In den letzten Jahren hat der Umweltaktivismus in Russland merklich Fahrt aufgenommen. Im ganzen Land mobilisieren sich RussInnen, um ihre "Hinterhöfe" zu verteidigen: Sie protestieren gegen Müllkippen und Müllverbrennungsanlagen oder schließen sich zu lokalen sozialen Bewegungen zusammen, um die industrielle Erschließung eines heiligen Naturdenkmals zu verhindern. Doch jenseits der Schlagzeilen hat der Umweltaktivismus in Russland eine lange Geschichte.
Obwohl viele RussInnen in den 1990er Jahren mit den politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen genug zu kämpfen hatten, begannen UmweltaktivistInnen damit, sich in professionellen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu organisieren. Viele dieser ersten Umwelt-NGOs wurden von Menschen gegründet, die sich aktiv an der spätsowjetischen Umweltbewegung beteiligt oder in der sowjetischen Umweltbürokratie gearbeitet hatten. Diese frühen Organisationen wurden weitgehend über Gelder von internationalen Gebern finanziert, die Russlands im Entstehen begriffene Zivilgesellschaft unterstützten, um längerfristig die Demokratisierung des Landes zu fördern.
Umweltorganisationen wurden in dieser Zeit nicht nur in Großstädten wie Moskau und St. Petersburggegründet und auch formal registriert, sondern auch in vielen Regionen Russlands. Engagierte regionale Umwelt-NGOs entstanden zu dieser Zeit in Städten wie Irkutsk, Nischnij Nowgorod, Nowosibirsk, Murmansk und Archangelsk. Diese sind in verschiedenen Bereichen tätig, die von Umweltrecht und -gerechtigkeit über Recycling und Müllsammeln bis hin zur Erhaltung der Tierwelt reichen. Einige dieser Organisationen beteiligten sich in der Vergangenheit auch direkt an Massenprotestbewegungen, wie etwa an den Protesten der Baikal-Umwelt-Welle gegen die Ostsibirien-Pazifik-Pipeline im Jahr 2006 oder der Kampagne gegen das Baikal-Zellulose-und-Papier-Kombinat im Jahr 2010.
In den letzten Jahren haben russische Umwelt-NGOs jedoch zu spüren bekommen, dass sich die Situation für die russische Zivilgesellschaft erheblich verändert hat. Das "Ausländische Agenten"-Gesetz aus dem Jahr 2012, das einheimische NGOs, die ausländische Gelder erhalten und vage definierten "politischen Aktivitäten" nachgehen, stigmatisiert und bestraft, hat den dritten Sektor in Russland bis ins Mark getroffen. Darüber hinaus sind Daten zufolge, die ich auf der Webseite des russischen Justizministeriums gesammelt habe, Umwelt-NGOs nach Menschenrechtsorganisationen die zweitwichtigste Zielgruppe des Gesetzes über "ausländische Agenten". Zwar wurden nicht alle Umwelt-NGOs als "ausländische Agenten" eingestuft, aber viele der aktivsten regionalen Umweltorganisationen Russlands bekamen das Gesetz dennoch zu spüren: Sie wurden mit Geldstrafen für Gesetzesverstöße belegt, konnten weniger internationale Finanzierung einwerben und haben nun einen deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand.
Infolge des Gesetzes über "ausländische Agenten" verzichten nun einige inländische Umwelt-NGOs vollständig auf ausländische Finanzierung und schwenken auf inländische Quellen um. Einige Umweltorganisationen – die oft als weniger "politisch" eingestuft werden – haben zunehmend Zugang zu staatlichen Zuschüssen und anderen Möglichkeiten für die Entwicklung der Zivilgesellschaft erhalten. Im Gegensatz zur Baikal-Umwelt-Welle , die als "ausländischer Agent" eingestuft wurde, hat eine andere Umwelt-NGOs in derselben Stadt, Great Baikal Trail , mehrere Male Fördergelder des Präsidenten für ihre Arbeit beim Aufbau eines Netzes von Wanderwegen rund um den Baikalsee und darüber hinaus erhalten, was den Ökotourismus fördern soll.
Dennoch haben das Gesetz über "ausländische Agenten" und die geringere Abhängigkeit von ausländischen Geldern die Anreize für Umweltorganisationen, sich als NGO zu formalisieren, erheblich verringert. Tatsächlich ließen sich viele Umweltgruppen ursprünglich beim russischen Justizministerium formal als juristische Person registrieren, um ausländische Fördermittel einwerben zu können. Da das Gesetz über "ausländische Agenten" die ausländische Finanzierung zu einer potentiellen Gefahrenquelle werden ließ, melden sich viele NGO wieder ab und führen ihre Tätigkeit informell weiter.
Andere Umweltaktivisten haben ebenso Konsequenzen gezogen und geben staatliche Regulierung wie das Gesetz über "ausländische Agenten" als Gründe an, sich nicht formell als NGO registrieren zu lassen. Die Umweltbewegungen, die wir heute in ganz Russland antreffen, verzichten in vielen Fällen bewusst auf staatliche Registrierung. So versuchen sie die institutionellen oder rechtlichen Einflussmöglichkeiten zu reduzieren, die der Staat anwenden könnte, um ihre Tätigkeit zu behindern oder gar einzustellen. Darüber hinaus haben einige dieser AktivistInnen begonnen, bei Kommunalwahlen für Oppositionsparteien wie Jabloko oder PARNAS zu kandidieren. Oft kandidieren UmweltaktivistInnen jedoch nicht, um zu gewinnen, sondern um auf ihre Sache aufmerksam zu machen und die rechtlichen Schutzmechanismen des Wahlkampfes für Kundgebungen zu nutzen. Obwohl eine Kandidatur bei Kommunalwahlen für politische Parteien und UmweltschützerInnen nützlich sein kann, lenkt sie doch von den eigentlichen Hauptzielen der Umweltkampagne ab und führt auch zu Konflikten unter den AnhängerInnen, die der Meinung sind, dass die Bewegung unpolitisch bleiben sollte.
Diese beiden Trends, also dass sich Umweltbewegungen immer häufiger informell organisieren und UmweltschützerInnen sich an Parteipolitik beteiligen, führen auch dazu, dass der Staat sich zum Handeln gezwungen sieht. Anstatt Umweltbeschwerden zu ignorieren, haben sich viele lokale oder regionale FunktionärInnen die Forderungen der AktivistInnen zu eigengemacht. Pläne, den Moskauer Müll auf eine Deponie in Schijes in der nördlichen Region Archangelsk zu verfrachten, wurden kürzlich nach anhaltendem öffentlichem Widerstand begraben. Einer der AnführerInnen der Bewegung hatte sogar für das Amt des Regionalgouverneurs kandidiert. Erst letzten Monat gelang es AktivistInnen in Baschkortostan, ein Bergbauprojekt am heiligen Berg Kuschtau zu stoppen und seinen Status als besonders geschütztes Naturgebiet zu sichern. Auch dort sind lokale UmweltaktivistInnen bei Kommunalwahlen als KandidatInnen angetreten.
Natürlich könnten die Behörden ihr Versprechen brechen. Ähnliches war 2010 im Fall der Autobahn durch den Chimki-Wald zu beobachten gewesen. Dennoch machen UmweltschützerInnen zum ersten Mal die Erfahrung, dass ihre Anstrengungen etwas bewirken können, was wiederum neue AktivistInnen ermutigt. Einige UmweltaktivistInnen, die sich bisher nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft engagiert hatten, sind durch diese Erfahrung zu Vollblut-AktivistInnen geworden. Auch wenn die VerteidigerInnen des Chimki-Waldes letztlich das Nachsehen hatten, engagieren sich viele aus dem harten Kern weiterhin in der lokalen Politik und "coachen" Graswurzel-Umweltbewegungen in ganz Moskau.
Das Potential, Wandel herbeizuführen, über das UmweltaktivistInnen verfügen, ist dem Staat nicht entgangen. Das Gesetz über "ausländische Agenten", mit dem gegen "lästige" Umwelt-NGOs vorgegangen wird, ist nur ein Beispiel. Im Jahr 2019 werden im Bericht des Föderationsrates über Innenpolitik ausdrücklich "Pseudo"-Umweltgruppen als Bedrohung der nationalen Sicherheit bezeichnet. Vielleicht haben die Behörden tatsächlich Grund zur Sorge, wenn man nur daran denkt, wie die spätsowjetische Anti-Atomkraft-Bewegung die Massen mobilisieren konnte.
Wo es Umweltprobleme in Russland gibt, ist oft auch nicht lange nach Korruption zu suchen. Allzu oft kommt es vor, dass russische UmweltaktivistInnen Korruption auf lokaler, regionaler oder sogar nationaler Ebene bei umweltschädlichen Projekten oder illegalen Bauvorhaben aufdecken, gegen die sie protestieren. In den späten 1980er Jahren führte die Umweltbewegung, die im Zuge von Tschernobyl entstand, zu einer nationalen Massenbewegung, die den sowjetischen Zusammenbruch beförderte. Es ist daher durchaus nicht auszuschließen, dass einige Graswurzel-Umweltorganisationen Proteste gegen Korruption oder gar den russischen Staat selbst befeuern könnten.
Bibliografie
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