Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Zum 35. Jahrestag von Tschernobyl. Das sowjetische Erbe der russländischen Atomindustrie | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Analyse: Zum 35. Jahrestag von Tschernobyl. Das sowjetische Erbe der russländischen Atomindustrie

Achim Klüppelberg

/ 10 Minuten zu lesen

Die Katastrophe von Tschernobyl jährt sich zum 35. Mal. Ein Mahnmal über die Gefahren der Atomkraft. Trotzdem findet eine Renaissance der Atomkraft in Osteuropa statt.

Das Gebiet um das AKW Tschernobyl ist zu einer sog. postindustriellen Landschaftsnarbe geworden. Projekte wie ein Solarkraftwerk und der Tourismus sollen die Gegend wieder nützlich machen. (© picture-alliance, Photoshot )

Zusammenfassung

Am 26. April 2021 jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 35. Mal. Gleichzeitig findet in Osteuropa eine Renaissance der Atomkraft statt. Rosatom, Russlands Staatsunternehmen für den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken, ist dabei, ältere sowjetische Meiler auch außerhalb der GUS durch Neuentwicklungen zu ersetzen. Parallel wird der Reaktorexport massiv gefördert. Die Geschehnisse in Tschernobyl laden dazu ein, das nukleare Erbe der Sowjetunion näher zu betrachten und über Russlands Rolle im postsowjetischen Raum zu reflektieren. Erinnern heißt, die Sicherheit von Atomkraft zu hinterfragen.

Nordukraine, 26. April 1986

Nach einem fehlgeschlagenen Turbinentest, hervorgerufen durch Mängel im Reaktordesign, Bedienungsfehler und einer unzureichenden Sicherheitskultur, geschahen mehrere Explosionen im Reaktorblock vier des Atomkraftwerks Tschernobyl. Bald wurde deutlich, dass der Reaktor vollständig zerstört worden war. Giftige radioaktive Stoffe wurden in die Atmosphäre abgegeben und verteilten sich durch Wind und Wasser über weite Landstriche Eurasiens. Belarus, die Ukraine und Russland wurden besonders schwer getroffen. Der Reaktorkern lag für einige Tage offen unter freiem Himmel, bis Gegenmaßnahmen ergriffen werden konnten. Obwohl vieles nicht erfolgreich gewesen war, wie beispielsweise das Bedecken des Reaktorkerns mit durch von Hubschraubern abgeworfenem Sand, Bor und Blei, oder das kontinuierliche Fluten des Reaktorraums durch beschädigte Kühlleitungen während der ersten Tage der Katastrophe, konnte die Sowjetunion auch ihre Stärken in der schnellen Massenmobilisierung und Konzentration von Material ausspielen.

Während eine Sperrzone von schlussendlich dreißig Kilometern um den zerstörten Reaktor eingerichtet wurde, zog man eilends hunderttausende Helfer:innen ein. Diese Liquidator:innen versuchten unter Einsatz ihrer Gesundheit, und teilweise auch ihres Lebens, betroffene Gegenden zu dekontaminieren und die weitere Verbreitung von Radionukliden zu verhindern. Ihren Anstrengungen zum Trotz verteilten sich dennoch radioaktive Partikel über Landesgrenzen hinweg und beeinträchtigten die Gesundheit vieler Menschen. Bis heute kann nicht zuverlässig bestimmt werden, wie viele Opfer die Katastrophe tatsächlich forderte.

Eine der größten Leistungen der Liquidator:innen war die Errichtung des ersten Sarkophags, welcher schon im November desselben Jahres fertiggestellt wurde. Dieser schirmte den strahlenden Inhalt des zerstörten Reaktorraums notdürftig mit Betonplatten von der Umwelt ab, wodurch weitere Aufräumarbeiten in der direkten Umgebung ermöglicht werden konnten. Zeitgleich wurden insgesamt 115.000 Menschen aus den umliegenden Ortschaften evakuiert und umgesiedelt. Neben der nächstgelegenen Stadt Pripjat wurde auch die Kleinstadt Tschernobyl selbst, sowie 485 weitere Dörfer verlassen.

Anfangs war die sowjetische Informationspolitik unzureichend, sodass den Evakuierten weder genug Zeit blieb ihre Abwesenheit vorzubereiten, noch war das notwendige Wissen vorhanden, um sich und ihre Familien vor dem Fallout zu schützen. Obwohl den Bewohner:innen anfangs in Aussicht gestellt wurde, bald heimkehren zu können, blieben ihre Siedlungen gesperrt.

Die drei verbliebenen Reaktorblöcke nahmen schnell ihre Arbeit wieder auf. Man schaltete sie erst von 1991 bis 2000 sukzessive ab. Parallel wurde vor Ort weiter an der Dekommissionierung gearbeitet. Ein Meilenstein war dabei die Fertigstellung des zweiten Sarkophags. Da der erste mit der Zeit bedeutende Mängel aufwies, wurde ein zweiter, viel größerer Schutz mit einer Lebensdauer von 100 Jahren über den ersten Sarkophag gefahren. Im Juni 2019 war er vollständig funktionstüchtig.

Das Trauma überwinden

Die Katastrophe in Tschernobyl hat die sowjetische Atomindustrie in ihrer Expansion nicht gänzlich aufgehalten. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass das Wachstum entschieden verlangsamt wurde. Beispielsweise begann man in Kursk noch am 01. August 1986, also ungefähr drei Monate nach dem Unglück, mit der Errichtung eines neuen baugleichen Reaktors. Später wurde in Smolensk im Jahr 1990 ein weiterer in Betrieb genommen. Dieser wird voraussichtlich als letzter vom Typ Tschernobyl erst 2034 abgeschaltet werden. Zwar wurden als direkte Konsequenz aus dem Unglück baugleiche Reaktoren nachgebessert und Sicherheitsroutinen aktualisiert. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob die Sicherheit letztendlich gewährleistet werden kann.

In Zukunft wird versucht werden, das Atomkraftwerk (AKW) Tschernobyl und das umliegende Sperrgebiet der gesellschaftlichen Nutzung wieder zuzuführen. Die Technikhistorikerin Anna Storm hat darauf hingewiesen, dass solche Katastrophen postindustrielle Landschaftsnarben ("post-industrial landscape scars"), hinterlassen. Es sei an der jeweiligen Gesellschaft diskursiv zu entwickeln, wie mit ihnen umgegangen wird. Das Gelände, insbesondere als kontaminierter Ort, kann dabei als Andenken bewahrt, als Aussöhnungsort kuriert und als mögliche Stätte eines Neuanfangs gedacht werden.

So wurde in der Zone ein neues relativ kleines Solarkraftwerk aufgebaut, welches die alte Infrastruktur wiederbelebt. Neben dem bereits etablierten Tourismus wurde vorgeschlagen, vorhandene Einrichtungen für die Lagerung benutzter Brennelemente aus anderen AKWs zu nutzen. Somit wird versucht, um bei Storms theoretischem Zugang zu bleiben, Tschernobyl als Narbe neu zu interpretieren und in etwas Nützliches umzuwandeln.

Pfadabhängigkeit und neuer Aufschwung

Nach 1991 war die ehemals sowjetische Atomindustrie schwer getroffen, da die vorherigen Unionsrepubliken unterschiedliche politische Wege einschlugen. Während Russland versuchte, die erarbeitete Infrastruktur zu erhalten, wandten sich andere Staaten schnell von allem Sowjetischen ab.

Russland, als Haupterbe der Sowjetunion, befand sich während der 1990er und der frühen 2000er Jahre in einer tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationskrise. Erst nach dieser Krise konnten die alten sowjetischen Entwicklungspläne ernsthaft wieder aufgenommen und im großen Stil an die neue Realität angepasst werden. Ein Wendepunkt war dabei die Inbetriebnahme des ersten Reaktors im AKW Wolgodonsk im Jahr 2001. Dies sollte eine Trendwende darstellen. Von nun an steigerte sich erneut im bedeutenden Maße sowohl die Anzahl wieder aufgenommener alter sowie neu angelegter Atomenergieprojekte. Zudem wurde begonnen, ältere AKWs am selben Standort durch neue Anlagen zu ersetzen. Russland benutzt dabei nun eigene Weiterentwicklungen früherer sowjetischer Reaktoren.

Nukleare Renaissance

Im April 2021 waren 444 zivile Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 394 Gigawatt elektrisch (GWe) am Netz. 54 weitere waren im Bau. Dabei schlägt sich das sowjetische Erbe in Osteuropa mit 74 aktiven Reaktoren und einer Gesamtkapazität von 54,8 GWe nieder. Dies entspricht einem weltweiten Anteil von ungefähr 16,7 % bei der Anzahl der Reaktoren und 13,9 % bei der Kapazität. Gleichzeitig kommen auf Nordamerika und Westeuropa 219 Reaktoren mit einer Gesamtkapazität von 214,7 GWe.

Auch wenn bei dieser Statistik deutlich wird, dass das Gros weltweiter Atomstromproduktion nicht in Osteuropa stattfindet, ist es so, dass der Neubau von Kernkraftanlagen in Westeuropa und Nordamerika stockt und deren Gesamtzahl sinkt. Im Kontrast dazu steht Russland mit dem Staatsunternehmen Rosatom an der Spitze von dem, was als nukleare Renaissance in Osteuropa beschrieben werden kann. Rosatom verfolgt dabei eine Doppelstrategie.

Erstens werden eigene Atomanlagen modernisiert und Schlüsseltechnologien weiterentwickelt. Dabei wird auch ein Schwerpunkt auf die Demonstration neuer Innovationen gelegt, um diese international zu vermarkten. Das schwimmende AKW "Akademik Lomonossow", welches von Sankt-Petersburg nach Pewek im Fernen Osten gebracht wurde, um das ehemalige Kernkraftwerk Bilibino zu ersetzen, zeigte der ganzen Welt, dass kleinere modulare Reaktoren auch als mobile Variante benutzt werden können. Der Einsatz in der Arktis spielte dabei eine besondere Rolle, sollte er doch demonstrieren, dass mit einem solchen Modell die Exploration der nun durch den Klimawandel wirtschaftlich gewordenen arktischen Bodenschätze flexibel möglich gemacht werden könnte. Mögliche Umweltschäden bleiben bei einer solchen Rechnung unbeachtet.

Das AKW Bilibino ist ein gutes Beispiel für das, was Daniel Headrick als Werkzeuge eines Imperiums ("tools of empire") definiert hat. Das Kernkraftwerk wurde mit vier kleinen stationären Reaktoren á 12 Megawatt elektrisch (MWe) zur Elektrizitäts- und Wärmegewinnung gebaut, die die modulare Entwicklung auf der "Akademik Lomonossow" vorwegnahmen. Dieses Kraftwerk wurde im Permafrostgebiet gebaut und war damit das erste AKW, welches diesen klimatischen Bedingungen trotzte. Hierbei ging es darum, Gold und andere Bodenschätze zu fördern. Dadurch wurde das Gebiet für die Erschließung durch Europäer geöffnet, während es eigentlich traditionell von den Urvölkern der Tschuktschen und Ewenen genutzt wurde. Die industrielle Erschließung veränderte die Umwelt und führte auch zu ihrer Schädigung.

Zweitens versucht Rosatom seine neuen Reaktoren international zu verkaufen. Dabei verzeichnet der Staatskonzern einige Erfolge, wie beispielsweise in Finnland, der Türkei und Belarus. Es mag paradox erscheinen, dass ein Land, welches durch Tschernobyl so stark betroffen war und infolgedessen sowjetische Pläne für ein AKW in Minsk vehement bekämpfte, sich nach ungefähr drei Jahrzehnten selbst für die Atomkraft entscheidet. Auch wenn hier natürlich politische Ambitionen Putins und Lukaschenkas eine entscheidende Rolle gespielt haben, kann in diesem Vorgang der Versuch gesehen werden, Tschernobyl hinter sich zu lassen. Bloß, anstatt diese Narbe als Anstoß für ein Umdenken zu deuten, entschloss sich die politische Führung das Gleiche im nationalen Rahmen erneut zu versuchen.

Eine Industrie im Wandel

Russlands Atomindustrie befindet sich nach einer Phase der Stabilisierung in einer Situation der Neuorientierung. Hierbei ist erstaunlich, dass obwohl immer noch neun Reaktoren vom Typ Tschernobyl in den AKWs Leningrad, Kursk und Smolensk regulär in Betrieb sind, Tschernobyl zumindest in offiziellen Verlautbarungen seitens der Industrie kaum Erwähnung findet. Anstatt diesen fundamentalen Teil der eigenen Geschichte anzunehmen und mit in künftige Planungen und in die Kommunikation mit der interessierten Öffentlichkeit aufzunehmen, um auch kritische Stimmen und Ängste ernstzunehmen, wird das Problem größtenteils ignoriert. Das Unglück von Fukushima-Daiichi vor zehn Jahren hat nochmals bewiesen, dass schwerwiegende Probleme in Kernkraftwerken stattfinden können – ungeachtet der soziopolitischen Verhältnisse vor Ort. Diese Möglichkeit muss ernstgenommen werden und in die bestehenden Kosten-Sicherheitsabwägungen miteinbezogen werden. Das sollte ein Teil der Anstrengungen Rosatoms sein, die Katastrophe von Tschernobyl zu überwinden.

Kleine Modularreaktoren und das Endlagerproblem

Während das Kerngeschäft die konventionellen Reaktoren der Entwicklungslinie der Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER) bleiben werden, wird Rosatom es heute versuchen müssen, sich an die angepasste Weltlage nach Tschernobyl und Fukushima-Daiichi anzupassen und mit alternativen Reaktorkonzepten die Nachfrage nach Sicherheit und Flexibilität zu befriedigen.

Der Vorstoß mit dem schwimmenden AKW "Akademik Lomonossov" muss in diesem Sinne gedeutet werden. Es ist kein Zufall, dass obwohl es bereits Pläne für ein solches Kernkraftwerk in der Sowjetunion gegeben hatte, sie erst 2020 in Russland realisiert wurden. Russlands Wirtschaft basiert zum Großteil auf der Ausbeutung fossiler Energieträger. Das zurückgehende Eis in der Arktis ermöglicht es hier, neue Vorkommen zu erschließen. Allerdings liegen diese vielfach in schwer zugänglichem Gebiet mit harschen klimatischen Bedingungen. Die Idee, mit kleinen mobilen Modularreaktoren genügend Elektrizität und Wärme für genau solche Unternehmungen zu produzieren, stammt ebenfalls aus der Sowjetunion. Aber erst heute scheint sie aufgrund des Klimawandels und der geänderten wirtschaftlichen und geopolitischen Lage attraktiv zu werden.

Die zunehmende Skepsis gegenüber überdimensionierten Anlagen führt aus zwei Gründen dazu, weshalb kleine Modularreaktoren eine bedeutende Rolle spielen werden. Erstens bedürfen sie viel weniger langfristiger Investitionen und zweitens sind sie flexibler im Einsatz. Da durch den Klimawandel die Wetterlage häufiger von Extremen beherrscht werden wird, ist es wahrscheinlich, dass konventionelle großangelegte AKWs Probleme mit einer ausreichenden Kühlwasserversorgung bekommen werden. Nur eine ununterbrochene Wasserversorgung garantiert aber den sicheren Betrieb einer solchen Anlage. Die letzten Hitzesommer zeigten bereits in Frankreich, dass Wassermangel auftreten kann. Hier offenbart sich eine wesentliche Stärke von modularen Reaktoren, können sie doch flexibel platziert und auch wieder abgebaut werden. Zusätzlich bedeuten kleinere Reaktoren auch potentiell weniger Gefahr beim Eintreten eines schwerwiegenden Störfalls.

Außerdem gibt es in Russland noch kein Endlager für Atommüll. Vielmehr wurde dieser in der Vergangenheit äußerst nachlässig gelagert. Kasperski und Stsiapanau konnten zeigen, dass die Verhandlungsprozesse innerhalb Russlands oftmals undemokratisch ablaufen. Dabei liegt es in Russlands eigenem Interesse, eine vernünftige Lösung zu finden, um die Attraktivität ihrer Exportreaktoren aufrechtzuerhalten. Denn diese werden oftmals in Form eines Sorglospakets verkauft. Russland kümmert sich um die Herstellung und Lieferung der Brennelemente, baut die Anlage im Ausland und verpflichtet sich genutzten Kernbrennstoff wieder anzunehmen. Dabei wird der Zielstaat vor einem großen Teil des Atommüllproblems bewahrt. Doch auch Russ:innen haben das Recht auf eine intakte Umwelt und ein gesundes Leben. In diesem Sinne sollte es eine demokratische und effektive Endlagersuche geben.

Ausblick

Während die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie noch abzuwarten bleiben, ist es klar, dass der Bau großer Reaktoren der WWER-Entwicklungslinie schon alleine durch die anstehende Erneuerung der russländischen Reaktorflotte weitergehen wird. Die Frage ist, inwieweit es Rosatom gelingen wird, Käufer in anderen Ländern zu finden. Es wird ausschlaggebend sein, inwiefern Sicherheitsbedenken ausgeräumt werden können. Das Angebot von kleineren modularen Modellen wird die Produktpalette ergänzen, aber auf absehbare Zeit nicht das Kerngeschäft ersetzen können. Dabei kommt es Rosatom zugute, dass es vom Staat getragen und auch als politisches Instrument eingesetzt wird.

Rosatom wird auf dem globalen Markt ein bedeutender Akteur bleiben und seine Position aufbauend auf dem sowjetischen Erbe festigen. Es bleibt zu wünschen, dass es sich mit der Katastrophe von Tschernobyl in dem Sinne beschäftigt, dass sie als Teil der Geschichte und als Mahnmal sowjetisch-russländischer Kernkraft angenommen und diskutiert wird. Unfälle werden unweigerlich weiterhin in einem solch komplexen technologischen System passieren. Vielmehr gilt es zu verhindern, dass sich solche vom Ausmaß Tschernobyls und aktuell Fukushima-Daiichis nicht nochmal wiederholen. Offenheit, Transparenz und freie Diskussion könnten helfen, eine verbesserte Sicherheitskultur in der Atomindustrie herzustellen, um so vermeidbare Schäden für Mensch und Umwelt auszuschließen. Tschernobyl war vermeidbar und muss als Beispiel dafür herhalten, was passieren kann, wenn kurzfristige monetäre Interessen über der Sicherheit stehen. Nur wenn es gelingt, die Wunde von Tschernobyl gesellschaftlich durch eine verbesserte Sicherheits- und Diskussionskultur heilen zu lassen, kann der Ort vielleicht eine Zukunft haben.

Bibliographie

  • Arndt, Melanie: Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen 2019.

  • Brown, Kate: Manual for Survival. A Chernobyl Guide to the Future, New York/ London 2019.

  • Headrick, Daniel R.: Technology and Imperialism – The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, New York/ Oxford 1981.

  • Högselius, Per: The Decay of Communism. Managing Spent Nuclear Fuel in the Soviet Union, 1937–1991, in: Risk, Hazards & Crisis in Public Policy, 2010, Vol. 1, 4, Artikel 4.

  • Ialenti, Vincent: Deep Time Reckoning. How Future Thinking Can Help Earth Now, Cambridge (MA)/ London 2020.

  • Kasperski, Tatiana: From Legacy to Heritage. The Changing Political and Symbolic Status of Military Nuclear Waste in Russia, in: Cahiers du Monde Russe, 60/2-3 Avril-septembre 2018, S. 1–22.

  • Kasperski, Tatiana: Nuclear Power in Ukraine. Crisis or Path to Energy Independence?, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Vol.71 (4) 2015, S. 43–50.

  • Kasperski, Tatiana und Stsiapanau, Andrei: Building trust in nuclear energy in a non-democratic context: the public, industry and nuclear waste in contemporary Russia, in: Journal of Risk Research, eingereicht 2020.

  • Perrow, Charles: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, Princeton 1999.

  • Schmid, Sonja D.: Producing Power. The Pre-Chernobyl History of the Soviet Nuclear Industry, Cambridge (MA)/ London 2015.

  • Storm, Anna: Post-Industrial Landscape Scars, New York 2014.

Fussnoten

Achim Klüppelberg arbeitet als Doktorand am KTH Royal Institute of Technology in Stockholm zur sowjetischen Geschichte der Atomkraft.