen. Von nun an steigerte sich erneut im bedeutenden Maße sowohl die Anzahl wieder aufgenommener alter sowie neu angelegter Atomenergieprojekte. Zudem wurde begonnen, ältere AKWs am selben Standort durch neue Anlagen zu ersetzen. Russland benutzt dabei nun eigene Weiterentwicklungen früherer sowjetischer Reaktoren.

Nukleare Renaissance

Im April 2021 waren 444 zivile Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 394 Gigawatt elektrisch (GWe) am Netz. 54 weitere waren im Bau. Dabei schlägt sich das sowjetische Erbe in Osteuropa mit 74 aktiven Reaktoren und einer Gesamtkapazität von 54,8 GWe nieder. Dies entspricht einem weltweiten Anteil von ungefähr 16,7 % bei der Anzahl der Reaktoren und 13,9 % bei der Kapazität. Gleichzeitig kommen auf Nordamerika und Westeuropa 219 Reaktoren mit einer Gesamtkapazität von 214,7 GWe.

Auch wenn bei dieser Statistik deutlich wird, dass das Gros weltweiter Atomstromproduktion nicht in Osteuropa stattfindet, ist es so, dass der Neubau von Kernkraftanlagen in Westeuropa und Nordamerika stockt und deren Gesamtzahl sinkt. Im Kontrast dazu steht Russland mit dem Staatsunternehmen Rosatom an der Spitze von dem, was als nukleare Renaissance in Osteuropa beschrieben werden kann. Rosatom verfolgt dabei eine Doppelstrategie.

Erstens werden eigene Atomanlagen modernisiert und Schlüsseltechnologien weiterentwickelt. Dabei wird auch ein Schwerpunkt auf die Demonstration neuer Innovationen gelegt, um diese international zu vermarkten. Das schwimmende AKW "Akademik Lomonossow", welches von Sankt-Petersburg nach Pewek im Fernen Osten gebracht wurde, um das ehemalige Kernkraftwerk Bilibino zu ersetzen, zeigte der ganzen Welt, dass kleinere modulare Reaktoren auch als mobile Variante benutzt werden können. Der Einsatz in der Arktis spielte dabei eine besondere Rolle, sollte er doch demonstrieren, dass mit einem solchen Modell die Exploration der nun durch den Klimawandel wirtschaftlich gewordenen arktischen Bodenschätze flexibel möglich gemacht werden könnte. Mögliche Umweltschäden bleiben bei einer solchen Rechnung unbeachtet.

Das AKW Bilibino ist ein gutes Beispiel für das, was Daniel Headrick als Werkzeuge eines Imperiums ("tools of empire") definiert hat. Das Kernkraftwerk wurde mit vier kleinen stationären Reaktoren á 12 Megawatt elektrisch (MWe) zur Elektrizitäts- und Wärmegewinnung gebaut, die die modulare Entwicklung auf der "Akademik Lomonossow" vorwegnahmen. Dieses Kraftwerk wurde im Permafrostgebiet gebaut und war damit das erste AKW, welches diesen klimatischen Bedingungen trotzte. Hierbei ging es darum, Gold und andere Bodenschätze zu fördern. Dadurch wurde das Gebiet für die Erschließung durch Europäer geöffnet, während es eigentlich traditionell von den Urvölkern der Tschuktschen und Ewenen genutzt wurde. Die industrielle Erschließung veränderte die Umwelt und führte auch zu ihrer Schädigung.

Zweitens versucht Rosatom seine neuen Reaktoren international zu verkaufen. Dabei verzeichnet der Staatskonzern einige Erfolge, wie beispielsweise in Finnland, der Türkei und Belarus. Es mag paradox erscheinen, dass ein Land, welches durch Tschernobyl so stark betroffen war und infolgedessen sowjetische Pläne für ein AKW in Minsk vehement bekämpfte, sich nach ungefähr drei Jahrzehnten selbst für die Atomkraft entscheidet. Auch wenn hier natürlich politische Ambitionen Putins und Lukaschenkas eine entscheidende Rolle gespielt haben, kann in diesem Vorgang der Versuch gesehen werden, Tschernobyl hinter sich zu lassen. Bloß, anstatt diese Narbe als Anstoß für ein Umdenken zu deuten, entschloss sich die politische Führung das Gleiche im nationalen Rahmen erneut zu versuchen.

Eine Industrie im Wandel

Russlands Atomindustrie befindet sich nach einer Phase der Stabilisierung in einer Situation der Neuorientierung. Hierbei ist erstaunlich, dass obwohl immer noch neun Reaktoren vom Typ Tschernobyl in den AKWs Leningrad, Kursk und Smolensk regulär in Betrieb sind, Tschernobyl zumindest in offiziellen Verlautbarungen seitens der Industrie kaum Erwähnung findet. Anstatt diesen fundamentalen Teil der eigenen Geschichte anzunehmen und mit in künftige Planungen und in die Kommunikation mit der interessierten Öffentlichkeit aufzunehmen, um auch kritische Stimmen und Ängste ernstzunehmen, wird das Problem größtenteils ignoriert. Das Unglück von Fukushima-Daiichi vor zehn Jahren hat nochmals bewiesen, dass schwerwiegende Probleme in Kernkraftwerken stattfinden können – ungeachtet der soziopolitischen Verhältnisse vor Ort. Diese Möglichkeit muss ernstgenommen werden und in die bestehenden Kosten-Sicherheitsabwägungen miteinbezogen werden. Das sollte ein Teil der Anstrengungen Rosatoms sein, die Katastrophe von Tschernobyl zu überwinden.

Kleine Modularreaktoren und das Endlagerproblem

Während das Kerngeschäft die konventionellen Reaktoren der Entwicklungslinie der Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER) bleiben werden, wird Rosatom es heute versuchen müssen, sich an die angepasste Weltlage nach Tschernobyl und Fukushima-Daiichi anzupassen und mit alternativen Reaktorkonzepten die Nachfrage nach Sicherheit und Flexibilität zu befriedigen.

Der Vorstoß mit dem schwimmenden AKW "Akademik Lomonossov" muss in diesem Sinne gedeutet werden. Es ist kein Zufall, dass obwohl es bereits Pläne für ein solches Kernkraftwerk in der Sowjetunion gegeben hatte, sie erst 2020 in Russland realisiert wurden. Russlands Wirtschaft basiert zum Großteil auf der Ausbeutung fossiler Energieträger. Das zurückgehende Eis in der Arktis ermöglicht es hier, neue Vorkommen zu erschließen. Allerdings liegen diese vielfach in schwer zugänglichem Gebiet mit harschen klimatischen Bedingungen. Die Idee, mit kleinen mobilen Modularreaktoren genügend Elektrizität und Wärme für genau solche Unternehmungen zu produzieren, stammt ebenfalls aus der Sowjetunion. Aber erst heute scheint sie aufgrund des Klimawandels und der geänderten wirtschaftlichen und geopolitischen Lage attraktiv zu werden.

Die zunehmende Skepsis gegenüber überdimensionierten Anlagen führt aus zwei Gründen dazu, weshalb kleine Modularreaktoren eine bedeutende Rolle spielen werden. Erstens bedürfen sie viel weniger langfristiger Investitionen und zweitens sind sie flexibler im Einsatz. Da durch den Klimawandel die Wetterlage häufiger von Extremen beherrscht werden wird, ist es wahrscheinlich, dass konventionelle großangelegte AKWs Probleme mit einer ausreichenden Kühlwasserversorgung bekommen werden. Nur eine ununterbrochene Wasserversorgung garantiert aber den sicheren Betrieb einer solchen Anlage. Die letzten Hitzesommer zeigten bereits in Frankreich, dass Wassermangel auftreten kann. Hier offenbart sich eine wesentliche Stärke von modularen Reaktoren, können sie doch flexibel platziert und auch wieder abgebaut werden. Zusätzlich bedeuten kleinere Reaktoren auch potentiell weniger Gefahr beim Eintreten eines schwerwiegenden Störfalls.

Außerdem gibt es in Russland noch kein Endlager für Atommüll. Vielmehr wurde dieser in der Vergangenheit äußerst nachlässig gelagert. Kasperski und Stsiapanau konnten zeigen, dass die Verhandlungsprozesse innerhalb Russlands oftmals undemokratisch ablaufen. Dabei liegt es in Russlands eigenem Interesse, eine vernünftige Lösung zu finden, um die Attraktivität ihrer Exportreaktoren aufrechtzuerhalten. Denn diese werden oftmals in Form eines Sorglospakets verkauft. Russland kümmert sich um die Herstellung und Lieferung der Brennelemente, baut die Anlage im Ausland und verpflichtet sich genutzten Kernbrennstoff wieder anzunehmen. Dabei wird der Zielstaat vor einem großen Teil des Atommüllproblems bewahrt. Doch auch Russ:innen haben das Recht auf eine intakte Umwelt und ein gesundes Leben. In diesem Sinne sollte es eine demokratische und effektive Endlagersuche geben.

Ausblick

Während die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie noch abzuwarten bleiben, ist es klar, dass der Bau großer Reaktoren der WWER-Entwicklungslinie schon alleine durch die anstehende Erneuerung der russländischen Reaktorflotte weitergehen wird. Die Frage ist, inwieweit es Rosatom gelingen wird, Käufer in anderen Ländern zu finden. Es wird ausschlaggebend sein, inwiefern Sicherheitsbedenken ausgeräumt werden können. Das Angebot von kleineren modularen Modellen wird die Produktpalette ergänzen, aber auf absehbare Zeit nicht das Kerngeschäft ersetzen können. Dabei kommt es Rosatom zugute, dass es vom Staat getragen und auch als politisches Instrument eingesetzt wird.

Rosatom wird auf dem globalen Markt ein bedeutender Akteur bleiben und seine Position aufbauend auf dem sowjetischen Erbe festigen. Es bleibt zu wünschen, dass es sich mit der Katastrophe von Tschernobyl in dem Sinne beschäftigt, dass sie als Teil der Geschichte und als Mahnmal sowjetisch-russländischer Kernkraft angenommen und diskutiert wird. Unfälle werden unweigerlich weiterhin in einem solch komplexen technologischen System passieren. Vielmehr gilt es zu verhindern, dass sich solche vom Ausmaß Tschernobyls und aktuell Fukushima-Daiichis nicht nochmal wiederholen. Offenheit, Transparenz und freie Diskussion könnten helfen, eine verbesserte Sicherheitskultur in der Atomindustrie herzustellen, um so vermeidbare Schäden für Mensch und Umwelt auszuschließen. Tschernobyl war vermeidbar und muss als Beispiel dafür herhalten, was passieren kann, wenn kurzfristige monetäre Interessen über der Sicherheit stehen. Nur wenn es gelingt, die Wunde von Tschernobyl gesellschaftlich durch eine verbesserte Sicherheits- und Diskussionskultur heilen zu lassen, kann der Ort vielleicht eine Zukunft haben.

Bibliographie

  • Arndt, Melanie: Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen 2019.

  • Brown, Kate: Manual for Survival. A Chernobyl Guide to the Future, New York/ London 2019.

  • Headrick, Daniel R.: Technology and Imperialism – The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, New York/ Oxford 1981.

  • Högselius, Per: The Decay of Communism. Managing Spent Nuclear Fuel in the Soviet Union, 1937–1991, in: Risk, Hazards & Crisis in Public Policy, 2010, Vol. 1, 4, Artikel 4.

  • Ialenti, Vincent: Deep Time Reckoning. How Future Thinking Can Help Earth Now, Cambridge (MA)/ London 2020.

  • Kasperski, Tatiana: From Legacy to Heritage. The Changing Political and Symbolic Status of Military Nuclear Waste in Russia, in: Cahiers du Monde Russe, 60/2-3 Avril-septembre 2018, S. 1–22.

  • Kasperski, Tatiana: Nuclear Power in Ukraine. Crisis or Path to Energy Independence?, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Vol.71 (4) 2015, S. 43–50.

  • Kasperski, Tatiana und Stsiapanau, Andrei: Building trust in nuclear energy in a non-democratic context: the public, industry and nuclear waste in contemporary Russia, in: Journal of Risk Research, eingereicht 2020.

  • Perrow, Charles: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, Princeton 1999.

  • Schmid, Sonja D.: Producing Power. The Pre-Chernobyl History of the Soviet Nuclear Industry, Cambridge (MA)/ London 2015.

  • Storm, Anna: Post-Industrial Landscape Scars, New York 2014.

Fussnoten

Achim Klüppelberg arbeitet als Doktorand am KTH Royal Institute of Technology in Stockholm zur sowjetischen Geschichte der Atomkraft.