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dekoder: Bergkarabach

Cindy Wittke

/ 12 Minuten zu lesen

Der Status Bergkarabachs ist seit jahrzehnten umstritten. Völkerrechtlich gehört es zur Republik Aserbaidschan, die Bevölkerung ist aber mehrheitlich armenisch-stämmig. Warum schlug dieser "eingefrorene Konflikt" gerade jetzt in eine offene Konfrontation um? Und wer hat denn nun gewonnen?

Hinweisschild für die Passkontrolle an der Straße nach Stepanakert/Bergkarabach. Die Republik Arzach, wie sich Bergkarabach selbst nennt, hat in den vergangenen Jahrzehnten des eingefrorenen Statuskonflikts aktiv Staats- und Institutionenaufbau betrieben. (© picture-alliance, ZB | Jens Kalaene)

Einleitung Dekoder

Was war passiert? Schauplatz der blutigen Auseinandersetzungen war die Region Bergkarabach, ein sogenannter nicht anerkannter De-facto-Staat. Der Status dieses Gebiets – das völkerrechtlich zur Republik Aserbaidshan gehört, aber eine mehrheitlich armenisch-stämmige Bevölkerung hat – ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also seit fast 30 Jahren, politisch und rechtlich umstritten und immer wieder militärisch umkämpft. Der armenischen und aserbaidshanischen Seite zur Folge geht es bei diesem Konflikt um nicht weniger als die Existenz des jeweiligen Staates. Dennoch reiben sich viele BeobachterInnen immer noch verwundert die Augen: Warum schlug dieser "eingefrorene Konflikt" gerade jetzt in eine offene Konfrontation um? Und wer hat denn nun gewonnen?

Eingefrorener Konflikt

Seit 1923 war Bergkarabach ein Autonomes Gebiet in der Aserbaidshanischen Sowjetrepublik. Damit wurde es Teil des komplizierten ethnoföderalen Konstrukts der Sowjetunion, die eine Föderation und zugleich aber zentral gelenkt sein sollte, getreu dem Motto "Teile und herrsche". Der territoriale Status von Bergkarabach wurde von dem mehrheitlich von Armeniern bewohnten Gebiet immer wieder in Frage gestellt.

Aufkeimende Nationalbewegungen, ethnische Konflikte und sich abzeichnende Auflösungsprozesse des föderalen Systems der Sowjetunion, die seit Mitte der 1980er Jahre zu beobachten waren, zeigten hier früh ihre Wirkung. Es kam zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen. In der Folgezeit wurde Bergkarabach unter anderem ein Status-Referendum verweigert, das voraussichtlich den Anschluss des Gebiets an Armenien zur Folge gehabt hätte. Dem Grundsatz uti possidetis folgend, blieb Bergkarabach aus völkerrechtlicher Sicht Teil des Territoriums des seit 1991 unabhängigen Staats Aserbaidshan. 1992 brach zwischen Armenien und Aserbaidshan der Krieg um Bergkarabach aus, der bis 1994 andauerte. Mit dem Protokoll von Bischkek wurde am 5. Mai 1994 ein Waffenstillstand vereinbart (Externer Link: https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/Bishkek%20Protocol.pdf). Doch wie bereits angedeutet, ist ein Waffenstillstand kein Friedensabkommen. Die Grenzen beider Staaten wurden nie effektiv demarkiert. Der Konflikt wurde vielmehr "eingefroren". Bis September 2020 standen sich Armenien und Aserbaidshan an der direkten Kontaktlinie gegenüber, an Stellungen um Bergkarabach sowie angrenzende besetzte Territorien, die wiederum einen Landkorridor nach Armenien und einen Puffer um die Region bilden. Diese Gebiete machten circa 20 Prozent des Territoriums Aserbaidshans aus.

Bergkarabach und diese Gebiete galten seit 1994 als von Armenien besetzt. Doch die Armenier hatten einen Pyrrhussieg errungen: Auf beiden Seiten waren und sind die humanitären, demographischen und sozioökonomischen Kosten des Krieges der 1990er Jahre und des eingefrorenen Konfliktes immens. Mehr als 30.000 Leben hat der Konflikt bisher gefordert, hunderttausende armenische und aserbaidshanische Flüchtlinge, die direkten Beziehungen zwischen den Ländern und ihren BewohnerInnen sind dauerhaft unterbrochen, und die Grenzen Armeniens zu Aserbaidshan sowie zur Türkei waren und bleiben vollständig abgeriegelt.

Verhandlungsfrust

Seit 1994 versuchte die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter dem Vorsitz Russlands, der USA und Frankreichs den Konflikt im Rahmen eines internationalen Verhandlungsformats beizulegen (Externer Link: https://www.osce.org/mg). Nennenswerte und für beide Seiten akzeptable Entwürfe für einen dauerhaften Frieden und den finalen Status von Bergkarabach lagen jedoch nie auf dem Verhandlungstisch. So verwundert es kaum, dass sowohl die aserbaidshanische als auch die armenische Seite Verhandlungsfrust erkennen ließen. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, so etwa 2008, 2016 oder auch im Sommer des Jahres 2020, quasi ein Vorzeichen der Eskalation im Herbst 2020. Die Minsk-Gruppe erschien zwar immer wieder in offiziellen Stellungnahmen zum Krieg, insbesondere im Rahmen der ersten russischen Mediationsversuchen, doch neue Perspektiven versprach sich wohl niemand von einer Rückkehr an diesen Verhandlungstisch. Das zukünftige Schicksal der Minsk-Gruppe ist unklar. Die gemeinsame Erklärung des armenischen Premierministers, des aserbaidshanischen Präsidenten und des russischen Präsidenten vom 09. November 2020 legen die Vermutung nahe, dass die Minsk-Gruppe in die Bedeutungslosigkeit für die dauerhafte Lösung dieses Territorialkonflikts abgerutscht ist. Der De-facto-Staat Bergkarabach hatte übrigens nie einen Platz am Verhandlungstisch.

De-facto-Staat Bergkarabach

Bergkarabach mit seinen rund 150.000 EinwohnerInnen war seit 1994 mehr als der Schauplatz eines Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidshan. Wie andere sogenannte nicht-anerkannte De-facto-Staaten, die im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion entstanden sind, hat die Republik Arzach, wie sie sich selbst nennt, in den vergangenen Jahrzehnten des eingefrorenen Statuskonflikts aktiv Staats- und Institutionenaufbau betrieben. Die Republik Arzach, die selbst von Armenien bisher offiziell nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird, hat eine Verfassung, staatliche Institutionen wie ein Außenministerium und hielt regelmäßig Wahlen ab, wie die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2020.

Auf diese Aktivitäten gründete Arzach auch seinen Anspruch auf Unabhängigkeit. Natürlich lässt sich eine enge Verflechtung, wenn nicht sogar Abhängigkeit zwischen Arzach und Armenien nicht leugnen. Besonders interessant ist hier nicht nur die Frage nach der Kontrolle Armeniens über Arzach, sondern auch die Rolle des sogenannten Karabach-Clans in der Politik Armeniens. Von 1999 bis 2018 führten mit Robert Kotscharjan und Sersh Sargsjan der ehemalige Premierminister Bergkarabachs und der ehemalige Anführer der Selbstverteidigungskräfte der Karabach-Armenier als Präsidenten die Republik Armenien.

Im öffentlichen Diskurs ist der Status von Arzach und das Schicksal seiner BewohnerInnen zur Schicksalsfrage für das armenische Volk geworden. Und auch Nikol Paschinjan, der als neuer Hoffnungsträger und Premierminister aus der sogenannten samtenen Revolution von 2018 hervorgegangen war, ließ keinen Zweifel, welche Rolle Arzach für ihn spielt. Wie ein Katalysator wirkt auch die Verbindung des existenziellen Kampfs um Arzach mit dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich. Das Gebiet aufzugeben würde die Fortsetzung und Vollendung des Völkermords an den Armeniern durch Aserbaidshan und die Türkei bedeuten, so Nikol Paschinjan (Externer Link: https://www.primeminister.am/en/interviews-and-press-conferences/item/2020/10/08/Nikol-Pashinyan-interview-Tv5Monde/). Dieses Leitmotiv prägten seit September 2020 zahlreiche armenische Appelle an die internationale Öffentlichkeit.

Der Konflikt in und um Bergkarabach ist jedoch viel mehr als ein Konflikt zwischen zwei südkaukasischen Staaten. Bergkarabach ist ein Brennglas regionaler und globaler Konflikte um politische und militärische Vorherrschaft und Energieversorgung, bei dem Russland, die Türkei und viele andere Staaten direkt oder indirekt involviert sind.

Russland und die Türkei

Russland spielt, wie häufig in seinen Beziehungen zu ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion, eine ambivalente Rolle. Russland ist zum einen einer der Schirmherren der Minsk-Gruppe und hat damit quasi die Rolle eines Mediators zwischen den Konfliktparteien inne. Zugleich unterhält es militärische Stützpunkte in Armenien, dessen Sicherheit es außerdem garantieren soll unter dem Dach der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Sollte die Republik Armenien angegriffen werden, könnte es also zu einem Bündnisfall kommen. Und tatsächlich bat Armenien Russland angesichts einer zunehmenden Eskalation der Kämpfe und Berichten von ersten Übergriffen auf das Territorium der Republik um Beistand. Das entbehrt nicht einer strategischen und geopolitischen Ironie, denn Russland hatte auch immer wieder Waffen nach Aserbaidshan geliefert, mit dem es aber auch um den Absatz fossiler Brennstoffe konkurriert. Im Zuge des Vier-Tage-Kriegs 2016 gelang es Russland, einen Waffenstillstand zu bewirken. Versuche seit September 2020, einen solchen zu erreichen, blieben zunächst erfolglos. Es schien gerade so, als würde Russland seine ambivalente Politik in der Region im Verlauf dieses Krieges auf die Füße fallen und als würde ihm die Kontrolle entgleiten bzw. als würde es unter vermutlich hohen Kosten aktiv auf Seiten Armeniens in einen Konflikt eingreifen müssen, ohne sichere Aussicht auf einen Gewinn.

Denn dieser erneute Krieg um Bergkarabach wird vor allem als "Stellvertreterkonflikt" zwischen Russland und der Türkei um regionale Vormacht gesehen. Das NATO-Mitglied Türkei trat mit dem Streit um Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer und mit seiner offenen Unterstützung für den Bruderstaat Aserbaidshan unter der Leitlinie "ein Volk, zwei Staaten" zunehmend konfrontativer auf. Es häuften sich nicht verifizierbare Berichte über syrische Söldner, die sich in der aserbaidshanischen Exklave Nachitschewan sammelten, um in die Kampfhandlungen in Bergkarabach einzugreifen. Immer deutlicher wurde das Gerangel zwischen der Türkei und Russland um eine neue Balance im politischen und militärischen im Südkaukasus. Ein unbekanntes Gewicht in diesem Kräftemessen war (und ist) der Iran.

Iran

In den letzten Jahrzehnten hat der Iran stets freundliche Beziehungen zum christlichen Armenien unterhalten, nicht zuletzt da beide Staaten unter wirtschaftlichen Embargos leiden. 2007 eröffnete eine Pipeline nach Armenien. Die Beziehungen zu Aserbaidshan waren komplizierter: Im Norden Irans lebt eine große aserbaidshanische Bevölkerungsgruppe. Während der Iran befürchtete, dass diese Gruppe den Anschluss an Aserbaidshan anstreben könnte, war man in Baku wiederum besorgt, dass der Iran Pläne hegen könnte, Aserbaidshan aufgrund vermeintlicher historischer Ansprüche zu annektieren. Seit 2017 besserte sich das Verhältnis zwischen beiden Staaten. Das mag auch daran liegen, dass Aserbaidshan kein Interesse an einer engeren Bindung an die USA und die Stationierung amerikanischer Truppen auf seinem Territorium im sich verschärfenden Konflikt zwischen dem Iran und den USA hatte. Iran verhielt sich weitgehend ruhig, betonte aber die Notwendigkeit von Friedensverhandlungen, aber auch, dass die territoriale Integrität Aserbaidshans gewahrt werden müsse.

Der Iran dürfte wenig Interesse an einer weiteren Konflikteskalation an seiner nördlichen Grenze und gar einer militärischen Präsenz der Türkei – oder türkischer Söldner – haben. Es ist also anzunehmen, dass man sich in Teheran mit dem von Moskau ausgehandelten Waffenstillstand und der Stationierung russischer Friedenstruppen arrangieren kann.

USA und EU

Die USA hat sich seit der Präsidentschaft von Donald Trump weitgehend als Mediator zurückgezogen und schaltete sich erst im Oktober 2020 mit einem Versuch ein, einen Waffenstillstand herbeizuführen. Weiterhin engagieren sich Frankreich und Deutschland, indem sie den Austausch mit Russland und der Türkei suchen. Wobei das aktuell gespannte Verhältnis zwischen Deutschland und Russland sowie zwischen Frankreich und der Türkei die Gespräche und Abstimmung gemeinsamer Linien mit dem Ziel der Konfliktbeilegung nicht erleichterten und zu keinem nennenswerten Ergebnis in der Konfliktbeilegung führten. Die Europäische Union sowie die Vereinten Nationen, insbesondere der Sicherheitsrat, äußerten sich vor allem mit Appellen, die Verhandlungen im Rahmen der OSZE-Minsk-Gruppe wieder aufzunehmen und den Waffenstillstand einzuhalten.

Die Situation glich einem Mikado-Spiel: Es schien unmöglich, ein Stäbchen zu bewegen, ohne zahlreiche andere auf unkalkulierbare Weise zu verschieben. Ein Zyniker hätte außerdem meinen können, dass einige Akteure gerade jetzt bewusst auf Eskalation setzen, während die Corona-Pandemie die Welt in Atem hält und die Präsidentschaftswahlen in den USA die Schlagzeilen bestimmen. Der sich abzeichnende Wahlsieg des Demokraten Joe Biden könnte wie ein Katalysator in Moskau und auch Ankara gewirkt haben, dem eskalierenden Konflikt schnell ein Ende zu bereiten und einem Arrangement der Kräfte zuzustimmen, dass den Konflikt unter neuen Vorzeichen einfriert. Joe Biden, so ist anzunehmen, wird das außenpolitische Engagement in der Region der Regierung von Präsident Obama fortsetzen; auch wenn der Südkaukasus sicher nicht sehr weit oben auf der Liste der neuen Administration stehen dürfte. Doch kann man von gewissen alten und neuen Kontinuitäten in der US-Außenpolitik ausgehen. Doch ist nun davon auszugehen, dass auch ein State Department unter Präsident Biden den neu eingefroren Konflikt zunächst nicht antasten wird.

Bei allen strategischen Erwägungen der großen internationalen Politik sollte jedoch die Frage, wie es in und um Armenien und Aserbaidshan steht, nicht übersehen werden.

Armenien

Armenien befand sich seit dem 27. September im Kriegszustand. Doch in der Wahrnehmung vieler ArmenierInnen ist die Bedrohung für das armenische Heimatland ein Dauerzustand. Das Trauma des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich ist handlungsleitend in der Innen- und Außenpolitik. Dieses Trauma hat ein großes Mobilisierungspotential über alle politischen Lager hinweg und wird im öffentlichen Diskurs unmittelbar mit dem Schicksal und Status von Arzach verbunden.

Eine besondere Rolle spielt hier die armenische Diaspora. In der Republik Armenien leben circa drei Millionen Menschen. Global gesehen leben etwa acht bis zehn Millionen ArmenierInnen außerhalb Armeniens. Die größten Diaspora-Gruppen sind in Russland, den USA, Frankreich und in der Ukraine. Durch das Erdbeben von Spitak im Jahr 1988, den Karabach-Krieg von 1992 bis 1994 und das Embargo durch Aserbaidshan und die Türkei hatte Armenien in wirtschaftlicher Hinsicht eine schlechte Startposition. So verwundert es kaum, dass heutzutage schätzungsweise 13 Prozent des armenischen Bruttoinlandsprodukts aus Rücküberweisungen von im Ausland lebenden ArmenierInnen stammen (Externer Link: https://data.worldbank.org/indicator/BX.TRF.PWKR.DT.GD.ZS?locations=AM&most_recent_year_desc=false). Insbesondere in den USA und Frankreich ist die Diaspora außerdem sehr gut organisiert und nimmt politischen Einfluss – vor allem, wenn es um die Anerkennung des Genozids geht, zum Beispiel durch den US-amerikanischen Kongress, das französische Parlament oder auch durch den Bundestag im Jahr 2016.

Vor diesem Hintergrund ist von einer großen transnationalen Geschlossenheit für eine harte Linie im Konflikt auszugehen.

Als "unsagbar schmerzhaft" bezeichnete es Nikol Paschinjan dem Waffenstillstand und den damit einhergehend Konzessionen für Armenien zuzustimmen. Als er den Abschluss des Waffenstillstandes verkündet, gestand er ein: "Dies ist kein Sieg, aber es gibt keine Niederlage, bis man sich selbst als besiegt betrachtet". Weiterhin versprach er: "Wir werden uns niemals als besiegt betrachten, und dies wird ein neuer Beginn einer Ära unserer nationalen Einheit und Wiedergeburt werden." Diese Sätze konnten die Wut zahlreicher ArmenierInnen nicht eindämmen. Es kam zu tumultartigen Zuständen in Jerewan und der Erstürmung von Regierungsgebäuden. Es mehren sich zudem Anzeichen, dass Paschinjan, der einigen politischen und militärischen Kräften nun als Verräter gilt, und seine Regierung gestürzt werden soll – wenn nötig mit Gewalt. Und während ArmenierInnen die besetzten Gebiete um Bergkarabach verlassen und zum Teil dabei Haus und Hof in Brand setzen, bevor sie es AserbaidshanerInnen überlassen, muss Paschinjan wohl um sein politisches Überleben fürchten.

Aserbaidshan

Viel hat sich in Aserbaidshan seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 und dem Karabach-Krieg 1992 bis 1994 geändert. Der rund zehn Millionen EinwohnerInnen zählende Staat, der autoritär von der Familie Alijew regiert wird, ist reich an Öl aus dem Kaspischen Meer. Das Öl, die Grenzziehung im Kaspischen Meer, der Bau von Pipelines und das enge Verhältnis zur Türkei prägen das Verhältnis des Landes zu seinen Nachbarn und strategischen Partnern. Der Konflikt um den rechtlichen und politischen Status von Bergkarabach und den besetzten Gebieten prägt ebenso Innen- und Außenpolitik des Landes und ist maßgebliche Motivation für einen stetig steigenden Rüstungsetat. Neben der offenen Unterstützung der Türkei mag der innere wirtschaftliche Druck sinkender Rohstoffpreise und der Druck durch die Öffentlichkeit nach den Vorfällen an der armenisch-aserbaidshanischen Kontaktlinie im Sommer 2020 den Ausschlag gegeben haben, dem Verhandlungsverdruss in der Minsk-Gruppe ein militärisches Ende zu setzen. Nach Jahrzehnten ergebnisloser Verhandlungen wollte das durch russische und israelische Waffenlieferungen aufgerüstete Aserbaidshan seinem Anspruch auf Gewaltausübung über sein Staatsgebiet Geltung verleihen. Es scheint ganz so, als reagierte das Regime sehr sensibel auf die Stimmung des Volkes. Es war scheinbar zum Schluss gekommen, sich angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nicht auch noch mangelnde Verhandlungsergebnisse leisten zu können und zu wollen. Aserbaidshan feierte sich am 09. November 2020 als Sieger. Ein Sieger, der gerade noch von Moskau ausgebremst wurde, bevor er vor den Toren von Stepanakert, der Haupstadt Bergkarabachs, stand. Aserbaidshan ist aber auch ein Sieger, der für lange Zeit russische Friedenstruppen im Korridor zwischen der Enklave Bergkarabach und Armenien auf seinem de jure Territorium hinnehmen muss. Daran ändert voraussichtlich auch die Entsendung einer noch unbekannten Anzahl türkischer Soldaten, die in einem gemeinsamen Zentrum den Waffenstillstand überwachen sollen, wenig.

Aufgetaut und wieder eingefroren

Für eine Weile befanden sich Armenien und Aserbaidshan im Waffenstillstands-Tango ohne realistische Aussichten auf ein effektives internationales Monitoring oder gar Friedenstruppen mit internationalem Mandat, zum Beispiel der Vereinten Nationen. Dennoch spielten die Ereignisse meist nur am Rande der Tagesmeldungen im Westen eine Rolle. Das explosive Potential des Konflikts, auch über den Südkaukasus hinaus, trat in Zeiten der Corona-Pandemie und der Präsidentschaftswahl in den USA meist in den Hintergrund. Gleichzeitig standen verschiedene Bündniskonstellationen vor der Gefahr, sich an der vermeintlichen Peripherie – quasi als Schlafwandler – in einer direkten Konfrontation wiederzufinden.

So herrscht scheinbar eine gewissen Erleichterung angesichts des Waffenstillstands und der gemeinsamen Erklärung von Präsident Alijew, Premierminister Paschinjan und Präsident Putins. Das ist verständlich, doch diese Erleichterung ist trügerisch. Ein wieder aufgeflammter Konflikt wurde unter neuen Vorzeichen und mit einem neuen regionalen Arrangement zwischen Russland und der Türkei wieder eingefroren. Dennoch steht die internationale Gemeinschaft mit diesem Krieg und seinen Folgen vor großen Herausforderungen – politisch, strategisch und nicht zuletzt humanitär. Wird dieser eingefrorene Konflikt wieder (zu lange) ignoriert, so wird eine mögliche Eskalation wie eines der vielen Erdbeben in der Region sein – man weiß nie genau, wann eines kommt und in welcher Stärke, aber man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass wieder ein starkes kommen wird – das liegt in der Natur von "eingefrorenen" Konflikten und tektonischen Verschiebungen.

Stand: 17.11.2020

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Die Redaktion der Russland-Analysen

Fussnoten

Cindy Wittke ist Leiterin der politikwissenschaftlichen Nachwuchsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa­forschung (IOS) in Regensburg. Ihre Promotion im Völkerrecht bildete die Grundlage ihres Buches Law in the Twilight – International Courts and Tribunals, the Security Council and the Internationalisation of Peace Agreements between State and Non-State Parties , das 2018 bei Cambridge University Press erschien. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buchprojekt "Test the West" – Contested Sovereignties in the post-Soviet Space und leitet seit März 2019 die vom BMBF geförderte Projektgruppe "Zwischen Konflikt und Kooperation – Politiken des Völkerrechts im postsowjetischen Raum".