Die Umwelt hat in der russischen Politik oft eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Seit ein paar Jahren ändert sich das. So hatten etwa im Frühjahr 2019 die namhaftesten russischen Klimatologen in einer Petition an die Akademie der Wissenschaften öffentlichkeitswirksam gefordert, doch endlich in Fragen der Klimapolitik mit einbezogen zu werden. Kurz darauf, im September 2019, ist Russland dem Pariser Abkommen beigetreten, das sich zum Ziel gesetzt hat, die globale Erwärmung bis 2100 auf zwei Grad Celsius gegenüber dem Durchschnittswert der Vorindustrialisierung zu beschränken. Parallel zu dem Beitritt fingen auch die staatsnahen Medien in Russland an, den Klimawandel als Bedrohung zu kommunizieren. Daneben konnte man 2019 in russischen Städten zahlreiche Umwelt- und Klimaproteste beobachten. Ganz neu und überraschend sind diese Entwicklungen keinesfalls. Denn in Russland gibt es eine lange Tradition der Umwelt- und Klimaforschung und eine etwas kürzer zurückreichende Geschichte der Umweltbewegungen.
Im größten Land der Welt waren Wetter und Klima seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wichtige Forschungsbereiche. Um das wachsende Imperium zu regieren, es mit der nötigen Infrastruktur auszubauen und um dort Landwirtschaft zu betreiben, galt Wissen über das Klima für die Politik als unverzichtbar. Die klimatische Vielfalt der gigantischen Landmassen, die sich über zehn Klimazonen erstrecken, bot den Wissenschaftlern zudem die Möglichkeit, Hintergründe für klimatische Veränderungen zu erforschen. Vor allem ging es aber darum, das für die Landwirtschaft ungünstige Klima zu verstehen und dagegen vorzugehen.
So entwickelte der Bodenkundler Wassili Dokutschajew nach einer der schwersten Dürren Russlands in den Jahren 1891 bis 1892 den ersten Plan zur Umformung des Klimas in der Steppe. Teile davon wurden 1948 im Großen Stalinschen Plan zur Umgestaltung der Natur verarbeitet: Dieser sah vor, Waldschutzstreifen anzulegen um damit die trockenen Winde aufzuhalten, die man als Grund für die schwere Dürre von 1946 betrachtete.
Bis zur endgültigen Entdeckung des menschengemachten Klimawandels in den 1960er Jahren bestand eine der Hauptaufgaben sowjetischer Klimatologen und Meteorologen insgesamt jedoch darin, Methoden und Technologien zu entwickeln, das Wetter künstlich zu verändern.
Durch das seit Jahrzehnten angereicherte Wissen galten russische Klimatologen in der Mitte der 1970er Jahre als weltweit führend: Sie verfassten damals etwa die Hälfte aller wissenschaftlichen Publikationen in den Klimawissenschaften. Insbesondere der Geophysiker Michail Budyko und sein Team trugen zum näheren Verständnis des Klimawandels bei. Von 1972 bis 1994, also noch über den Zusammenbruch der Sowjetunion hinaus, haben sie in enger Kooperation mit US-amerikanischen Wissenschaftlern die Hintergründe des Klimawandels erforscht und 1990, noch vor dem Weltklimarat (IPCC), den ersten systematischen Sachstandsbericht zum Klimawandel veröffentlicht.
Im Gegensatz zum Gros ihrer westlichen Kollegen, hatten sowjetische Forscher den globalen Temperaturanstieg durch CO2 jedoch vorwiegend als positiv interpretiert: Erhöhte Temperaturen, so die These, brächten mehr Feuchtigkeit und somit höhere Ernteerträge sowie noch mehr Anbauflächen. Die negativen Begleiterscheinungen, so dachten Klimatologen damals, würden damit kompensiert.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwanden die russischen Klimatologen sehr schnell von der internationalen Klimaforschungs-Szene. An den IPCC-Berichten haben sie zwar mitgearbeitet, jedoch in viel geringerem Umfang als ihre westlichen Kollegen. Außerdem übten die russischen Wissenschaftler auch keine führenden Rollen in den Arbeitsgruppen des Weltklimarats aus. Auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992, wo die Klimarahmenkonventionen beschlossen wurden, war Russland nur durch zwei Wissenschaftler und zehn Delegierte vertreten – zum Vergleich: Das wesentlich kleinere Indonesien etwa schickte 60 Teilnehmer. Ein Teil des Problems war das fehlende Geld, auch die schwerwiegenden Umstrukturierungen innerhalb des Wissenschaftsapparats spielten eine Rolle sowie auch der Brain Drain.
Schwerer wog jedoch das Problem, dass russische Forscher zunächst nicht über die nötigen Großrechner verfügten, um globale Klimamodelle zu berechnen und um somit einen Beitrag zur internationalen Klimaforschung zu leisten. Erst Anfang der 2000er Jahre hatte sich die russische Klimaforschung wieder erholt und konnte mit der Errechnung von Zukunftsszenarien zur internationalen Forschung beitragen.
Mit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 begann der Klimawandel auch in der russischen Politik eine wichtigere Rolle zu spielen. Für diese Wende waren allerdings nicht die Klimawissenschaftler und ihre neuen Großrechner verantwortlich. Vielmehr stand die Wende im Zusammenhang mit der russischen Außenpolitik. So hat Russland 2004 das Kyoto-Protokoll vor allem deshalb ratifiziert, weil es so seine Rolle in der Weltpolitik ausbauen konnte: Der Vertrag konnte nur in Kraft treten, wenn die Emissionen aller Unterzeichnerstaaten 55 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes ausmachen. Da die USA aus dem Abkommen ausgetreten waren, hing der Erfolg nun allein von Russland ab. Außerdem konnte der Kreml einen finanziellen Gewinn durch den Emissionshandel erzielen: Da Russland 2004 rund 40 Prozent weniger Treibhausgase emittiert hat als 1990, in Verhandlungen allerdings einen Zielwert auf dem Emissionsniveau von 1990 durchsetzte, gehört es nun zu den großen Profiteuren im Handel mit CO2-Emissionszertifikaten. Die russische Industrie war 1990 noch mehr oder weniger voll im Gange, und so heißt das im Umkehrschluss, dass Russland heute immer noch kaum Anreize hat, seine Emissionen zu reduzieren.
Dabei steht Russland heute vor einem Problem: Die Durchschnittstemperatur im Land steigt rund zweieinhalb Mal schneller als im globalen Durchschnitt. Russland liegt zu rund 50 Prozent innerhalb der Permafrost-Zone. Das Auftauen der Permafrostböden ist auch deshalb eine gravierende Belastung für die Umwelt, weil es die Erderwärmung durch die Freisetzung von Kohlendioxid und Methan zusätzlich vorantreibt. Obwohl Russland mit dem Auftauen der Permafrostböden tatsächlich günstiger neue Rohstoffvorkommen erschließen könnte, zeichnet sich im Kreml seit 2019 insgesamt ein spürbarer politischer Kurswechsel ab: Der Klimawandel gilt seitdem offiziell als Bedrohung.
Mit dieser Wende versucht der Kreml einen bislang kaum vorhanden Klima- und Umweltdiskurs zu füllen. Kaum vorhanden war er bislang vor allem deshalb, weil der Kreml sich seit dem Machtantritt Putins nur unter den geopolitischen Vorzeichen als Gesprächsteilnehmer zeigte und vieles daran setzte, den vorhanden Diskurs zu ersticken. So wurden Umweltaktivisten und -bewegungen zunehmend zu Feinden des wirtschaftlichen Fortschritts Russlands erklärt, was ihren weitgehenden Niedergang einleitete. Nach der Verabschiedung des Gesetzes gegen sogenannte ausländische Agenten im Jahr 2012 wurden zunehmend auch immer mehr russische Umweltschutzorganisationen mit diesem Stigma belegt: 2016 waren es 25 Umwelt-NGOs – rund ein Fünftel aller sogenannter ausländischen Agenten. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte der Fall der NGO Sakhalin Environment Watch , die 2015 von der Leonardo DiCaprio Stiftung 159.000 US-Dollar zum Schutz des Küstenreservats Wostotschny auf Sachalin erhielt. Obwohl die NGO das Geld fast nicht angerührt hatte und den Rest innerhalb weniger Wochen zurücküberwies, dauerte es nahezu zwei Jahre, bis sie wieder aus dem Register für ausländische Agenten entfernt wurde.
Dabei haben schon während der Perestroika zehntausende Menschen in fast allen Sowjetrepubliken gegen die Kontaminierung der Gewässer, Luft und Böden protestiert. Biologen, Chemiker und Physiker erforschten die schwerwiegenden, mitunter fatalen Folgen der Umweltverschmutzung im Land. Glasnost brachte diese Erkenntnisse an die Öffentlichkeit, Perestroika ermöglichte den Menschen, auf die Straße zu gehen, um ihrem Unmut über die Umweltsünden Luft zu machen. Die Umweltbewegungen galten als die effektivsten sozialen Protestbewegungen der ausgehenden Sowjetunion. Schließlich zwangen sie die Regierung unter anderem auch dazu, dass einige Fabriken geschlossen und der Bau einiger Atomkraftwerke noch gestoppt wurde.
Als die eigentliche Blütezeit der Umweltbewegung gelten für einige Beobachter allerdings die 1990er Jahre: Dank finanzieller Unterstützung von ausländischen Organisationen gab es damals einen regen institutionellen Austausch, der auch eine Vielzahl von gemeinsamen Projekten ermöglichte. Trotz der massiven Wirtschaftskrise haben die Behörden der Umwelt damals durchaus Aufmerksamkeit geschenkt, auch Massenmedien haben häufig über Umweltprobleme berichtet.
Auch vor dem Hintergrund der systematischen Einschränkung der Arbeit von Umweltschutzorganisationen seit den früher 2000er Jahren sind große Klimaproteste in Russland heute jedoch kaum vorstellbar, die Umweltbewegung ist eher marginal. Wohl aber gibt es seit 2019 zusehends mehr Umweltproteste auf lokaler Ebene: Etwa im Kusnezker Becken gegen Luftverschmutzung oder die Demonstrationen gegen Moskauer Mülldeponien wie in der Nähe von Archangelsk. Vermutlich von den weltweit zunehmenden Klimastreiks inspiriert, finden seit Herbst 2019 vermehrt kleinere Protestaktionen in verschiedenen russischen Städten statt, um auf die gravierenden Folgen des Klimawandels auch für Russland aufmerksam zu machen. Es wäre zwar voreilig, über eine Wiedergeburt der Umweltbewegung zu sprechen, insgesamt lassen die zunehmenden Proteste aber auf ein wachsendes ökologisches Bewusstsein in der Gesellschaft schließen.
Stand: 31.08.2020
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Die Redaktion der Russland-Analysen
dekoder: Umweltpolitik in Russland - Vergangenheit und Gegenwart
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Die Umwelt nimmt in den letzten Jahren in der russischen Öffentlichkeit und Politik einen größeren Stellenwert ein. 2019 trat das Land dem Pariser Abkommen bei. Im gleichen Jahr begannen in zahlreichen Städten Klimaproteste. Umweltproteste sind in der ehemaligen Sowjetunion nichts Neues. Auch schon während der Perestroika demonstrierten Zehntausende.
Katja Doose ist promovierte Historikerin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, wo sie die Geschichte der sowjetischen und russischen Klimawandel-Forschung untersucht. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Mensch-Umweltbeziehungen, Wissenschaft und Technik sowie die Geschichte des Kaukasus.
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