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Kommentar: Geopolitik, Waffen, Erdöl: Was Russlands Präsenz in Venezuela bedingt | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Geopolitik, Waffen, Erdöl: Was Russlands Präsenz in Venezuela bedingt

Alexandra Sitenko

/ 8 Minuten zu lesen

Auch in Venezuela sind Sicherheitsdienste im russischen Auftrag unterwegs. Warum?

Die internationale Nachrichtenagentur Reuters berichtete von russischen Söldnern, die zu Beginn der Proteste nach Venezuela flogen, um für die Sicherheit des Präsidenten Maduro zu sorgen. (© picture-alliance/AP)

Im Januar 2019 machte Venezuela – ein Land an der Nordküste Südamerikas – die internationale Gemeinschaft auf sich aufmerksam. Dort überschlugen sich die innenpolitischen Ereignisse. Der Jahresbeginn 2019 markierte in dem südamerikanischen Land eine neue Phase und zugleich den Höhepunkt einer seit Jahren währenden politischen Krise: Kaum war der amtierende Präsident, Nicolás Maduro, nach seiner umstrittenen Wiederwahl im Mai 2018 am 10. Januar 2019 vereidigt worden, erklärte sich der Präsident der venezolanischen Nationalversammlung und Vertreter des oppositionellen politischen Blocks, Juan Guaidó, zum Übergangspräsidenten des Landes. Hunderttausende Menschen gingen in der Hauptstadt Caracas und in anderen Städten auf die Straße, um Guaidó zu unterstützen und gegen Maduro zu protestieren. Es war aber nicht allein die Zuspitzung der internen politischen Krise, die das Karibikland in die internationalen Schlagzeilen brachte. Entscheidend waren die unterschiedlichen Reaktionen anderer Staaten darauf, allen voran der USA und Russlands. Während Washington Juán Guaidó sofort als Interimspräsidenten anerkannte, bekräftigte Moskau seine Unterstützung für die "legitime Regierung" von Nicolás Maduro, prangerte die Aktionen der venezolanischen Opposition und der USA an und warnte vor einer "destruktiven ausländischen Einmischung" (Externer Link: https://bit.ly/2NQ3qbj).

Ende April 2019 beschuldigte Washington Moskau, den angeblich bereits geplanten Abgang Maduros vereitelt zu haben. Dieser soll bereit gewesen sein, ins Exil nach Kuba zu gehen. Moskau aber habe ihn dazu überredet, nicht zurückzutreten (Externer Link: https://bit.ly/2MIoVKk). Die internationale Nachrichtenagentur Reuter berichtete auch von russischen Söldnern, die zu Beginn der Proteste nach Venezuela flogen, um für die Sicherheit des Präsidenten Maduro zu sorgen. Laut der Nachrichtenagentur bestand eine Verbindung zu dem privaten Militärunternehmen Wagner, deren Mitglieder russische Streitkräfte in Syrien und in der Ukraine unterstützt haben sollen (Externer Link: https://reut.rs/3pGrATO). Diese Information wurde allerdings nicht bestätigt. Aus einer Recherche der Internetzeitung Meduza , die einige Monate später veröffentlicht wurde, geht jedoch hervor, dass Russland Maduro zwar unterstützt hat, die Wagner-Söldner aber nicht beteiligt gewesen waren. Die Präsenz russischer Militärs in Venezuela bestreitet Meduza jedoch nicht – spätestens seit 2017 sollen russische Militärspezialisten begonnen haben, regelmäßig nach Venezuela zu reisen, von denen manche als "Privatpersonen" über Veteranenorganisationen gefunden und engagiert wurden (Externer Link: https://meduza.io/feature/2019/07/29/ochen-strannoe-chuvstvo-viny).

Ob mit oder ohne Unterstützung russischer Militärs: Nicolás Maduro hält sich bis heute an der Macht, hauptsächlich weil die venezolanischen Armee und Sicherheitskräfte ihm bisher treu geblieben sind.

Die geschilderten Ereignisse veranschaulichen, dass die russische Regierung Venezuela eine große Bedeutung beimisst und Russland seine Präsenz in dem südamerikanischen Land bereits erheblich ausbauen konnte und diese aufrechterhalten will. Denn Russland profitiert in dreifacher Hinsicht von seiner privilegierten Stellung: geopolitisch sowie über Rüstungsexporte und Beteiligungen im Energiesektor.

Die Präsenz in Venezuela fügt sich gut in die geopolitische Strategie des Kremls ein. Russland soll als eine Großmacht positioniert werden, deren Interessen respektiert werden müssen und die in der Lage ist, den Vereinigten Staaten überall dort Paroli zu bieten, wo es seine Interessen missachtet sieht, wenn sich der Aufwand für Russland dabei in vertretbaren Grenzen hält. Die Annäherung zwischen Moskau und Caracas begann mit dem Machtantritt von Hugo Chávez und Wladimir Putin auf Initiative des venezolanischen Präsidenten. Bis 2004 verliefen die Beziehungen allerdings weniger dynamisch. Erst in der zweiten Amtszeit Putins (2004–2008) gab es eine qualitative Veränderung, als die politische Konfrontation mit den USA und die Verschlechterung der Beziehungen beider Länder zum Westen stärker wurden. Für Moskau eröffnete sich so eine hervorragende Gelegenheit Russlands Status als Weltmacht auf der internationalen Bühne zu fördern, in der westlichen Hemisphäre Fuß zu fassen und die USA in ihrem traditionellen Einflussbereich politisch und ökonomisch zurückzudrängen.

Eroberungen auf dem geopolitischen Terrain vollzogen sich hauptsächlich über den Energiesektor und die Rüstungsindustrie. Beide Sektoren existieren in Russland in einem oligopolistischen Kontext: sie werden entweder direkt vom Kreml oder von ihm nahestehenden Akteuren kontrolliert.

Noch in den ersten Jahren der Präsidentschaft von Hugo Chávez kaufte Venezuela vor allem aus Europa und den USA Waffen ein. Doch als sich die Beziehungen nach dem Staatsstreich gegen Chávez im Jahr 2002, der auch von den USA unterstützt wurde, rapide verschlechterten, wandte sich der damalige venezolanische Präsident aus Angst vor einer US-Intervention an Russland, China und Kuba, um sie als militärische Verbündete zu gewinnen.

In den letzten zwei Jahrzehnten ist Caracas zum größten Käufer russischer Militärausrüstung in der westlichen Hemisphäre geworden. Nach Angaben russischer Medien beläuft sich das Gesamtvolumen der venezolanischen Einkäufe im Zeitraum 2005–2017 auf mehr als 11 Milliarden US-Dollar (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/3861747). Es wurden 36 Kampfflugzeuge des Typs Su-30MK, etwa 50 Militärtransporthubschrauber der Typen Mi-35M, Mi-17 und Mi-26, mehr als 120 Panzer, etwa 240 gepanzerte Kampffahrzeuge, mehrere Dutzend Grad- und Smerch-Raketenabwehrsysteme und eine große Anzahl von Igla-S-Raketen an Venezuela geliefert. Die Waffenlieferungen bezahlt Venezuela mit russischen Krediten. Den ersten Kredit in Höhe von 2,2 Milliarden US-Dollar erhielt es 2010, ein weiterer Kredit in Höhe von vier Milliarden US-Dollar folgte 2011 (Externer Link: https://www.ng.ru/economics/2011-10-10/1_chaves.html). In den Waffengeschäften mit Venezuela geht es für Russland also nicht darum, einen sofortigen ökonomischen Gewinn zu erzielen. Seine Strategie zielt mehr darauf ab, Caracas längerfristig von russischen Waffen, deren Ersatzteilen und dafür notwendigen Serviceleitungen abhängig zu machen und so seine Präsenz in Venezuela zu festigen. 2018 vereinbarten beide Seiten Verträge über Instandhaltung, Unterstützung und Reparatur der venezolanischen Waffensysteme durch russische Militärspezialisten (Externer Link: https://lmy.de/iPx89). Seit 2006 geplant, aber bis heute nicht vollendet, ist außerdem die Errichtung einer Fabrik zur Herstellung von AK-103-Sturmgewehren in Venezuela. Laut neuesten Meldungen soll der Bau 2021 abgeschlossen werden (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/4074185). Dies wäre nicht nur ein weiterer geopolitischer Erfolg für die russische Regierung, sondern insbesondere auch ein Gewinn für den ehemaligen stellvertretenden Verkehrsminister Russlands Alan Lushnikow, der letztes Jahr 75 Prozent der Aktien des Konzerns Kalaschnikow erworben hat (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/4559696). Das Staatsunternehmen Rostec besitzt die restlichen 25 Prozent plus 1 Aktie des Konzerns. Rostec befindet sich auch im Besitz des russischen staatlichen Monopolexporteurs für Rüstungsgüter Rosoboronexport (Externer Link: https://sobesednik.ru/politika/20191014-dohodchivoe-oruzhie). Der Chef von Rostec Sergej Tschemesow wird als einer der einflussreichsten Personen im russischen Establishment bezeichnet (Externer Link: https://meduza.io/feature/2016/12/22/effektivnyy-staryy-tovarisch). Sein Einfluss auf das politische Geschehen im Land wird mit Igor Setschin, dem mächtigen Chef von Rosneft, verglichen. Beide gelten als enge Vertraute von Präsident Putin.

Setschin ist seit 1994 ein Berater Putins und Mitglied der sog. Silowiki-Fraktion im Kreml (Externer Link: https://lmy.de/tIIRd). Er ist informell für Russlands Energiesektor verantwortlich. Die Intensivierung der Energiekooperation mit Venezuela geht insbesondere auf seine Initiative zurück.

Die Vorreiterrolle bei der Energiezusammenarbeit zwischen Russland und Venezuela gebührt jedoch dem privaten Ölkonzern Lukoil, der bereits 2001 mit Venezuela über ein gemeinsames Projekt verhandelte und seit 2005 dort tätig ist. Die Zuspitzung der Feindschaft zwischen Russland und den USA im Zusammenhang mit dem Georgienkrieg und seinen Folgen in den Jahren 2008–2009 beschleunigte die politische, wirtschaftliche und energietechnische Kooperation mit Venezuela. Während des Russlandbesuchs von Hugo Chávez 2008 wurde die Gründung eines Erdölkonsortiums angekündigt: Lukoil, Rosneft, Gazprom, TNK-BP und Surgutneftegaz beteiligten sich von Seiten Russlands und die nationale Öl- und Gasgesellschaft Petróleos de Venezuela SA (PDVSA) auf venezolanischer Seite. Rosneft, das nach der Übernahme von Yukos, eines Ölimperiums des in Ungnade gefallenen und zu Haft verurteilten Oligarchen Chodorkowskij, zum größten russischen Ölkonzern wurde, führte das Konsortium an. 2012 erwarb Rosneft die Anteile von TNK-BP und Surgutneftegas und kaufte 2014 weitere, von Lukoil gehaltene 20 Prozent Anteile (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/2056979). Damit wurde Rosneft mit 80 Prozent zum größten russischen Aktionär des Konsortiums.

Bis vor Kurzem war Rosneft an fünf Projekten der PDVSA beteiligt und besaß zwischen 20 und 40 Prozent der Aktien. Im Mai 2017 gründete Rosneft ein weiteres Joint Venture mit PDVSA, an dem es sogar einen Anteil von 51 Prozent erhielt. Der russische Staat konnte sich somit nach und nach erhebliche Kontrolle über die weltweit größten nachgewiesenen Erdölreserven sichern. Allein dieser Umstand liefert eine plausible Erklärung dafür, warum die russische Regierung den Fall von Nicolás Maduro um jeden Preis verhindern wollte: Moskau geht es um die Absicherung seiner Großprojekte im Energiebereich. Es sollen demnach russische Staatsunternehmen gewesen sein, die paramilitärische Einheiten nach Venezuela geholt haben, um die Öleinrichtungen im Land zu schützen. Von insgesamt 60 Söldnern ist in diesem Zusammenhang die Rede (Externer Link: https://meduza.io/feature/2019/07/29/ochen-strannoe-chuvstvo-viny).

Dazu kommt, dass Russland einer der größten Gläubiger der venezolanischen Regierung ist. Die russische Regierung und Rosneft sollen seit 2006 mindestens 17 Milliarden US-Dollar an Krediten an Caracas vergeben haben, einschließlich der vier Milliarden US-Dollar für den Kauf russischer Waffen, die 2011 gewährt wurden (Externer Link: https://www.rbc.ru/economics/24/01/2019/5c49bbac9a79475ffe868c49). Diesen Kredit hat Russland im November 2017 zum dritten Mal restrukturiert: Die Gesamtschulden Venezuelas wurden auf rund drei Milliarden US-Dollar festgesetzt, das endgültige Rückzahlungsdatum wurde auf das Jahr 2027 verschoben. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage ist nicht auszuschließen, dass Venezuela um eine erneute Umschuldung bitten wird. Im Austausch für einen Schuldenerlass könnte Russland eine noch höhere Beteiligung an den Ölförderprojekten von Maduros Regierung verlangen. Sollte jedoch die venezolanische Opposition an die Macht kommen, wird diese aller Wahrscheinlichkeit nach von einer derartigen Abmachung mit Russland Abstand nehmen.

Die rechtzeitige Rückzahlung von Krediten scheint für Russland aber keine Priorität zu haben. Moskaus Interesse konzentriert sich offensichtlich auf die Zusammenarbeit im Energiesektor. Die starke Position in der Ölförderindustrie des südamerikanischen Landes will Russland in jedem Fall behalten, auch unter der Sanktionslast der USA und trotz eines erheblichen Rückgangs der Ölförderung in Venezuela. Denn diese sichert Russlands geopolitische Präsenz in der Region und den politischen Einfluss auf Caracas. Unter dem zunehmenden Druck der US-Sanktionen hat Rosneft im vergangenen Jahr angekündigt, aus allen Projekten auszusteigen und sich aller venezolanischen Vermögenswerte zu entledigen. Stattdessen erhält eine Firma, deren Name unbekannt ist, die sich aber zu 100 Prozent im Besitz der russischen Regierung befindet, alle Vermögenswerte von Rosneft in Venezuela, darunter Anteile an den fünf Förderprojekten, Ölservicegesellschaften und Handelsgeschäften.

Für den Moment hat Russland somit einen Weg gefunden, der es ermöglicht, sowohl im strategisch wichtigen Venezuela zu verbleiben als auch die Rosneft-Aktionäre zu schützen. Zugleich hat Russland dazu beigetragen, die derzeitige Regierung in Caracas noch für einige Zeit an der Macht zu halten.

Lesetipps

  • Sitenko, Alexandra (2013): Die Transatlantischen Beziehungen zwischen Venezuela und Russland. Außenpolitische Vorstellungen und Interessen: Wissenschaftlicher Verlag Berlin.

  • Sitenko, Alexandra (2021): Strategische Partnerschaften in der Außenpolitik. Die Beziehungen zwischen Russland und Ländern Lateinamerikas im 21. Jahrhundert, Opladen/Berlin/Toronto: Budrich Academic Press.

  • Uzcátegui, Alejandro Cardozo und Mijares, Víctor M.(2020): The versatile amalgam: Interests and corruption in Russia-Venezuela relations, in: European Review of Latin American and Caribbean Studies, Nr. 109 (2020): Januar–Juni, S. 181–202, Externer Link: https://www.erlacs.org/articles/abstract/10.32992/erlacs.10557/.

Fussnoten

Dr. Alexandra Sitenko ist außenpolitische Analystin. Ihre Forschungsgebiete sind Geopolitik, Außenpolitik, strategische Partnerschaften und interregionale Beziehungen.