Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

dekoder: Tschüss, Russki Mir?! – Russlands neues Konzept der "strategischen Zurückhaltung" im postsowjetischen Raum | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Wirtschaftsmodell und Eliten (25.10.2024) Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen angesichts des Krieges und der Sanktionen Ranking: Russen auf der Forbesliste der Milliardäre weltweit 2024 Analyse: Rätselhafte Todesfälle in der russischen Elite vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

dekoder: Tschüss, Russki Mir?! – Russlands neues Konzept der "strategischen Zurückhaltung" im postsowjetischen Raum

Wladimir Frolow

/ 9 Minuten zu lesen

Im Beitrag von Dekoder analysiert der Experte für russische Außenpolitik, Wladimir Frolow, Russlands Vorgehen im Bergkarabach-Konflikt und in Belarus.

Blick auf das russische Außenministerium im Moskau. Verabschiedet sich Moskau ganz bewusst von der Dominanz im postsowjetischen Raum? (© picture-alliance/dpa, Maksim Blinov)

Einleitung von Dekoder

Ende September ist der Krieg um Bergkarabach zwischen Aserbaidshan und Armenien wieder neu entflammt, zahlreiche Zivilisten und Soldaten sind dabei ums Leben gekommen. Nun kam die überraschende Wende: Beide Seiten einigten sich in der Nacht zum Dienstag unter Vermittlung Russlands auf ein gemeinsames Abkommen.

Darin spiegelt sich die militärische Übermacht Aserbaidshans wider, die sich in den vergangenen Wochen deutlich zeigte: So sieht das Dokument etwa vor, dass Armenien sich teilweise aus Bergkarabach zurückzieht. Russland schickt knapp 2000 Soldaten, um den Frieden zu sichern – für zunächst fünf Jahre. Nachrichten, dass auch Aserbaidshans Verbündeter, die Türkei, Truppen entsende, dementierte der Kreml. Während die Menschen auf Aserbaidshans Straßen einen Sieg feiern, kam es in Armenien zu heftigen Protesten. Armeniens Präsident Nikol Paschinjan bezeichnete das Abkommen als "unaussprechlich schmerzhaft für mich selbst und für unser Volk".

Was die Rolle Russlands, traditionelle Schutzmacht Armeniens, angeht, sind sich Beobachter allerdings uneins: Auch wenn die Türkei an dem Abkommen nicht beteiligt ist – den Einfluss in der Region muss Russland künftig mit Aserbaidshans wichtigstem Verbündeten teilen. Steht Russland mit Armenien also auf der Verliererseite? Der russische Außenpolitikexperte Wladimir Frolow erklärte dem Nachrichtenportal Rambler, der Deal sei gut für Putin – unter der Voraussetzung, dass Russland nicht für Armenien in den Krieg ziehen will. Letzteres versteht Frolow als Ausdruck einer strategischen Wende in der russischen Außenpolitik – die er schon länger beobachtet und Ende Oktober auf Republic am Beispiel von Bergkarabach und Belarus beschrieb: Demnach verabschiedet sich Moskau von der Dominanz im postsowjetischen Raum ganz bewusst – schlicht, weil der Preis für Russland zu hoch ist.

Dominanz im postsowjetischen Raum als Luxus

Ohne viel Aufhebens zu machen, hat Russland seine Politik im postsowjetischen Raum geändert. Eine "Eurasische Union", eine "Zone privilegierter Interessen", der "Russki Mir", die regionale Dominanz, die Verteidigung einer Pufferzone vor den "NATO-Panzern und -Raketen" und die einzigartige Rolle als "Garant für Sicherheit und Souveränität" für die postsowjetischen Staaten gegen äußere Einmischungen – diese großen Träume sind von der aktuellen Agenda des Kreml verschwunden.

Solch grandiose Ideen existieren zwar in den Talkshows der Staatssender, aber diejenigen, die die russische Politik in den Regionen machen, bedienen sich viel realistischerer Narrative. Denn es herrscht die Meinung, dass der Traum von der russischen Dominanz im postsowjetischen Raum zwar eine gute Sache ist, aber der Preis für seine Verwirklichung viel zu hoch; de facto kann er nur in Ausnahmeszenarien realisiert werden – im Falle, dass existenzielle Staatsinteressen bedroht sind. In den meisten Fällen aber, und insbesondere dort, wo es keine gemeinsame Grenze mit Russland gibt, ist die postsowjetische Dominanz eher ein Luxus als ein Vehikel für nationale Entwicklungsziele. Man ist dazu übergegangen, die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen. Moskau "wägt ab, was für uns sinnvoll ist und was nicht", sagt Fjodor Lukjanow. Zu einem großen Teil ist das auf die Analyse der russischen Aktionen in der Ukraine, Georgien und Syrien zurückzuführen.

Der neue russische Ansatz in postsowjetischen Angelegenheiten lässt sich im Wesentlichen auf drei Frames herunterbrechen: Wozu? Was habe ich davon? Wie trete ich möglichst nicht in dumme Scheiße? (In Anlehnung an die außenpolitische Doktrin Barack Obamas "Don‘t do stupid Shit".)

Das Konzept der "strategischen Zurückhaltung" Russlands im postsowjetischen Raum lässt sich an Wladimir Putins letztem Auftritt beim Waldai-Forum ablesen, bei dem der Präsident Ruhe und Gelassenheit demonstrierte, während er akute Krisen im nahen Ausland erörterte.

Die zeitliche Parallele der Unruhen in Belarus und Kirgistan sowie das Wiederaufflammen eines echten Krieges zwischen Armenien und Aserbaidshan um die Region Berg-Karabach sind ein guter Stresstest für die neue russische Strategie, und bisher hält sie ihm stand.

Belarus

In Belarus legt Moskau Selbstbeherrschung an den Tag – bei gleichzeitiger Wahrung des Handlungsspielraums. Noch bis vor kurzem glaubte man, ein drohender Regimewechsel infolge einer Farbrevolution in einem Staat, der durch ein Netz von Bündnisverpflichtungen an die Russische Föderation gebunden ist und Russland physisch von der NATO trennt, würde eine militärische Intervention Moskaus auslösen. Dadurch wären Proteste zu unterdrücken, oder zumindest ein hybrider Krieg möglich, um marionettenartige Pufferstaaten analog der Donezker Volksrepublik und der Volksrepublik Luhansk zu schaffen. Doch eine Wiederholung des ukrainischen Szenarios hat es nicht gegeben.

Moskau hat den Wahlkampf in Belarus aufmerksam verfolgt und wusste sehr gut, womit das alles enden könnte. Die Frage war lediglich, ob Lukaschenko seine Macht unmittelbar unter dem Druck der Straße verlieren würde (was dem Kreml natürlich überhaupt nicht geschmeckt hätte) oder ob es gelingt, "den Prozess zu strukturieren" und Moskau den Weg in die belarussische Politik zu ebnen.

Am Ende entschied man sich für eine zurückhaltende Linie: schickte Lukaschenko wärmsten TV-Support (naja, und noch ein bisschen mehr), signalisierte die Bereitschaft, sich "im Falle von Massenunruhen" einzumischen (ohne darauf die geringste Lust zu haben und völlig im Klaren darüber, dass eine direkte Einmischung einen antirussischen Protest konsolidieren würde), blockierte die Vermittlerrolle des Westens und riet den Demonstranten "zu Lukaschenko zu gehen und ihn nach einer Verfassungsreform zu fragen".

Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden, die in eine Sackgasse geführt und die Kosten in Form von neuen Sanktionen aus dem Westen in die Höhe getrieben hätten. Durch die Absage an eine zu aktive Einmischung in die Krise und an ein direktes gewaltsames Vorgehen in Belarus konnte eine Destabilisierung innerhalb Russlands verhindert werden. Indem Russland westliche Forderungen nach einem "nationalen Dialog" unter OSZE-Vermittlung verhinderte, hat es diese Vermittlerrolle selbst eingenommen. Nicht zuletzt hat die zurückhaltende Reaktion auf die belarussische Krise Moskau einen besonnenen Blick auf das Projekt des Staatenbundes ermöglicht: Ist der wirklich so vorteilhaft für Russland oder birgt er nicht auch ein Risiko für die russische Staatlichkeit? Alles, was einen Staatenbund ausmacht, lässt sich auch innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion verwirklichen.

Selbst der Wert eines Militärbündnisses mit Belarus stellt sich in neuem Licht dar. Die Bedrohung durch die NATO – das sind nicht die polnischen Panzer vor Smolensk, sondern amerikanische luft- und bodengestützte Hyperschallraketen mittlerer Reichweite in Zentraleuropa. Ist es für die Verteidigung Russlands da nicht sicherer, die 100 Milliarden US-Dollar an Öl- und Gassubventionen für Belarus darauf zu verwenden, den ganzen europäischen Teil des Landes mit Iskander-M-Raketen und S-400-Luftabwehrsystemen zu überziehen (und so die eigenen Fabriken mit Aufträgen auszulasten)? Klar ist, dass es in Minsk nach der Krise keine Rückkehr zum Status quo geben wird, und die "neue russische Zurückhaltung" ermöglicht es, in aller Ruhe abzuwägen, wie es nun weitergehen soll.

Bergkarabach

Hier hat Moskau eine Beteiligung auf dieser oder jener Konfliktseite vermieden, auch wenn die von der TV-Propaganda angeheizte Polemik in Russland bereits bedrohliche Ausmaße annimmt.

Moskau gibt zu verstehen, dass der Konflikt um die Region Bergkarabach weder direkten Bezug zu Russland hat noch seine nationalen Interessen berührt. Zwar stellt Putin die aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS resultierenden Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien nicht in Frage, doch in Wirklichkeit überdenkt Moskau den Nutzen eines solchen Bündnisses, dessen Vorteile für Armenien auf der Hand liegen, nicht jedoch für Russland.

Die Beziehungen zu Aserbaidshan haben für Russland einen eigenständigen Wert und werden nicht durch das Prisma der armenischen Interessen betrachtet. Dieser Wert wird dadurch bestimmt, dass die russisch-aserbaidshanische Grenze durch eine äußerst heikle Region verläuft: Dagestan und das Kaspische Meer. Die Ruhe an dieser Grenze und die enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarn, um diese Ruhe zu gewährleisten (damit es nicht wieder so wird wie in den 1990ern und Anfang der 2000er Jahre), sind nicht weniger wichtig als die Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien.

Es ist Moskau ein Dorn im Auge, dass beide Seiten versuchen, Russlands Position zu ihren Gunsten zu manipulieren, und Russland auf diese Weise Probleme bereiten. Zu eindeutig nutzt Aserbaidshan das Thema der russischen Antiterroroperationen in Tschetschenien und Dagestan, um separatistische Tendenzen im eigenen Land abzuwehren. Macht man diese Position zu einem unumstößlichen Prinzip, dann entkräftet man die Argumente Russlands in Bezug auf den Donbass und die Krim und verstärkt im Gegenzug die der Ukraine.

Armenien hat schon unter der damaligen Führung das russische Vorgehen auf der Krim im Jahr 2014 zu sehr als Freibrief für eine schrittweise "Wiedervereinigung" durch eine "Selbstbestimmung des karabachischen Volkes" gewertet. Und auch wenn Sergej Lawrow erklärt, dass gemäß UN-Charta das "Selbstbestimmungsrecht der Völker an zentraler Stelle steht und die territoriale Integrität und Souveränität respektiert werden müssen", ist Moskau lediglich bereit, dieses rechtliche Novum auf die Krim (und Abchasien und Südossetien) anzuwenden, aber nicht auf Bergkarabach (und nicht einmal auf den Donbass).

Zur Türkei

Moskau wird sich wegen des penetranten Eindringens der Türkei in den postsowjetischen Raum und deren Anspruch auf Beteiligung an einer Regulierung in Bergkarabach nicht auf einen bewaffneten Konflikt mit ihr einlassen, trotz der laut werdenden Aufrufe, zu den Waffen zu greifen und "ein neues Chalchin Gol" herbeizuführen. Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung, in der beide Seiten für die jeweils andere lebensnotwendig sind, um entscheidende außenpolitische Ziele durchzusetzen. Für Moskau ist es von zentraler Bedeutung, dass Erdogan seine Linie der werte- und geopolitischen Opposition zum Westen fortsetzt, was den Westen von einer Konfrontation mit Russland ablenkt, zu einem "Hirntod der NATO" führt und die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit Europas mit Moskau im Nahen Osten und dem Mittelmeerraum erhöht.

Es gibt nur zwei Minen, die die russisch-türkischen Beziehungen sprengen könnten: Erstens eine Ausweitung der militärtechnischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und der Ukraine (Produktion von Drohnen, Lieferung von Hochpräzisionswaffen und Lobbyarbeit für einen Beitritt der Ukraine und Georgiens in die NATO).

Und zweitens die aggressive Propagierung eines Panturkismus und des politischen Islam innerhalb Russlands. Die Verstärkung der türkischen Präsenz im Südkaukasus ist eine vollendete Tatsache, und das einzige, was Moskau interessiert, ist, dass Erdogan die roten Linien nicht überschreitet.

Ausformuliert bedeutet die neue außenpolitische Doktrin des Kreml in etwa:

  • nur das absolute Minimum tun, das sich aus Vertragsverpflichtungen ergibt; Ausgaben für das Krisenmanagement minimieren; "brüderliche Hilfe" leisten; nach und nach "die Last der postsowjetischen Führung" reduzieren

  • als Bedingung für russische Hilfe möglichst konkrete Schritte des Empfängers dahingehend vereinbaren, dass er sich und seine Souveränität unter die geopolitischen Ziele Moskaus unterordnet

  • die Bündnisverpflichtungen Russlands einer gründlichen Prüfung unterziehen, anpassen und die Formate der russischen Beteiligung konkretisieren

  • nichts tun, was die innenpolitische Lage in Russland destabilisieren könnte, auch nicht durch eine zu aktive Beteiligung Russlands an den inneren Krisen seiner Nachbarn oder eine unreflektierte Ausweitung bestehender Integrationsbündnisse

  • nicht zulassen, dass die russische Außenpolitik durch "Bruderrepubliken" und ihre "russländischen Diasporen" zugunsten von deren Interessen manipuliert wird, die sich nicht immer mit den russischen decken

  • keine weiteren Sanktionen aus dem Westen auf sich laden wegen eines postsowjetischen "Anhängsels" der Russischen Föderation

  • keine Schritte unternehmen, die Russlands Handlungsspielraum einschränken oder einen Rückzug ohne Gesichtsverlust unmöglich machen und in eine Sackgasse führen, vergleiche "stupid Shit"

  • nicht gegen Windmühlen der inneren Destabilisierung postsowjetischer Staaten ankämpfen; Toleranz für ein gewisses Grad an Instabilität in den Regionen entwickeln; von einem übermäßig aktiven Kampf gegen die Farbrevolutionen Abstand nehmen.

  • sich der eigenen Möglichkeiten und Ressourcen bewusst sein sowie ihrer Unzulänglichkeit, einen entscheidenden Effekt auf regionale Krisen auszuüben – abgesehen von Situationen, die unmittelbar die Sicherheit der Russischen Föderation bedrohen

  • anderen regionalen Playern stillschweigend "eingeschränkte Interessen" im postsowjetischen Raum zugestehen – und einen Modus vivendi mit ihnen suchen, ohne einen Fetisch aus der "russischen Dominanz" zu machen: Dominant nur dort, wo es dich ohne Dominanz teuer zu stehen kommt, und nicht einfach nur aus Prinzip

  • anerkennen, dass der Aufstieg der Russischen Föderation zu einer Großmacht in anderen Regionen der Welt (dem Nahen Osten, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum) zu einer Abhängigkeit von anderen Regionalmächten führt, die wiederum die Handlungsfreiheit im postsowjetischen Raum einschränkt; sich aller Risiken und Gefahren einer direkten militärischen Konfrontation mit "aufstrebenden Regionalmächten" bewusst sein – im Unterschied zu einer simulierten "kontrollierten Eskalation" mit den USA, der NATO oder der EU, wo ein Militäreinsatz grundsätzlich unmöglich ist

  • sich wegen all dem "keinen Kopf machen", auch wenn die internationale Presse sich mit Schlagzeilen über den schwindenden russischen Einfluss in ihrer eigenen Einflusssphäre überschlägt.


Stand: 12.11.2020
Aus dem Russischen übersetzt von Jennie Seitz

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Die Redaktion der Russland-Analysen

Fussnoten

Wladimir Frolow ist Experte für Außenpolitik in Moskau.