Die Liberalisierung des Visaverfahrens zwischen der EU und Russland stand lange ganz oben auf der Agenda der bilateralen Beziehungen. Auch wenn derzeit durch die COVID-Pandemie Reisefreiheit nicht weit vorne auf der Prioritätenliste steht, kann man davon ausgehen, dass nach der Pandemie dieses Thema wieder an Bedeutung für die bilateralen Beziehungen gewinnen wird. Denn beide Seiten strebten lange eine Vereinfachung oder gar Abschaffung der langwierigen und oft kostspieligen Verfahren an. Doch seit der Krim-Annexion und der russischen Einmischung in der Ostukraine liegt der Dialog über die Visaliberalisierung auf Eis. Eine konsequente Entscheidung, denn die EU kann nicht Sanktionen gegen Russland verhängen und gleichzeitig über Visaliberalisierung verhandeln. Solange Russland großzügig Pässe in Regionen wie dem Donbass, Südossetien und Abchasien verteilt, bleibt die Visavergabe an russische Staatsbürger ein Politikum. Auch die Sicherheitsrisiken, die mit Einreisen aus Russland einhergehen, sollten nicht unterschätzt werden. Schließlich kam der Angeklagte im Tiergartenmord mit einem Schengenvisum nach Deutschland.
Und doch ist Russland ein zu wichtiger Nachbar, als dass wir es uns leisten könnten, die Beziehungen zu ihm langfristig auf Eis zu legen. Wir müssen uns daher die Frage stellen, wie wir die EU-Russland Beziehungen fortan gestalten wollen. Derzeit beruht die Russlandpolitik der EU auf zwei Säulen. Die eine sind Sanktionen, die in Folge der Krim-Annexion und der russischen Einmischung in der Ukraine beschlossen wurden. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Russland und der Schaffung einer Rechtsgrundlage für personenbezogene Sanktionen in der EU, kann man in Zukunft mit der Ausweitung der Sanktionslisten rechnen.
Die zweite Säule bilden die im Jahr 2016 ausformulierten Mogherini-Prinzipien. Diese sehen vor allem Maßnahmen vor, die russischer Aggression entgegengesetzt werden sollen und beinhalten die Forderung nach Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, den Ausbau der Beziehungen zu den Staaten der Östlichen Partnerschaft und Zentralasiens und die Stärkung der Resilienz innerhalb der EU gegenüber Bedrohungen aus Russland. Gleichzeitig soll die EU mit Russland in ausgewählten Bereichen von gemeinsamem Interesse kooperieren und einen Ausbau zwischenmenschlicher Kontakte und Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft anstreben.
Maßnahmen im Bereich Visaliberalisierung würden eben jene Hürden abbauen, die derzeit direkten Kontakten zwischen jungen EuropäerInnen und RussInnen im Wege stehen. So schwerwiegend wie die Argumente gegen eine Visaliberalisierung mit Russland sein mögen, bin ich der festen Überzeugung, dass es einer Visaliberalisierung für junge Menschen bedarf. Entscheidend ist der politische Wille, der russischen Bevölkerung – wohlgemerkt nicht dem Staat – momentan entgegen zu kommen. Dabei wäre solch ein Schritt gerade jetzt wichtiger denn je. Viele junge Russen sind sehr weltoffen, informieren sich über kritische Online-Medien und sind dem Westen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt. Doch sie verreisen lieber in die Türkei oder nach Vietnam. Denn während sich die EU-Russland Beziehungen verschlechterten und die Visaliberalisierung von der Agenda genommen wurde, fand Russland andere Partner, die sich für freien Personenverkehr bereit zeigten. Russland hat sein Visaverfahren mit vielen Ländern in Asien, Lateinamerika sowie mit Israel liberalisiert oder komplett abgeschafft. Ein Schengen-Visum zu beantragen ist hingegen eine recht aufwändige Angelegenheit, sodass in vielen Fällen Agenturen zwischengeschaltet werden. Das lässt die Kosten eines Visums in die Höhe schießen und schaffte gerade für junge Menschen eine enorm hohe Hürde, nach Europa zu reisen.
Dass Reisen und Kontakte im Ausland Gesellschaften einander näherbringen, hat man während der Fußball-WM 2018 gesehen, als Fans ohne Visum nach Russland einreisen durften. Die russische Gesellschaft zeigte sich damals von ihrer weltoffenen und toleranten Seite. Die Möglichkeit visafrei zu reisen würde jungen RussInnen die Gelegenheit bieten, sich ein eigenes und ungefärbtes Bild von Europa zu machen. Auch die EU würde von der Visaliberalisierung für junge Russen profitieren. Neben den klassischen und unter gut situierten RussInnen ohnehin beliebten Reisezielen wie Paris, Rom oder Wien könnten vor allem günstigere und an Russland näher liegende Touristenstädte wie Breslau, Tallinn oder Budapest von einem Zustrom an russischen Touristen profitieren. Insbesondere Reisen nach Polen und in die baltischen Staaten, die von der russischen Staatspropaganda immer wieder als schlimmste Feinde Russlands inszeniert werden, könnten die Menschen vom Gegenteil überzeugen.
Nicht zuletzt wäre die Visaliberalisierung für junge RussInnen wichtig, um die Zusammenarbeit auf zivilgesellschaftlicher Ebene aufrechtzuerhalten. Vor kurzem wurden in Russland mehrere Gesetze verabschiedet, die es ermöglichen, auch natürliche Personen als "ausländische Agenten" einzustufen und als solche zu verfolgen. Oft reicht es aus, zu Schulungen und Seminaren in die EU eingeladen zu werden, um ins Visier der Sicherheitskräfte zu geraten. Die Zivilgesellschaft wird es unter diesen Umständen immer schwerer haben, sich als solche zu positionieren und die Vorteile offizieller Zusammenarbeit mit westlichen Partnern zu nutzen. Vereinfachte Visaverfahren, bei denen man möglichst wenige offizielle Unterlagen einreichen muss, sind die geringste Art der Unterstützung, die wir jungen AktivistInnen zukommen lassen sollten.
Es gilt zu retten, was zu retten ist. In den vergangenen dreißig Jahren haben wir durch Jugendaustausch, Städtepartnerschaften und viele andere, kleinere Formate starke Bande geknüpft. Auch wenn jegliches Entgegenkommen gegenüber Russland wie die Visaliberalisierung gerade jetzt in den Augen vieler vollkommen falsche Signale senden würde, müssen wir als EU bereit sein, auf die russische Gesellschaft zuzugehen, statt sie für das Handeln ihrer Regierung abzustrafen.
Kommentar: Mit Visafreiheit Brücken in Krisenzeiten schlagen
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Trotz aller Spannungen sollte die EU mit Russland in ausgewählten Bereichen kooperieren, argumentiert die Abgeordnete Renata Alt. Wichtig seien vor allem Visaerleichterungen für junge Menschen.
Renata Alt wurde in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren. Nach dem Studium zur Diplom-Chemieingenieurin war sie im Außenhandel sowie im Prager Außenhandelsministerium tätig, bevor sie als Attaché der Tschechoslowakei nach Deutschland kam. Seit 2017 ist sie Mitglied im Deutschen Bundestag, ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, Berichterstatterin für Mittel- und Osteuropa und den Balkan sowie Obfrau im Unterausschuss Zivile Krisenprävention.
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